Morgens gegen halb sieben Uhr schälen wir uns schweren Herzens aus unseren kuscheligen Schlafsäcken, klirrende Morgenkälte schlägt uns entgegen. Unser Finanzprofi scheint das vorausgesehen zu haben, denn alsbald stehen Plastikschüsseln mit warmem Wasser vor unseren Zelten bereit. Wir machen Katzenwäsche, schütten uns einen heißen Tee in den Rachen und fahren die staubige Strecke nach Chikuni. Dort werden wir schon vom Chief erwartet, allein unser geplanter Begleiter ist noch nicht reisefertig. Geduldig warten wir in der aufgehenden Morgensonne bei geschlossenen Fenstern, denn es weht schon wieder oder nach wie vor ein heftiger Wind. Ein paar Jungs stehen in zerschlissenen Klamotten im Windschatten einer Lehm-Ziegelhütte und knabbern ihr Frühstückchen in Form einer rohen Cassava-Knolle. Einer der drei ist auf einem Auge blind. Sie beachten uns nur kurz, denn auf dem kleinen Flugfeld hinter dem Dorf steigen gerade zwei Männer in gepflegter Safarikluft in ein kleines Propellerflugzeug, das alsbald zwieback-sägend abhebt. Wie wir später erfahren: das waren Amerikaner, die mehrere Abschüsse kapitaler Lechwe-Böcke und Büffel gebucht hatten und auf dem Weg zum „Jagen“ waren.
In der Zwischenzeit stürmt dann doch ein junger schwarzer Herr aus einem naheliegenden Lehm-Wellblechkonglomerate; aufgebläht vom Wind sind seine dunkelgrauen Bügelfaltenhosen und das hellblaue Hemd. An den Füßen trägt er gepflegte rehbraune Lederschuhe. Er sieht fast aus wie ein Bahnschaffner, outet sich aber als unser Guide. Wir nehmen ihn auf der Rückbank in unsere Mitte, einigermaßen irritiert von seinem Outfit, noch mehr aber von seinem Rasierwasserduft. Nicht, dass Gepflegtheit etwas Verwerfliches wäre, aber hier, an diesem windverblasenen, entlegenen Ort verwirrt das alles ein bisschen. Rasch lotst er uns aus Chikuni hinaus Richtung Osten, am Rande der Sümpfe entlang.
Zahlreiche Vögel tummeln sich an der Uferzone – Möwen, Reiher, Gänse, Enten, Krähen. Unser Begleiter dirigiert uns kundig an der Wasserkante entlang, scheint aber eine Krähe nicht vom Storch unterscheiden zu können. Jürg drückt ihm hilfsbereit sein Luxus-Fernglas in die Hand und unser Bahnschaffner ist restlos begeistert. Endlich sähe er richtig was und auch noch scharf, sagt er und will das Binocular gar nicht mehr aus der Hand geben. Ein leises Fünkchen der Begehrlichkeit glimmt in seinen Augen, als er sich nach dem Preis für ein derartiges Wunderrohr erkundigt. Jürg hat das Fernglas von seinem Schwager geliehen bekommen, der wiederum beruflich mit Seefahrt zu tun hat. Das Fernglas ist ein richtiges Profiding und Jürg achtelt den wahren Preis, der damit immer noch hoch genug ist. Aber unserem Begleiter zu sagen, dass er gerade mehrere dutzend Lebensgehälter in der Hand hält, bringt er nicht übers Herz. Zudem relativiert er die immer noch stolze Summe mit der Leihgeschichte. Unser Guide ist sehr beeindruckt und späht umso öfter durch das Glas.
Gleich geht es auch leichter mit der Unterscheidung der anwesenden Vögel, aber diverse Herons und Egrets kann er trotzdem nicht auseinander halten bzw. beim korrekten Namen nennen. Immer wieder blättert er interessiert in unserem Vogelbuch und schnalzt hin und wieder erkenntnisreich mit der Zunge. Das ist eine Situation, ein Sachverhalt, der mir auf meinen Reisen schon oft begegnet ist und mir blutet fast das Herz. Da ist ein Mensch, ein Einheimischer, der der Natur verbunden, an ihr sehr interessiert ist, der sich aus dem Effeff auskennt, der sein Wissen gerne an Touristen weitergeben möchte. Das Problem ist, dass er einfach unzureichend ausgerüstet ist, nicht die nötige Ausbildung erhalten hat und somit bei den meisten einen relativ unkundigen Eindruck hinterläßt.
Wenn er mal nicht durchs Fernglas kuckt, sehe ich, wie er seine Augen leicht zusammenkneift. Er scheint also auch noch kurzsichtig zu sein, hat aber keine Brille auf. Wie aber soll so er seinen Job als Guide machen? Er kann sich keine Brille leisten, er hat kein Fernglas, um das wenigstens einigermaßen zu kompensieren, es steht keine Literatur zur Verfügung, aus der er sich die englischen Namen all der Tiere, die er sicher genau kennt, aneignen könnte. Mit all diesen Handicaps behaftet, muss er nun „seine“ Touristen abchecken: wie wissend oder unwissend sind die, was kann ich denen erzählen, was wollen die sehen. Und das alles noch in einem Umfeld, das im herkömmlichen Safari-Sinn relativ wenig Spektakuläres zu bieten hat.
Wir alle spüren, was da abgeht und fragen deshalb viele Dinge, von denen wir ausgehen, dass er sie wissen muss und auch erklären kann. Langsam entspannt sich unser Guide. Wir erfahren, dass in der Bangweulu-Ebene ca. 200.000 Lechwes unterwegs sind (von denen wir gefühlterweise 199.997 gesehen haben), dass zur Regenzeit das Wasser in der Flat um die 50 cm tief steht, dass die ärmlich anmutenden Saison-Fischer eigentlich ziemlich wohlhabend und in ihren Dörfern hoch angesehene Männer sind, dass der stramme Wind nur im Juli und August weht, sich dann aber völlig legt. Plötzlich zeichnet sich am Horizont eine Herde ab, die aufgrund ihrer Massigkeit ausnahmsweise mal keine Lechwes sein können. Unser Guide kann uns Büffel präsentieren! Vorsichtig lotst er uns in Richtung der Rinder; zu nahe dürften wir nicht kommen, denn die Viecher seien extrem schreckhaft. Klar, auf der weiten Ebene, so ohne jegliche Deckung. Bei dem minimalen Touristenaufkommen sind die Tiere natürlich auch nicht sehr an Fahrzeuge gewöhnt.
Wir nähern uns wie geheißen und beobachten aus geraumer Entfernung eine Weile die Büffel, die trotzdem sichtlich nervös werden. Unser Guide ist ganz glücklich, dass er uns diesen Anblick noch bieten konnte. In dieser Saison seien wir die ersten, die Büffel sehen, versucht er das Erlebnis einzigartig, jungfräulich zu machen. Wir gehen gerne darauf ein, obwohl wir von Peter wissen, dass es nicht so ist. Doch wie dem auch sei, wir verbringen einen interessanten, vergnüglichen, informativen Vormittag inmitten unzähliger Tiere, genießen die Stunden, dennoch steht unser Entschluß fest: wir werden keine zweite Nacht hier verbringen.
Nach dem Büffel-Erlebnis wird es Zeit, wieder zurück zu kehren. Wir passieren, durchqueren riesige Lechwe-Herden, liefern unseren Guide in Chikuni ab, verabschieden uns herzlich, durchqueren weitere Lechwe-Herden, sehen noch einige Zebras und Klunkerkraniche, bevor wir am mittleren Vormittag erneut in Nsobe einlaufen. Der Finanzprofi Dyson ist halb enttäuscht, halb erleichtert, als wir ihm unser Abreisevorhaben mitteilen, und er versucht nicht, uns zum Bleiben zu überreden. Vielmehr verschwindet er hinter der Schilfumfriedung des Camps und läßt sich erst bei unserer Abreise winkend aus der Ferne wieder blicken.
Es geht den ganzen Weg zurück. In Muwele ist schon wieder Sportfest, abermals schreien die Kinder nach Sweets, alle Radfahrer, auch die ganz schwer beladenen, flüchten sich wieder und wieder ohne Rücksicht auf Leib und Fracht in den Straßengraben. Unvorstellbar in Deutschland: ein Radfahrer weicht freundlich winkend einem Autofahrer, stürzt, holterdipolter, fast kopfüber in einen Graben. Und das erste, was der Autofahrer nach dem Sturz von ihm wieder sieht, ist eine winkende Hand und ein strahlendes Lächeln, das aus der Versenkung auftaucht. Jegliche Besorgnis unsererseits wird mit einer „Alles-OK-Freu-mich-dich-zu-sehen“-Geste abgetan. Kurz vor dem Gate der Chikuni GMA hält uns ein Radfahrer mit Panne hilfesuchend auf. Sein Radl steht in Reparaturposition kopfüber am Straßenrand, er dreht ratlos an den Pedalen. Wir halten an und er fragt nach Öl. Rostig hängt die Kette schlaff in den Kränzen und es sieht nicht so aus, als würde Öl alleine helfen. Doch Joachim kramt hilfsbereit sein Kriechöl raus, sprüht hier und da und schon ist das Rad wieder flott.
Wir wären nicht in Afrika, wäre nicht spätestens zum Zeitpunkt erfolgreicher Instandsetzung neues Publikum auf der Bühne erschienen. So auch diesmal: wie aus dem Nichts ist ein älterer Herr aufgetaucht, der eine dicke Aktenmappe im Arm hält. Höflich stellt er sich namentlich vor: Banda Nebat heiße er und sammle für ein Schulprojekt. Menschen wie wir, die so einfach halten würden für ein kaputtes Fahrrad, die könnten ja vielleicht auch ein Einsehen für sein Anliegen haben, meint er. In aller Breite klärt er uns über den Schulenmangel dieser schwach strukturierten Gegend auf. Der sambische Staat sähe sich nicht in der Lage, hier zu helfen, wohl aber hätte man ihm, Banda Nebat, alle erforderlichen Papiere zur Spendenerlangung und Schulgründung unterschrieben. Wir dürfen seinen dicken Ordner Blatt für Blatt durchsehen; jedes einzelne Blatt strotzt vor offiziellen Stempeln und am Schluss folgt eine akribisch geführte Spendenliste mit Namen, Adressen und gespendeter Summe. Wir können sehen, dass viele Einheimische etwas gegeben haben, mal hier 100 Kwacha, mal dort 10.000 Kwacha. Das ganze sieht ehrlich und Vertrauen erweckend aus, aber leider ist unsere Kwacha-Barschaft ziemlich erschöpft. Doch Herr Nebat nimmt auch gerne Dollar und wir spenden die unermessliche Summe von 20 US. Ein vergleichbarer Betrag stand noch nie in der Liste. Gerne hätten wir für diesen Zweck mehr gegeben, aber so ganz sicher sind wir uns nicht, ob das alles wirklich seine Richtigkeit hat, trotz aller Stempel.
Herr Nebat jedenfalls strahlt übers ganze Gesicht, der Radfahrer auch und wir bewegen uns weiter Richtung Gate. Dort ist der selbe Officer wie gestern zur Stelle und freut sich, uns wieder zu sehen, gerade so, als wären wir alte Freunde. Nach ein wenig Geplauder, wie es denn in den Sümpfen so war, fragen wir ihn nach Herrn Nebat. Da verdreht er die Augen und seufzt. Wir befürchten schon, einen Betrüger bespendet zu haben, aber der Officer klärt uns auf. Herr Nebat betreibe das wirklich ehrlich und ernsthaft, er hätte sich anfangs direkt am Gate postiert. Nun sei das aber für die ankommenden Touristen sehr befremdlich: ein offizielles Gate wird passiert, gleichzeitig wird man um Spenden angegangen in einer Angelegenheit, die mit Game Management nichts zu tun habe. Darum hätte man Herrn Nebat des Gates verwiesen, ihm aber freies Zugangsrecht zur GMA gewährt. Dort patroulliere er nun Tag für Tag auf und ab und sammle Spenden. Was habt ihr ihm denn gegeben, fragt der Officer neugierig. Wir antworten wahrheitsgemäß und er pfeift ungläubig durch die Zähne. Der Größe seiner staunenden Kulleraugen nach zu schließen, glaubt er wohl, Banda Nebat könne allein mit unserer Spende eine ganze Schule bauen und einrichten. Aber er freut sich aufrichtig für den emsigen Spendensammler.
Herzlich verabschieden wir uns von ihm und finden diesmal auf Anhieb den verschlungenen Weg durch Chiundaponde. Während wir durch die uns nun schon bekannte Landschaft fahren, sprechen wir über ein Thema, das uns in den vergangenen Tagen sporadisch immer wieder beschäftigt hat: unsere weitere Route. Eigentlich hatten wir geplant, in den äußersten Nordwesten Sambias zu fahren, hoch nach Ndole Bay via Mweru Mantipa NP und Nsumbu NP. Doch die Erfahrung der vergangenen Wochen hat uns gezeigt, dass, wenngleich die Strecken kilometermäßig nicht brachial sind, sie dennoch sehr viel Zeit kosten. Die Route rauf zum Nsumbu NP ist, laut Karte, eine „Sonstige Straße“, die Gegend sehr entlegen, so dass wahrscheinlich wenig Wert auf Instandhaltung der Straße gelegt wurde. Zudem müßten wir vom Nsumbu NP nach Mbala ein riesiges Eck „Sonstiger Straße“ ausfahren, weil durch den Nationalpark keine Querverbindung existiert. Das würde uns Tage voller Fahrerei bescheren und wir hätten kaum noch Gelegenheit, unsere geplanten Ziele zu erforschen geschweige denn sie zu genießen. So fällt heute die Entscheidung: Wir lassen den Nsumbu NP im wahrsten Sinne des Wortes links liegen und fahren, nach Besuch der Lumangwe und Kabweluma Falls gleich über Mbala nach Isanga Bay. Ein wenig tut es uns schon leid, aber alles in allem erleichtert uns der einstimmige Beschluß, weil wir nun wissen, oder sage ich besser denken, wir haben für alles ein bisschen mehr Zeit.
Und die brauchen wir einfach, denn es gibt nahezu überall interessante Dinge zu sehen. Auch jetzt, auf unserem Weg zurück zum Lake Waka Waka. Mehrmals kreuzen wir Autobahnen emsiger Matabele-Ameisen, bestaunen die Nester parasitierender Baumameisen, bewundern das glasklare Wasser in den Tümpelchen, die die Straße säumen. Und wann immer wir zum Fotografieren aussteigen, haben wir ganz schnell Zuschauer, die natürlich auch abgelichtet werden wollen. Wie soll man da vorwärts kommen?! Doch trotz aller retardierender Stopps erreichen wir gegen Spätnachmittag Lake Waka Waka. Diesmal sind wir völlig allein auf der Campsite und schnappen uns den hintersten Platz, den, der den Windschutz aus Schilf um die Feuerstelle hat. Das bedeutet zwar, dass unser Platzkeeper ziemlich weit laufen muss, um uns mit Warmwasser und Feuerholz zu versorgen, aber es ist schon wieder so windig und kalt, dass wir darauf keine Rücksicht nehmen wollen. Gemütlich verschanzen wir uns hinter der Schilfwand und genießen einen ruhigen, beschaulichen Abend am knisternden Lagerfeuer.
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