INHALT
So viele Arten, aber nur ein Name?
Die Familie der Aizoaceae aus der Ordnung der Nelkenartigen ist sehr artenreich und ihr Verbreitungsgebiet konzentriert sich auf den Süden Afrikas. Aizoaceae? Besser bekannt sind sie bei uns als Mittagsblumen, da sich bei vielen Arten die Blüten erst um die Mittagszeit voll entfalten. Aber alle Angehörigen einer Pflanzenfamilie, die aus zirka 150 Gattungen und nahezu 1800 Spezies besteht (Mittelwert aus 10 sehr unterschiedlichen Angaben), deswegen als Mittagsblumen zu bezeichnen, ist schon sehr verallgemeinernd. Doch auch im englischen Sprachraum wird es nicht präziser – hier werden die Aizoaceae durch die Bank einfach Ice Plant genannt. Eispflanzen deswegen, weil es einige Arten gibt, die auf ihrer Blattoberfläche wassergefüllte Blasenzellen besitzen, die in der Sonne wie Eiskristalle funkeln. Der Vogel der unpassenden Verallgemeinerung jedoch wird auf Afrikaans abgeschossen. Vygie, kleine Feige, nennt man da die Aizoaceae liebevoll, und das nur, weil es einige wenige Spezies gibt, die feigenähnliche Früchte tragen (z.B. Carpobrotus), aus denen sich, zugegebenermaßen, hervorragende Marmeladen und Chutneys herstellen lassen. Ach ja, Aizoaceae, die wie kleine Klopse im Boden sitzen und nur schwerlich auf den ersten Blick als Pflanze durchgehen, billigt man dann doch eine namentliche Differenzierung zu – Lebende Steine, Pebble Plants oder Beeskloutjie werden sie genannt, aber auch das ist eine sehr generös generalisierte Bezeichnung.
Nähere Identifizierung – ein hoffnungsloses Unterfangen?
Diese Pauschalisierung entspringt sicherlich einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der Vielfalt der Pflanzenfamilie, deren einzelne Angehörige nicht mal für den Experten, erst recht nicht aber für den Laien, immer mit nur einem Fingerschnippen genau zuzuordnen sind. Und so hat sich der Volksmund eben die Merkmale herausgegriffen, die am offensichtlichsten sind – die Blütenöffnung zur Mittagszeit, das Glitzern und Funkeln der Blasenzellen, die Ähnlichkeit mit Steinen und die wohlschmeckenden Früchte. Moment! Die allerwenigsten Aizoaceae bilden essbare Früchte aus. Kennzeichnend für diese Pflanzenfamilie ist vielmehr eine holzige, harte Kapsel, die, je nach Alter und Verwitterungszustand, mehr oder weniger attraktiv daherkommt. Und diese Kapseln sind weit entfernt von jeglicher Essbarkeit, beinhalten aber den Schlüssel zur genauen Unterscheidung der einzelnen Spezies und – darauf möchte ich in diesem Kapitel hinaus -, präsentieren ein äußerst faszinierendes Innenleben. Ein Innenleben, dessen ausgeklügelte Mechanik höchst präzise auf die Habitat-Bedingungen der jeweiligen Art abgestimmt ist.
Ein weites Feld – wo fange ich an?
Da steh ich nun, ich armer Tor, und weiß nicht, wo ich beginnen soll, um diese komplexe Thematik möglichst verständlich zu erklären. Mhm, am besten wohl mit dem Grundbauplan und einigen Grundbegriffen – wir sind ja schon geübt im Generalisieren. Also, es gibt fleischige, essbare Früchte (z.B. Carpobrotus). Die interessieren uns an dieser Stelle nicht. Dann sind da Früchte, die sich verhalten, wie man es von reifen Samenkapseln erwartet: Sie öffnen sich, wenn es ordentlich warm und trocken ist, geben Samen frei, zerfallen und sind Geschichte. Man nennt diesen Kapseltyp xerochastisch (z.B. Conicosia), aber auch den lassen wir jetzt außen vor. Und es gibt Kapseln, die man als hygrochastisch bezeichnet, und sie sind es, über die wir nun Näheres wissen wollen. Hygrochastisch heißt, sie öffnen sich, wenn es feucht genug ist und schließen sich (in der Regel) wieder, wenn es trocken ist. Wenn man es ganz genau nimmt, dann handelt es sich hierbei um Ombrohydrochorie: die Kapsel öffnet sich bei Feuchtigkeit und die Samen werden durch auftreffende Regentropfen herausgeschwemmt, ein Punkt, der später noch thematisiert werden wird.
Ombrohydrochorie bei Aizoaceae – will man da wirklich weiterlesen?
Bitte, ja, ich verspreche, es lohnt sich! Also, dieser nahezu unaussprechliche Vorgang wird durch den speziellen Aufbau der Aizoaceen-Kapseln ermöglicht. Sie bestehen aus einer flachen Schale, die durch Trennwände, flankiert von schwammartigen, länglichen Gebilden (Quellleisten), in mehrere Kammern (Kapselfächer) unterteilt wird, in denen die Samen lagern. Die einzelnen Kammern (es können nur drei, aber auch mehr als zwanzig sein) werden von einer Schutzmembran, der Fächerdecke geschützt, manchmal gibt es zusätzliche Kügelchen, die Verschlusskörper, die helfen, die Kammern weiter abzudichten und das Ganze wird, in trockenem Zustand, von den Klappen nebst Flügeln verschlossen, die wie Stückchen einer Torte den äußeren Deckel der Kapsel bilden und deren Anzahl denen der Kapselfächer entspricht. Doch es gibt verschiedene Kapseltypen, die diese Bauteile in sehr spezialisierter Art und Weise unterschiedlich dosiert einsetzen.
Sechs Grundbaupläne – sechs Funktionsweisen?
Grundsätzliche Funktionsweise
Vor uns sehen wir eine holzige Kapsel, die ordentlich und dicht von mehreren Klappen verschlossen wird. Es regnet, weiches Gewebe am Rande der Klappen nimmt Wasser auf schwillt leicht an und macht die Kapsel dadurch undicht. Es regnet weiter, Wasser dringt ins Innere der Kapsel und befeuchtet die Quelleisten, die aus schwammartigen Gewebe bestehen. Sie dehnen sich in Längsrichtung aus und drücken von unten gegen die Klappen, die sich, von der Mitte aus mithilfe der Klappenflügel, zunächst nach oben heben, dann über den Kapselrand im rechten Winkel nach außen biegen. Der „Stern” ist geöffnet.
Es regnet weiter. Die Fächerdecke, eine ebenfalls in Tortenstückchen unterteilte Schutzmembran, deren spitze Enden mit dem Zentrum der Kapsel fest verbunden sind, schützt die Samen vor allzu freigiebiger Verteilung durch auftreffende Regentropfen, lässt jedoch zwischen den Tortenstücken schmale Spalte frei, durch die durchaus Samen entweichen können. Manche Aizoaceae besitzen zur zusätzlichen Samensicherung sogar noch runde, kugelartige Verschlusskörper, die die Fächerdeckenstücke zum Kapselrand hin absichern.
Es regnet ergiebiger, heftiger, der Boden der Kapsel füllt sich mit Wasser, Regentropfen treffen mit großer Wucht vereinzelt auf die Fächerdecke und Samen werden durch den Aufprall, der einen Überdruck im Kapselfächer verursacht, zwischen den Membranschlitzen herauskatapultiert – manchmal mehr als einen Meter weit.
Wichtig ist: Es muss genug regnen, um das Kapselfach mit Wasser zu füllen, damit dieser Mechanismus funktioniert. Das hat zwei Gründe: Ausreichender Regen bedeutet ausreichend Bodenfeuchtigkeit, genug, um den Samen Zeit zum Keimen zu geben. Und die Samen entfernen sich weit genug von der Mutterpflanze, um dieser später, als heranwachsende Pflanzen, keine Konkurrenz zu machen, nicht aber so weit, als dass sie auf ungeeigneten Boden fielen, zum Beispiel den außerhalb einer Quarzfläche, wo höhere Pflanzen jedes Emporkommen eines Keimlings verhindern würden.
Stellt sich der Regen als kurzzeitiges Intermezzo heraus, stoppt der Öffnungsvorgang, die Quellleisten ziehen sich zusammen, Klappen und Klappenflügel neigen sich wieder zur Kapselmitte und verschließen diese erneut wind-, wasser- und sonnendicht, sobald das Gewebe der Kapsel wieder trocken ist. Als wäre nie etwas gewesen. Dieser Vorgang ist übrigens kein einmaliger, sondern kann sich fast beliebig oft wiederholen. Bis die Kapsel endgültig geleert oder zu verwittert ist.
Typ Mesembryanthemum
Wenn man in diesem Zusammenhang von einfach sprechen darf, so haben wie hier einen der einfacheren Kapseltypen vor uns. Er besteht aus eher korkigem als holzigen Material, besitzt keine schützenden Fächerdecken, dafür aber sind die Samen an der Zentralachse befestigt. Sie sind relativ groß, so groß, dass sie teilweise von den breiten Flügeln bedeckt werden, die mit den Klappen verbunden sind und auf diese Weise wenigstens ein bisschen Schutz erhalten. Dieser Kapseltyp ist bei krautigen Aizoaceae zu finden (z.B. Aptenia, Brownanthus, Mesembryanthemum, Prenia), die relativ groß und hoch wachsen, die ziemlich robust und anspruchslos sind und deshalb gerne auch mal sogenannte Ruderalstellen besiedeln. Ruderalstellen sind Stellen mit Böden, die massiven Störungen ausgesetzt waren oder sind (z.B. Wegränder, Abraumhalden, nach Geröllstürzen etc.).
Typ Drosanthemum
Merkmale sind breite Klappenflügel, das Fehlen von Verschlusskörpern, aber durchsichtige, formbeständige Fächerdecken – also schon eine Sicherheitsstufe höher als beim Mesembryanthemum-Typ. Wen wundert’s, dass auch diese Kapseln von eher größerwachsenden Aizoaceae (z.B. Drosanthemum, Mestoklema) gebildet werden, die aber nicht ganz so kompromisslos bezüglich der Ansprüche an ihr Habitat sind.
Typ Delosperma
Kapseln dieses Typs besitzen keine Verschlusskörper, recht breite Klappenflügel und keine oder eine verkümmerte Fächerdecke. Sobald die Kapsel, die auch zur primitiveren Fraktion gehört, offen ist, werden deshalb die Samen einfach so vom Regen herausgeschwemmt. Klingt nicht gerade tricky, ist aber an die Ansprüche der dazugehörigen Pflanzen (z.B. Delosperma, Trichodiama) perfekt angepasst. Sie haben ein sehr großes Verbreitungsgebiet, sind eher niedrig bis maximal mittelgroß, haben eine kriechende oder polsterformende Wuchsform und keine allzu hohen Ansprüche an ihr Habitat. Also besteht auch keine Notwendigkeit der dosierten, gezielten Samenabgabe – man keimt eben da, wo es einen hinschwemmt.
Typ Lampranthus
Bei diesem Kapseltyp finden wir ziemlich steife, konvex gewölbte Fächerdecken (mindern den Druck eines aufprallenden Regentropfens) vor, die auch bei Durchfeuchtung ihre Form behalten. Sie besitzen einen prägnanten, nach hinten gebogenen distalen Abschluss und eine Verschlusskante am äußeren Rand, der die Abdichtung der Schlitze zwischen den Fächerdecken noch verbessert. Klappenflügel können, müssen aber nicht vorhanden sein, die Quellleisten verlaufen nicht komplett parallel, sondern driften an den äußeren Enden auseinander, was ihren Druck auf die Klappen feiner dosiert an die Regenmenge anpasst. Auch hier gibt es keine Verschlusskörper, dafür aber etwas anderes, sehr charakteristisches, was eine ähnliche Funktion bekleidet: dichte Büschel von Funikularhaaren, unfruchtbarer Nabelschnüre, die den Schlitzen der Fächerdecke am äußeren Kapselrand vorgelagert sind und die Samen am unkontrollierten Entweichen hindern. Aizoaceae wie Amphibolia, Braunsia, Hartmanthus, Lampranthus und Namaquanthus besitzen solche Kapseln – Spezies unterschiedlichster Wuchsformen, aber mit jeweils beschränktem, eher regenarmem Verbreitungsgebiet. Hier müssen die Pflanzen also schon wesentlich gewissenhafter mit der Abgabe ihrer Samen umgehen.
Typ Ruschia
Kennzeichnend sind steife, konvexe Fächerdecken mit hochstehenden Verschlusskanten und kleinen, stäbchenförmigen Verschlusskörpern am äußeren Rand, auseinanderlaufende Quellleisten sowie das Fehlen von Klappenflügeln. Träger dieses Kapseltyps sind Aizoaceae wie Arenifera, Astridia, Ruschia und Stoeberia, die allesamt mit erschwerten Habitat-Bedingungen zu kämpfen haben, wobei Trockenheit am hervorstechendsten ist. Und natürlich sind alles Bauteile der Kapsel und ihr Zusammenspiel darauf ausgerichtet.
Typ Leipoldtia
Hier finden wir folgende Charakteristika: auseinanderlaufende Quellleisten, zurückgebogene Klappenränder, unsichtbare Klappenflügel und prominente Verschlusskörper am äußeren Rand der Fächerdecke. Zu sehen sind derartige Kapseln bei Aizoaceae wie Hallianthus, Octopoma und Vanzijlia, die allesamt in sehr trockenen Gebieten der Winterregen-Zone vorkommen.
Zusammenfassung
Die hier aufgeführten Kapseltypen sind diejenigen, nach denen die Wissenschaft zur Zeit in erster Instanz klassifiziert. Dabei wurden jeweils nur prägnante Hauptmerkmale berücksichtigt; wenn man wollte und es der Sache dienlich wäre, könnten natürlich sehr viel mehr Zwischentypen benannt werden, worauf ich an dieser Stelle aber verständlicherweise verzichtet habe, denn es ginge wirklich zu sehr ins Detail. Mir war einfach nur wichtig, die Komplexität des Wirkmechanismus der Kapseln der Aizoacea aufzuzeigen und auch, wie sehr er auf das jeweilige Verbreitungsgebiet und dessen spezielle Umweltbedingungen abgestimmt ist. Diese Pflanzen nutzen jeden auch noch so kleinen (physikalischen) Schachzug, um die Verbreitung ihrer eigenen Gene bestmöglich zu gewährleisten – und lassen uns daran teilhaben, indem sie uns ihr Innenleben durch simples Anfeuchten einfach so offenlegen. Ich finde, das sollte jeder einmal gesehen haben, auch wenn er eigentlich nicht so besonders an Pflanzen interessiert ist. Doch die Aizoaceae sind es wert, nicht nur als Mittagsblumen mit schönen Blüten wahrgenommen zu werden, oder?!
Immer wieder ein kleines Wunder! (Tanquana prismatica)
Verrückt nach Kapseln – eine Leidenschaft treibt Blüten…
2013 hat Heinz ein 400 Seiten starkes Mittagsblumen-Buch erworben, eines der wenigen aus der Kategorie „Pflanzen-Bibel”, das mich zunächst sehr begeisterte. Im Zuge meiner darauf folgenden Bestimmungsarbeiten aber entdeckte ich diverse Schwächen in puncto Aufmachung und Übersichtlichkeit. Diese wollte ich ausmerzen, indem ich begleitende Tabellen vorbereitete, die Aufschluss über Verbreitungsgebiete und Kammernanzahl der Kapseln geben sollten. Ach, und Blütenfarbe und Blütezeit wären auch noch wichtig… Mhm, was will ich im Feld mit Kulturhinweisen? Je tiefer ich in das Buch einstieg, desto unpraktischer fand ich es. Das Ende vom Lied war, dass ich das gesamte Werk scannte, alle Texte nach meinem Gusto editierte, ein neues Layout strickte, so weit wie möglich eigene Bilder einband und ein Farb- und Symbol-Leitsystem integrierte, das auf den ersten Blick zeigte, wann, wo und in welchen Farben eine bestimmte Pflanze blüht und wie viele Kammern die jeweilige Samenkapsel hat. Diese wichtigen Informationen erfasste ich anschließend auch in tabellarischer Form und sortierte diese nach unterschiedlichen Kriterien: Kammernanzahl, Verbreitungsgebiet, Gruppenzugehörigkeit. Im Appendix noch ein botanisches Wörterbuch „Englisch-Deutsch“ zur Erklärung der unzähligen, recht kryptischen Fachbegriffe – und fertig war meine eigene, semi-legale, 200-seitige Aizoaceae-Bibel, die fortan meine Recherche-Arbeit ungemein erleichterte.
Zum näheren Erkunden des Kapsel-Innenlebens der Aizoaceen führe ich übrigens stets eine kleine Pipette mit mir, mit der ich vorsichtig den geflügelten Deckel beträufle. Ganz am Anfang hatte ich’s natürlich mit Spucke probiert – die hat man immer dabei, sie nimmt keinen Platz weg und nass ist sie auch – gab das aber bald auf, denn die Spuckebläschen machten sich gar nicht gut auf Fotos … Der nächste Versuch erfolgte mit einem Pump-Zerstäuber, doch auch der erwies sich als Fehlgriff. Der Sprühstrahl nämlich lässt sich nur recht unpräzise lenken und nässt letztendlich die ganze Pflanze, wenn es eine kleine ist, mit ein. Das sieht zwar hübsch aus, die Wassertröpfchen aber wirken wie ein Brennglas auf der empfindlichen Epidermis der Blätter und können diese nachhaltig schädigen. Deshalb also die Pipette.
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