Gyrinidae – kleine Derwische mit Turbo

Die erste Begegnung mit Gyrinidae (Taumelkäfern)

Wir waren im Namib Naukluft Nationalpark unterwegs, wanderten gemächlich den Waterkloof Trail entlang und machten irgendwann an einem besonders schönen Fleckchen Halt. Leise gluckerte das Wasser über moosbewachsene Steine und das Bächlein zog eine große Schleife, in der sich das glasklare Wasser in einem sanften Wirbel fing und aufgrund der gegenläufigen Strömung fast stillstand. Und da sah ich sie zum ersten Mal: eine Gruppe kleiner, metallisch schimmernder Käfer, die wie längliche Quecksilber-Tropfen quasi auf dem Wasser schwebten und sich auch wie Quecksilber-Tropfen verhielten. Sie flitzten in einem irren Tempo über die Wasseroberfläche, kreuz und quer, schienen völlig planlos und doch zielgerichtet – und, obwohl sie in Haaresbreite aneinander vorbei rasten, stießen sie nie zusammen. Mein Interesse war erwacht und die Ergebnisse meiner Nachforschungen über die kleinen Derwische erstaunten mich mit jeder neuen Information noch mehr. So ein kleiner Körper, so viele phantastische Besonderheiten!

Coleoptera mit Vollaustattung

Man kann sie getrost als Spitzenmodell der Evolution bezeichnen, das weltweit mit etwa 800 Arten vertreten ist, und doch sind sie den meisten Menschen unbekannt. Erstaunlicherweise, denn die Taumelkäfer, auch Dreh- oder Kreiselkäfer (engl. Whirligig Beetles) genannt, sind die einzigen Angehörigen ihrer Ordnung, die die Wasseroberfläche besiedeln und so gut an diesen Lebensraum angepasst sind, dass sie der modernen Industrie in allen Belangen als Vorbild dienen könnten. Und sie sind Tausendsassas der Elemente: nicht nur, dass sie mit unglaublicher Leichtigkeit und einem enormen Tempo über die Wasseroberfläche gleiten, nein, sie sind auch herausragende Taucher, gewandte Flieger und können sich sogar, wenn es denn sein muss, auch an Land bewegen. Das alles ist möglich, weil ihr Körper wie dafür gemacht ist. Die geschlossene, elliptische Form mit versenktem Kopf – leicht gewölbt auf der Oberseite, flach auf der unteren -, erlaubt ihnen, die Oberflächenspannung des Wassers voll auszunutzen, die nötige Verdrängung hingegen auf ein Minimum zu reduzieren.

Stromlinienförmige Geschosse

Doch mit dieser Form allein ist es nicht getan; sie würde auch schwerlich ausreichen, den agilen Käfern zu solcher Mühelosigkeit im Wechsel zwischen den Elementen zu verhelfen. Nein, da spielen auch noch andere “Baumerkmale” eine Rolle. So unterscheidet sich ihr Flugapparat nicht groß von dem anderer flugfähiger Coleoptera, die Beschaffenheit der Körperteile und ihre Gesamtkonstruktion aber sehr wohl. Die Elytren (Deckflügel) bestehen aus besonders hartem Chitin; bei vielen Arten glänzen sie metallisch, weil sie extrem glatt sind, bei anderen wiederum sind sie mit feinsten Härchen bedeckt. Beide Varianten wirken stark wasserabweisend. Um die Oberflächenspannung des Wassers möglichst wenig zu stören, bildet ihr Körper zudem eine kompakte Masse, die sich durch das Fehlen hervorspringender Teile auszeichnet. Caput, Thorax und Abdomen sind eng verwachsen und ergeben eine nahezu geschlossene Form, die Vorderbeine, die beim Schwimmen und Tauchen nicht benutzt werden, können, gefaltet und fest angezogen, in einer Rinne an der Brustplatte verstaut werden, die Mittel- und Hinterbeine sind über ein extrem flaches Gelenk mit der Hüfte verbunden, und selbst die Augen stehen nicht hervor, sodass selbst an dieser Stelle kaum Widerstand erzeugt wird.

Mit einem kleinen Dreh geht es unter Wasser

Borsten in Schindelform säumen den Rand des Pronotums und dichten die Naht zwischen Kopf und Vorderbrust wie auch zwischen den Flügeln ab, die seitlichen Kanten letzterer sind zudem von flacher und verbreiterter Form, was die Auflagefläche auf dem Wasser vergrößert. All diese Merkmale machen die Taumelkäfer zu mühelosen Schwimmern, zu schwerelosen Gleitern auf der Wasseroberfläche und lassen den Körperbau von Wasserläufern, die mit dicht behaarten, langen Beinen die Tragfähigkeit der Oberflächenspannung nutzen, schon fast primitiv wirken. Und im Gegensatz zu den Wasserläufern sind die Gyrinidae eben auch in der Lage, ohne große Anstrengung abzutauchen. Dazu müssen sie nur die Achse ändern, auf welcher Mittel- und Hinterbeine ihre Ruderschläge absolvieren – und schon sind sie in den Tiefen eines Gewässers verschwunden.

Genialer Ruderapparat mit Rekordqualitäten

Gleich vorweg gesagt: die Antriebs-Effizienz des gyrinid’schen Ruderapparats, die bei beachtlichen 84 Prozent liegt, ist wahrscheinlich die höchste im gesamten Tierreich, da kommt nichts anderes mit – kein Fisch, keine Robbe, kein Pinguin. Und auch die Geschwindigkeit, die damit erreicht wird, ist unübertroffen: in Relation zur Körperlänge sind Taumelkäfer die schnellsten aller Wasserinsekten. Und diese Superlative werden mit einem perfekt konstruierten, auf die Gegebenheiten abgestimmten Ruderapparat erreicht, der aus Mittel- und Hinterbeinen besteht, die an Tibia (9) und Tarsus (10) mit beweglichen Ruderplättchen ausgestattet sind.

Diese Schlagfläche dreht sich beim Ruderschlag in einen rechten Winkel zur Anströmrichtung, die Plättchen fächern sich durch den Wasserdruck auf, ein enormer Schub wird erzeugt, dann drehen sich die stark verkürzten Ruderbeine um 90 Grad – parallel zur Strömungsrichtung – die Plättchen legen sich wieder an und die Beine gehen zurück in Ausgangsstellung, um von dort zu einem neuen Ruderschlag anzusetzen. Bei jedem Ruderschlag wird ein Winkel von beinahe 120 Grad beschrieben – und das innerhalb von 6-7 Millisekunden. Das führt zu einer beachtlichen Schlagfrequenz der Mittelbeine von 25 bis 30 Schlägen pro Sekunde, die hinteren schaffen gar das doppelte. Dieser simple und doch so ausgeklügelt Rudervorgang kann den Taumelkäfer auf eine Geschwindigkeit bringen, die beim 44,5-fachen seiner eigenen Körperlänge liegt. Pro Sekunde, wohlgemerkt!

Präzises Steuerungssystem vonnöten

Klar, dass bei derartigen Geschwindigkeiten ein zuverlässiges Steuerungssystem unerlässlich ist, zumal die Gyrinidae ja immer in größeren Gruppen zugange sind. Unvorstellbar, wie viele Massenkarambolagen es gäbe, hätten die Taumelkäfer nicht auch hier die perfekte Lösung quasi ab Werk eingebaut: ihre neungliedrigen Antennen mit einer Art integriertem Radarsystem. Im zweiten Glied ihrer Fühler, die ja, der Stromlinienförmigkeit zuliebe, recht kurz gehalten sind, befindet sich das Johnston’sche Organ. Es ist mit haarähnlichen Sensillen ausgekleidet und reagiert auf geringste Bewegungen der Wasseroberfläche, was folgendermaßen funktioniert: das erste Fühlerglied, der Scapus (5), ist mit einem Gelenk mit dem Pedicellus (3) verbunden, in dem das Johnston’sche Organ sitzt. Der Pedicellus liegt mit seiner Unterseite flach auf dem Wasser auf und ist mit einem weiteren Gelenk mit dem frei in der Luft stehenden, siebengliedrigen Flagellum (1) verbunden. Beide Gelenke sind so konstruiert, dass sich Körper, Scapus, Pedicellus und Flagellum unabhängig voneinander bewegen können. Dabei folgt der Pedicellus der Bewegung der Wasseroberfläche, registriert geringste Amplitudenänderungen der umgebenden Wasserwellen als Relativbewegungen zwischen ihm selbst und dem Flagellum, rechnet die Eigenbewegung des Käferkörpers mit ein – und schon reagiert das Johnston’sche Organ auf diese Vibrationen.

Treffen also durch Eigenbewegung erzeugte Wellen auf Hindernisse, werden diese als Schwingungsänderungen (Dopplereffekt) wahrgenommen und der Käfer kann ausweichen. Das funktioniert so gut, dass Gyrinidae im Versuch durch ein feines Gitternetz manövrierten, dessen Maschengröße gerade mal ihrer Körperbreite entsprach, ohne auch nur einmal anzustoßen! Und natürlich eignet sich dieses Steuerungssystem auch ganz hervorragend zum Aufspüren von Beute …

Vier Augen sehen besser als zwei

Gyrinidae leben, wie wir nun gelernt haben, hauptsächlich an der Wasseroberfläche. Das bedeutet, dass sie eine Nische zwischen zwei Lebensräumen besetzen, die unterschiedliche Anforderungen an ihre Augen stellt. Ach, ich hatte noch nicht erwähnt, dass Taumelkäfer auch Augen besitzen? Doch, haben sie, und zwar gleich vier! Nämlich ein Paar für das Sehen über Wasser und eines für den Unterwasser-Blick. Aber Luft hat doch einen ganz anderen Brechungsindex als Wasser, wie also funktioniert das? Ganz einfach: die Augen sind hinsichtlich ihrer Hornhaut unterschiedlich aufgebaut und so bestens an das jeweilige Medium angepasst. Zudem sind sie komplett voneinander getrennt und werden, wie jüngste Studien ergeben haben, auch im visuellen Zentrum des Gehirns gesondert behandelt, sodass ihre Sehkraft und die damit verbundenen Wahrnehmungen optimal genutzt werden können.

(Fast) zu guter Letzt: Hochtechnologie bei den Gyrinidae

Erstaunt es noch irgendjemanden – nach allem, was wir bisher gehört haben – dass die Taumelkäfer auch in Sachen Hochtechnologie noch etwas in petto haben? Nein, nicht wirklich, und ich sage nur Nanobeschichtung! So hat ein Forscherteam vor einigen Jahren herausgefunden, dass die Augen nicht nur Unterschiede in der Dicke ihrer Hornhaut aufweisen, sondern auch mit Nanopartikeln verschiedener Strukturen überzogen sind. Während die Unterwasser-Augen unter dem Rastersondenmikroskop fast völlig glatt erscheinen, weisen die Überwasser-Augen einen labyrinthischen Nanoüberzug auf. Zunächst wurde vermutet, diese Nanocoatings würden lediglich die wasserabweisenden Eigenschaften der Facetten-Augen beeinflussen, doch da hatte die Natur nichts zu verbessern. Beide Augenpaare besitzen dank der Struktur des Linsenmaterials eine sehr ähnliche Oberfläche und lassen Wasser perfekt abperlen. Wofür also dann ist diese Beschichtung gut? Die Lösung liegt so nahe: die unterschiedlichen Brechungsindizes von Luft und Wasser wirken sich auch auf das Lichtspektrum aus, mit dem die Augen über und unter Wasser konfrontiert werden. Und um das zu kompensieren, sind die Ommatidien mit Nanopartikeln überzogen, die mit ihren unterschiedlichen antireflektiven Eigenschaften diesem Umstand Rechnung tragen. Eine natürliche, vollentspiegelte Sonnenbrille für über und unter Wasser sozusagen!

Nun wirklich zu guter Letzt: die Pygidialdrüsen

Viele Insekten besitzen sogenannte Pygidialdrüsen. Das sind paarig am Hinterleib angeordnete Drüsen, mit denen das Insekt Sekrete absondern kann, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Mit speziellen Duftstoffen werden Partner angelockt, mit giftigen oder übelriechenden Substanzen Fressfeinde abgewehrt oder die Tiere reiben sich selbst damit ein, um einem Mikrobenbefall an schwer zugänglichen Körperstellen zu verhindern. Von den Gyrinidae ist bekannt, dass auch sie Pygidialdrüsen besitzen und zu all den oben genannten Zwecken einsetzen. Ach ja, ein wassertrübender Stoff ist bei den Taumelkäfern auch noch mit an Bord, um Verfolgern die Sicht zu nehmen und einer, der die Gleitfähigkeit der Käferkörper im Wasser verbessert. Doch damit nicht genug: Eine ganz aktuelle Studie will herausgefunden haben, dass die gyrinid’schen Pygidialdrüsen zudem noch eine Substanz absondern, die Nanopartikel enthält, die den Tausendsassa-Insekten das Eintauchen ins Wasser erleichtert, ohne die hydrophoben Eigenschaften der Körperoberfläche negativ zu beeinflussen. Wundern würde mich das nicht – und ich bin schon gespannt, was noch alles zutage gefördert wird über diese wirklich erstaunlichen Käfertiere …

Quellen:
1) Omer-Cooper; Notes on Gyrinidae (1934); Otbitka z Achiwum, Hydrobiologji i Rybactwa 8: 1-8.
2) Xu, Lenaghan, Reese, Mia, Zhang; Experimental Studies and Dynamics Modeling Analysis of the Swimming and Diving of Whirligig Beetles (2012); Department of Mechanical, Aerospace and Biomedical Engineering, University of Tennessee, Knoxville, Tennessee, USA.
3) Blagodatski, Sergeev, Kryuchkov, Klimov, Enin, Katanaev, Shcherbakov; Under- and over-water halves of Gyrinidae beetle eyes harbour different corneal nanocoatings providing adaption to the water and air environments (2014); Article in Scientific Reports.
4) Wichard, Arens, Eisenbeis; Atlas zur Biologie der Wasserinsekten (1999); Springer Spektrum.
5) Vulinec; Swimming in Whirligig Beetles (Coleoptera: Gyrinidae): A Possible Role of the Pygidial Gland Secretion (1987); Article in the Coleopterists Bulletin

RSS RSS Blogabo

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

    Ich habe die Datenschutzerklärung zur Kenntnis genommen. Ich stimme zu, dass meine Angaben und Daten zur Beantwortung meiner Anfrage elektronisch erhoben und gespeichert werden. Hinweis: Sie können Ihre Einwilligung jederzeit für die Zukunft per E-Mail an (datenschutz@bariez.com)widerrufen.