Als Heinz und ich aus dem Zelt kriechen, landen unsere Füße gleich in einer Wasserpfütze, die auf unserer Zeltplane steht. Nein, die Hunde waren das nicht – heute Nacht hat es wohl doch noch geregnet. Auch jetzt, gegen sieben Uhr Morgens, zeigt sich das Wetter nicht gerade von seiner schönsten Seite. Es ist kalt, leicht windig, dichter Nebel wabert ums Camp und die Sonne ist nicht mal ansatzweise zu sehen. Mist! Enttäuscht und nicht eben gut gelaunt versammeln wir uns zum Frühstück unter dem Gazebo, rutschen fröstelnd auf den klammen Campingstühlen umher. Die Hunde tun ihr Bestes, unsere Laune zu heben, und wir honorieren ihre Bemühungen mit einem kleinen Lächeln, ordentlich Streicheleinheiten und etwas Essen, das hin und wieder aus Versehen vom Tisch „fällt“. Erst, als wir bereits am Abspülen sind und missmutig gen Himmel blicken, werden wir plötzlich leicht geblendet und verspüren auch etwas Wärme. Das wird doch nicht!? Doch! Wie von Geisterhand geschoben, verzieht sich bald der Nebel, die Sonne blitzt warm auf uns hernieder und wir sehen unseren Tag gerettet. Juhu! Nun steht einem gelungenen Besuch der Quarzfelder nichts mehr im Weg!
Erster Blick auf das Gelände
So heißt die private Farm
Einfahrt zu Herrn Wieses Anwesen
Sogleich packen wir alles Nötige zusammen, stecken etwas Proviant und genügend Wasser in unsere Rucksäcke und begeben uns hinaus auf die N1, an deren Rand, nur etwa 20 Kilometer von hier, sich die Knersvlakte erstreckt. Eine halbe Stunde später sind wir auch schon da, bei einem Haus, in dem, laut Aussage der Gärtnerin, Herr Wiese lebt. Und der soll uns nun einlassen in sein Sukkulenten-Paradies. Wir parken unser Auto im Hof der „Knersvlakte Spens“ und machen uns auf die Suche nach dem Mann. Hallo, Herr Wiese, hallo? Alles verschlossen, keiner antwortet. Aber wir hören doch Musik! Entschlossen umrunde ich das Haus, wenn auch mit leicht schlechtem Gewissen, denn hier sieht es schon sehr nach Privatgrund aus. Herr Wiese?! Nix. Die Musik dudelt, aber Herr Wiese scheint nicht da zu sein. Irgendwie komisch. Oder wir sind einfach zu penetrant. Gedanken machen wir uns trotzdem. Nicht, dass wir den guten Mann am heiligen Sonntag bei irgendwelchen unheiligen Tätigkeiten des Wohlbefindens stören… Wir hätten doch besser schon gestern anrufen sollen! Das holen wir jetzt, in der letztmöglichen Penetranzstufe, mit unwohlem Gefühl, nach. Gut, immerhin bimmelt im Haus kein Telefon! Also ist der Wächter der Knersvlakte tatsächlich nicht zuhause – Glück gehabt. Als aber nach kurzem Anläuten auch noch jemand abhebt und sich mit „Hello, Wiese!“ meldet, ist unser Glück gut aufgestellt. Richtig perfekt wird es allerdings erst, als Herr Wiese uns kundtut, er sei nur gerade in der Stadt gewesen und bereits auf dem Rückweg. „Ten minutes, and I’ll be at home!“ Das klingt doch gut!
Zu Boden, Schatz…
Ich stehe noch, aber nicht mehr lange
Crassula columnaris
Und tatsächlich: kurz darauf kurvt ein verbeulter Pick-Up von der Straße in den Hof, ein zerzauselter Mann samt struppigem Hund klettert aus dem Gefährt und begrüßt uns herzlich. Wir entschuldigen uns für die Störung, erzählen ihm, wir hätten das Radio gehört, seien ums Haus gegangen und hätten gerufen, wollten aber nicht am Sonntag… Typisch deutsch halt. Herr Wiese hingegen tut das alles als selbstverständlich ab und bittet uns erst mal rein. Er freue sich immer über Besuch, besonders aber in der Nebensaison – so wie jetzt. Und gleich entschuldigt er sich: Nebensaison, da ist nichts los, da sei er ab und zu nicht erreichbar, ach ja, und Broschüren hätte er auch keine mehr, Kaffee müsse er erst kochen – aber die kleine Sukkulenten-Gärtnerei könnten wir derweil gerne ansehen. Typisch südafrikanisch eben. Wir, die wir ja schon ausgiebig gefrühstückt haben, verzichten dankend auf Kaffee und strapazieren die Freundlichkeit Herrn Wieses lieber, indem wir uns bei den Pflanzen umsehen und uns darauf freuen, ein paar Informationen vom Experten zu erhalten. Doch weit gefehlt; er muss immer auf die Schildchen in den Pflanztöpfen sehen, bevor er das bestätigt, was wir schon lange identifiziert haben. Als ich ihn dann frage, wie das eigentlich mit den Deckelchen der Kapseln sei – hat eine zehnkammerige nun auch genau zehn oder aber elf oder gar nur neun Tortenstücke – steigt er aus und outet sich. Sein Vater sei der Experte gewesen, von ihm hätte er alles geerbt, er erhalte es bereitwillig und leidenschaftlich – aber Ahnung „von dem Zeug“ hätte er nicht wirklich. Interessant!
Dimelaena sp. (?)
Psora sp.
Caloplaca sp. (?)
Ich kapiere das alles hier ohnehin nicht so richtig; bis heute nicht. Ein Erklärungsversuch, was ich nicht so recht verstehe: Die Knersvlakte ist ein einzigartiger Biodiversitäts-Hotspot im Zentrum der Sukkulenten-Karoo. Das knapp 50.000 Hektar große Gebiet beherbergt rund 1.300 Pflanzenspezies, von denen beinahe dreihundert in dieser Vegetationszone endemisch sind, darunter um die hundertdreißig bedrohte Arten. Und darin enthalten sind auch ganze drei Gattungen, die nur hier, in der Knersvlakte, unter bestimmten Ortskonditionen vorkommen. Super-Endemiker also. Zwar wurde der Titel Naturschutzgebiet der Knersvlakte offenbar bereits zugeteilt, die Einteilung als Biosphärenreservat durch den WWF angestoßen. Trotzdem – ich will ja niemandem Unrecht tun, aber WARUM ist ein derartiges Stück Natur in Privatbesitz? Es soll ja nicht heißen, ein Privatmann könne sich nicht leidenschaftlich und hervorragend um ein so sensibles Gebiet kümmern, aber die Sache mit den finanziellen Mitteln dürfte recht eingeschränkt sein. Ich kapiere die Zusammenhänge und Modalitäten einfach nicht. Aber nächstes Jahr planen wir ja wieder einen Besuch der Knersvlakte, da muss ich Herrn Wiese unbedingt fragen und meine Ungereimtheiten ins Klärungslot bringen!
Phyllobolus sp.
Crassula muscosa
Man muss genau hinsehen!
Jetzt aber müssen wir nur eines: hier weg und rein in die Knersvlakte. Das dürfen wir sogar, ohne Eintritt zu bezahlen, denn es ist ja Nebensaison und, laut Herrn Wiese, ist da nicht viel zu sehen… Das überprüfen wir jetzt aber sofort! Wir überqueren die N7, fahren gegenüber der Spens über einen Sandweg Richtung Osten und kommen nach zwei Kilometern an ein Tor, wo wir das Auto abstellen. Sukkulente Schätzchen, wir kommen! Rasch setzen wir unsere Hüte auf, cremen uns ein und ich schnalle mir meine Knieschützer um. Die Teile, die ich mir extra angeschafft hatte, um beim Fotografieren von Kleinstsukkulenten bequem knien zu können, sorgen seit ihrem Kauf, ach was sage ich, seit ihrer Erwähnung immer wieder für Lacher. Auch jetzt grinsen meine Reisegenossen recht süffisant. Das jedoch vergeht ihnen bald und sie beneiden mich regelrecht um meine Komfortpolster. Denn die Pflanzen, die wir schon auf den ersten Metern zwischen den weißen Quarzkieseln vorfinden, sind wirklich extrem klein und man muss ganz tief runter, um sie in voller Pracht zu sehen: Heinz erspäht ein winziges Knöpfchen, kugelförmig, farblich hervorragend getarnt, mit mikroskopisch kleinen Zähnchen an den Blatträndern – das ganze Ding in etwa so groß wie ein Daumennagel. Eine Crassula, wie sie symmetrischer, perfekter, schöner, winziger nicht sein könnte. Ich bin hin und weg und falle erstmals in der Knersvlakte auf die Knie. Die anderen tun es mir gleich, doch für sie ist es um einiges schmerzhafter, zumal es nicht der letzte Kniefall bleiben wird.
Crassula columnaris
Argyroderma delaetii
Brownanthus sp.
Mensch, Mensch, Mensch, ist das ein abgefahrener Ort! Praktisch im Minutentakt entdecken wir Neues, Bizarres, Wunderschönes, Phantastisches. Da sind zum Beispiel Argyrodermas, die zu den absoluten Knersvlakte-Endemiten zählen. Der Name Argyroderma kommt aus dem Griechischen, bedeutet „silbernhäutig“, aber silbern ist hier nix. Die ersten Argyrodermas, die wir zu Gesicht bekommen, befinden sich in der Ruhephase, schließen mit dem Boden ab und sind von hellem Apricot. Mit ihrem hochsukkulenten Blätterpaar, das nur durch einen schmalen Schlitz voneinander getrennt ist, und der hautähnlichen Farbe, gleichen sie kleinen Popöchen, die ihre Backen aus den Quarzkieseln recken. Meine Assoziation; die unserer Männer hingegen weicht ein wenig davon ab, bewegt sich aber ebenfalls im körperlichen Bereich… Aber es darf jeder darin sehen, was er will, Hauptsache er genießt den Anblick der kleinen Kunstwerke so wie ich!
Oophytum nanum mit Argyrod.
Knersia diversifolia
Conophytum subfenestratum
Und ich genieße an mehreren Fronten: erstens bin ich ein sehr grafisch sehender Mensch und diese Symmetrie, diese scheinbare Simplizität des Aufbaus der Pflanzen, ihre Farbspiele, die subtilen Verläufe und winzigen Schmuck-Details entzücken mich zutiefst. Zweitens bin ich ein Ergründer, ein hobby-wissenschaftlicher Wadlbeißer, der erst Ruhe gibt, wenn er die Zusammenhänge erkennt, Überlebensstrategien begreift und die bezaubernde Optik, losgelöst von ihrer Schönheit, einer bestimmten Funktionalität zuordnen kann. Das ist bisweilen etwas anstrengend – nicht nur für meine Begleiter – aber dennoch entspannt es mich zutiefst. Als relativer Neueinsteiger in das Sukkulenten-Thema lese ich natürlich, meiner Art entsprechend, immer wieder diverse Fachartikel. Dabei bin ich, vor längerer Zeit schon, auf das Thema CAM gestoßen. Crassulacean Acid Metabolism, zu deutsch Crassulaceen-Säurestoffwechsel. Klingt vielleicht uninteressant und pupstrocken, ist es aber nicht. Es ist die faszinierende, wissenschaftliche Erklärung einer einzigartigen Überlebensstrategie von Pflanzen, die unter solch harschen Konditionen ihr Dasein erfolgreich meistern, indem sie sich genau diesen Bedingungen angepasst haben und das Beste rausholen. Und es hat nichts mit Sukkulenz zu tun, zumindest nicht ausschließlich. Natürlich betreiben viele sukkulente Pflanzen CAM, weil sie in klimatischen Regionen wachsen, in denen es sehr trocken und heiß ist. Aber Sukkulenz ist lediglich die Bevorratung eines Mangelguts, nämlich Wasser, CAM hingegen ist das temporäre Separieren der lebensnotwendigen Energieaufnahme und -verwertung, sodass jeder dieser beiden Prozesse getrennt zur jeweils geeigneten Zeit stattfindet, obwohl er bei den meisten anderen Gewächsen gleichzeitig abläuft. Jetzt wird es kryptisch, oder? Keine Angst, es ist ganz einfach! „Normale“ Pflanzen, das haben wir bereits im Biologie-Unterricht gelernt, betreiben Photosynthese. Die Sonne scheint, UV-Strahlung wird aufgefangen und zusammen mit CO2 und Wasser vom Blattgrün in Energie umgewandelt. Was aber machen, wenn die Sonnenglut der Pflanze ihre ganze gespeicherte Feuchtigkeit nimmt, während sie mit geöffneten Stomata die lebensnotwendige Photosynthese betreibt. Dann ist der ganze Aufwand vergebens. Jetzt aber kommt CAM ins Spiel – vom Grundprinzip her ein bisschen wie ein Nachtspeichergerät. Ist Energie zu einer bestimmten Tageszeit zu teuer, wird sie eben dann gespeichert, wenn sie zu einem günstigeren Tarif verfügbar ist. Für die Pflanze heißt das übersetzt: das für die Photosynthese benötigte CO2 wird einfach nachts, wenn es kühler ist, aufgenommen, in Apfelsäure umgewandelt und in den Vakuolen der Zellen gebunkert. Wenn dann die Sonne erneut vom Himmel brennt, schließen sich die Spaltöffnungen, die Apfelsäure gibt das CO2 wieder frei und die Photosynthese kann beginnen – sozusagen bei geschlossenen Jalousien. Genial, oder?!
Monilaria moniliformis
Argyroderma fissum
Drosanthemum schoenlandianum
Na ja, eigentlich ist es „nur“ Natur, die aber bringt so viele Mechanismen und Dinge hervor, über die man sich normalerweise keine Gedanken macht. Auch der Mensch ist, rein funktions- und konstruktionstechnisch gesehen, ein absolutes Wunderwerk, nur leider ist er auf einer Entwicklungsstufe stehengeblieben, die ihn im Vergleich zu allen anderen Lebewesen nicht wirklich gut dastehen lässt. Die sogenannte Intelligenz ist diesbezüglich nämlich ein wenig zu egozentrisch geraten: die humanoide Hirnkapazität, die vielgerühmte und -gelobte, hat dann doch diverse, sehr deutliche Synapsenbruchstellen, sobald es um Gemeinwohl und Selbstlosigkeit geht. Klar, auch Pflanzen und Tiere sind rücksichtslos, was ihr ureigenstes Wesen anbelangt – wie wir eben auch. Aber nur wir alleine gestehen uns zu, das auch zu erkennen und als unser Recht zu beanspruchen, was die Nummer gleich ganz anders dastehen lässt…
Geschützte Knie – Glück wie nie!
Tylecodon reticulatus
Tylecodon pearsonii
Ich nehme mich da natürlich beileibe nicht aus – bin ja auch nur ein Mennsch – doch um so mehr genieße ich diese egozonenfreien Überlebensstrategien, die sich allüberall gar trefflich beobachten lassen – besonders hier, in der wundersamen Welt der Knersvlakte. Hier ist der Lebensraum vergleichsweise riesig, die Ressourcen jedoch sind knapp und jede Pflanze muss ihre Nische erobern und effektiv nutzen. Offensichtliche Konkurrenzkämpfe, wie im wuchernden Dschungel, sind in diesen Quarzebenen völlig ausgeschlossen; die Lebensbedingungen sind viel zu harsch, um wuchern zu können. Dennoch tut jede Pflanze, was sie kann – und das ist viel! Staunend knirschen wir durch die sanfte Hügellandschaft, mal vorsichtig, auf Zehenspitzen, um nichts zu zerstören, mal weit ausschreitend, um möglichst viel zu sehen. Meist jedoch sind wir dabei ohnehin auf allen Vieren unterwegs, weil die Pflanzen in der Knersvlakte dazu tendieren, recht niedrig zu wachsen. Und wir kriegen so viele von ihnen zu Gesicht, dass wir es gar nicht fassen können. Ja, es ist Ruhezeit, kaum eine Sukkulente strotzt oder blüht, aber wir überrobben keinen einzigen Quadratmeter, auf dem wir nicht etwas Neues entdecken würden, auch wenn es sich zumeist bescheiden präsentiert.
Mesembryanthemum crystallinum
M. crystallinum – Kapseln
Sarcocornia xerophila
Einige auffällige Ausreißer aber gibt es immer, so auch hier: Da sind Argyrodermas, die tatsächlich grüne Blätter haben und fast wie eine Cheiridopsis aussehen, niedrig-krauchende Salsolas, die wir dieserorts so gar nicht erwartet hätten, Oophytums, die sich in tiefem Schlafe befinden, strotzende Sarcocornias, winzige Tylecodons, holzige Monilarias und immer wieder Crassulas, meine absoluten Lieblinge. Eigentlich. Denn mittlerweile bin ich von den anderen Sukkulenten mindestens ebenso fasziniert. Hier ist jede Pflanze so bizarr in Wuchs und Form, so eigen in ihrer Farbe, so hinreissend in ihrer Winzigkeit, so fesselnd in ihrer ureigenen Schönheit, dass ich sie alle am liebsten küssen möchte. Es ist wirklich fast unmöglich, meine Gefühle angesichts dieser kleinen Juwelen in Worte zu fassen, aber versuchen werde ich es trotzdem. Es ist eine Kombination aus Bewunderung für die Zähigkeit der Pflanzen, die eine fast mütterliche Zuneigung in mir hervorruft und das ehrfürchtige Staunen, das die Perfektion der Formen und Farben provoziert, das hat etwas beinahe Erotisches – im weitesten Sinne.
Oophytum nanum
Zygophyllum teretifolium
Conophytum minutum
In diesem Zusammenhang fällt mir eine Anekdote aus meiner frühen Berufszeit ein: ich habe Grafik-Design studiert, zuvor jedoch eine Lehre als Schriftsetzer durchlaufen, die ich sehr erfüllend fand. Besonders die Schönheit mancher Schriften hatte es mir angetan, der gelungene Schwung, die Kurven einiger Buchstaben, das gesamte Schriftbild, das bereits, ohne den textlichen Inhalt zu lesen, einen sehr aussagekräftigen Charakter präsentiert. Wer kann schon dem kleinen „e“ einer Tiepolo widerstehen, wer dem großen „Q“ einer Garamond? Ich jedenfalls nicht – Erotik der Formen in Reinkultur! Nun hatten wir damals einen Auszubildenen, dessen Begeisterung sich in Grenzen hielt, ebenso sein Lernwille und sein Engagement. Mein damaliger Chef setzte mich deshalb auf den unwilligen Lehrling an, um dem widerspenstigen Knaben typografisches Gefühl einzuhauchen. Ein schwieriges Unterfangen, das erst Erfolg zeigte, als ich den pubertierenden Jüngling auf die Erotik der Schrift hinwies. Von da an hielt er mich für völlig bekloppt, für leicht pervers – aber er hörte endlich zu und begann, ein bisschen zu begreifen und Gespür zu entwickeln. Das mit der Erotik jedoch musste er seinem Vater erzählt haben, der eines Tages besorgt bei meinem Chef anrief und sich erkundigte, ob die Ausbildung seines Sohnes nicht doch etwas aus den gewünschten Bahnen gerate. Der Vater wurde sofort beruhigt, als auch mein über jeden Zweifel erhabene Chef die von mir gewählten Worte beinahe uneingeschränkt und mit Begeisterung bestätigte. Nun ja, Erotik hätte sie in diesem Zusammenhang vielleicht nicht erwähnen müssen, aber sie hat trotzdem völlig recht, beruhigte er den Vater. Mir gegenüber sagte er nur: “Machen Sie so weiter – plastisch muss es sein, hinfassen muss er wollen!” Tja, und genau so geht es mir jetzt mit den Pflanzen. Ich will sie anfassen, weil sie mich dazu verleiten, ich will sie spüren, weil sie sich so angenehm samtig und vergleichsweise kühl anfühlen, ich will sie unentwegt betrachten, weil sie einfach wunderschön sind. Wenn das mal nicht Erotik ist!
Das Schattendach in Sicht
Argyroderma delaetii
Salsola sp.
So also robbe ich auf allen Vieren weiter über die kantigen Quarzkiesel, wohl geschützt durch meine Kniepolster. Nächstes Mal allerdings, so merke ich im Urlaubslappen meines Kleinhirns vor, brauche ich auch noch Ellbogenschützer… Heute jedoch muss es ohne diese Bequemlichkeit gehen – was es auch tut, denn die Flut der Eindrücke lenkt von allem anderen Ungemach ab. Auch die Hitze spüren wir nicht wirklich. Wir sind zwar nun schon über vier Stunden bei erbarmungslosem Sonnenschein und Temperaturen um die 35 Grad unterwegs, dennoch fühlen wir uns frisch und aufs Trefflichste unterhalten. Nur die Viskosität der Spucke leidet ein wenig unter unserer Dehydrierung – das bemerke ich schließlich recht deutlich beim Befeuchten der diversen Samenkapseln… Doch da hinten, vielleicht in einem halben Kilometer Entfernung, kann man eine Art Schattendach erkennen, und das steuere ich nun an, um dort Wasser nachzutanken und ein wenig Schatten zu finden. Langsam nämlich spüre ich die Wirkung der Sonne ordentlich auf meiner blassen, europäischen Winterhaut. Mein Gesicht brennt, wenn ich mir den Schweiß von der Stirne wische und meine Fußriste leuchten in ungesundem Rot. Eine kurze Schattenpause später aber, frisch gecremt und mit einem halben Liter Wasser intus, geht es munter weiter. Und, als ich den kleinen Rastplatz verlasse, kriege ich endlich auch meine Freunde wieder zu Gesicht. Wir hatten uns weit verstreut, jetzt aber, da wir wieder Sichtkontakt haben, verständigen wir uns auf eine allmähliche Rückkehr zum parkenden Wagen. Wird auch Zeit, denn wir sind recht weit gegangen – zwar im Zickzack, die Luftlinie ist wesentlich kürzer – aber weiter als nur ein Steinwurf war es trotzdem.
Zwei Blattformen…
…an einer Pflanze (Ruschia muelleri)
Psilocaulon dinteri
Und es gibt immer noch so viel zu sehen. Heinz und ich entdecken zum Beispiel ein strauchiges Mittagsblumengewächs, das, neben den normalen, charakteristischen Blättern auch seltsam symmetrische, rosa überhauchte Blattrosetten an den Zweigspitzen trägt. Was ist das denn? Die Blattform, die Struktur der Rosetten passt in keinster Weise zur Trägerpflanze, dennoch sind sie eindeutig vorhanden. Zur Sicherheit überzeugen wir uns nochmals, dass hier nicht zwei Pflanzen ineinander gewachsen sind. Nein, es ist ein und das selbe Gewächs, auf dem hier normale Blätter und eben diese atypischen Rosetten gedeihen. Eine weitere Rechercheaufgabe erwartet mich… Und ich finde es tatsächlich heraus, allerdings erst eine ganze Weile später, als unser Urlaub schon lange vorüber ist: es handelt sich hierbei um eine Blattwucherung, die durch Gallwespen verursacht wurde. Doch auch die mir im Internet zur Seite stehenden Experten vermuten das nur und fragen mich, ob ich eine Sektion der Rosette vorgenommen hätte. Dann erst könne man ganz sicher sein. Nachurlaublich im zuständigen Kleinhirnlappen vermerkt: Skalpell mitführen und alles aufschneiden, was befremdlich aussieht! Für die nächste Tour reduzieren sich die Wechselklamotten auf ein bedrohliches Minimum, fürchte ich. Pipettenflasche, Ellbogenschützer, Skalpell. Was kommt da noch alles an unabdingbarem Equipment dazu??? Es gibt sicherlich noch einiges, was uns Freude machen und unseren Forscherdrang erleichtern würde… Zwei Selbstschusskameras haben wir ja schon, die wir immer mitschleppen, aber da sind auch noch Nachtsichtgeräte, Infrarot-Wärmesuchgeräte, USB-Mikroskope und derlei Schnickschnack mehr, mit dem wir immer wieder liebäugeln. Irgendwann jedoch wäre dann die Kapazität unseres Urlaubsgepäcks doch erschöpft und vor lauter technischem Gerät, das permanent in Bedienung ist, käme sicher auch das reine Sehen und Genießen ins Hintertreffen. Lieber also machen wir die Augen auf und freuen uns an dem, was wir zu sehen bekommen, ohne es sofort zu sezieren, zu mikroskopieren oder anderweitig zu traktieren. Und viele Schätze am Wegesrand würden es uns zudem sicher verübeln, rückten wir ihnen mit derlei Equipment auf die Pelle.
Tarnung in Perfektion
Je nach Untergrund!
Centipede auf der Flucht
Wie zum Beispiel die kleinen Schrecken, die sich farblich perfekt an den rot-weiß-braunen Untergrund angepasst haben. Solange sie still dasitzen, sind sie praktisch unsichtbar, aber auch, nachdem sie sich durch einen beherzten Satz vor unseren Füßen zu retten versuchten, finden wir sie nur äußerst schwer wieder. Umso größer also unsere Freude, wenn wir einen der kleinen Hüpfer tatsächlich ausfindig machen und ihn von nahem betrachten können. Wunderschön sind sie und jeder sieht ein wenig anders aus: da gibt es bräunliche Exemplare mit rötlich-weißer Maserung, braungrundige mit weißem Muster, aber auch fast weiße, die aussehen, als wären sie aus semitransparentem Milchglas. Desweiteren wuseln zahlreiche Ameisen mit weiß bepelzten Hinterleibern über die Kiesel und Heinz erspäht sogar einen Skolopender mit rotem Körper und schwarzen Enden, der seine hundert Füßchen unter die Arme nimmt, um uns zu entfliehen. Mit solchen Beobachtungen versüßen wir uns den Rückweg, der doch wieder länger als geplant dauert, weil wir erneut im Zickzack über die Knersvlakte mäandern. Schließlich aber kommen auch Heinz und ich beim Wagen an, wo unsere Freunde schon auf uns warten. Mensch, sechs Stunden waren wir hier unterwegs, die Zeit allerdings verging wie im Fluge! Doch für heute reicht es – zumindest unser Sonnenkontingent ist voll ausgeschöpft, wie die genervte Haut mancher Körperstellen vermeldet. Also setzen wir uns wehmütig, aber einsichtig ins Auto und machen uns auf, zurück Richtung Camp.
Mesembryanthemum crystallinum
Malephora crocea-purpurea
Sutherlandia frutescens
Halt, stopp! Wir sind noch keine dreihundert Meter gefahren, als wir schon wieder was entdecken, was uns beim Reinkommen gar nicht aufgefallen ist: zu unserer Linken blüht üppig eine Mittagsblume, die uns förmlich anleuchtet. Es ist eine Malephora, wie wir sie schon auf dem Parkplatz vor dem Tankwa Karoo gesehen hatten; diesmal jedoch keine gelbblütige „crassa“, sondern eine orangefarbene „crocea“ und eine rötliche „crocea-purpurea“ mit violetten Blütenunterseite. Und zur Rechten lockt ein Busch mit roten Blüten in filigraner Schmetterlingsoptik – eine Sutherlandia. Uih, und da hinten funkelt ein besonders schönes Mesembryanthemum-crystallinum-Exemplar, dessen Blasenzellen wie winzige Glas-Kügelchen in der Abensonne glitzern – eingebildeter Himbeer-Waldmeister-Geschmack auf der Zunge inklusive… Heinz und ich können uns einfach nicht losreißen, ein Blick auf die Uhr und die ungeduldigen Gesichter unserer Freunde jedoch verpasst uns den nötigen Ruck. Seufzend, aber bis zu den Ohren strahlend, klettern wir ein weiteres, ein letztes Mal für heute, ins Auto und kurven zurück auf unsere Campsite. Dort werden wir schon sehnsüchtig von Hund und Katz erwartet, die sich auf einen gemütlichen Abend nebst diverser Streicheleinheiten freuen. Das bekommen sie auch, und noch mehr: natürlich fällt wieder das eine oder andere Stückchen Fleisch für sie ab und heute dürfen sie ihre Köpfe sogar auf frisch gewaschenen Menschen-Schenkeln ablegen, nachdem wir uns überwinden konnten, die assligen Duschen zu benutzen. Für diese unsere Dienstleistungen erhalten wir erneut ihre beruhigende Wachsamkeit und ihren Schutz für unsere letzte Nacht im Vanrhynsdorp Caravan Park.
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