12. April, Richtersveld Nationalpark, De Hoop > Potjiespram

Nach einer Nacht wie dieser wissen wir, wie sich ein Schnitzel fühlen
muss, bevor es in die Pfanne kommt – nämlich ziemlich paniert. Ja,
es war relativ kühl, wir mussten nicht schwitzen, doch bei jeder
versehentlichen Berührung der Zeltwand rieselte puderzuckerfeiner
Sand auf uns herab und blieb auf unserer seit Tagen ungewaschenen
Haut kleben. Irgendwann aber erreicht man einen Zustand, in dem einem
solche Kinkerlitzchen relativ egal sind. Und in diese
Bewußtseinsstufe sind wir nun definitiv eingetreten… Gut gelaunt,
eins mit uns und unserer Panierung und voller Wohlgefühl robben
Heinz und ich aus dem Zelt, hinaus in einen neuen Tag, der uns mit
ersten Sonnenstrahlen begrüßt. Ich will mir gerade meine Sandalen
anziehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme;
irgendetwas krabbelt da direkt neben meinem rechten Fuß. Meine noch
etwas schlaftrunkenen Augen fokussieren ein paar Mal, stellen
schließlich scharf und identifizieren ein urtümliches Krebstierchen
von beachtlicher Größe. Es sieht aus wie eine siebengliedrige
Assel, deren gepanzerter, ellipsenförmiger Körper sicher acht
Zentimeter in der Länge und viereinhalb in der Breite misst. Dank
seiner idealen Gewichtsverteilung pflügt das Tier auf unsichtbaren
Beinpaaren fast mühelos durch den unebenen Sand und hinterlässt
interessante Spuren – bis es mit den Fühlern an meinen Schuh
stößt. Irritiert tastet das Insekt jetzt umher, versucht
auszuweichen, zieht dann aber die sicherste Lösung vor und rollt
sich zu einer bemühten, aber leider nicht ganz perfekten Kugel
zusammen. Trotzdem entzückt, klaube ich das graubraune
Chitinbällchen auf und trage es aus der Gefahrenzone. Hach, eine
Assel am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, so oder so ähnlich sagt
ein deutsches Sprichwort. Dabei haben wir weder das eine noch das
andere, sondern nur Hunger. Und der lässt sich gar trefflich mit
einem üppigen Frühstück eliminieren, zu dem wir uns gleich alle
zusammenfinden. Heinz, Annette, Jochen und ich – und die
unvermeidlichen Frankoline. Immer noch begeistert von der riesigen
Assel, lasse ich mir Marmeladentoast und Tee schmecken – hätte ich
zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gewusst, was ich Monate später
über die vermeintliche Assel herausgefunden habe, so wäre mein
Entzücken vielleicht nicht ganz so ausgeprägt gewesen: das als
Assel getarnte Insekt nämlich war in Wirklichkeit eine flügellose
Angehörige derer Blattodeae – also eine Kakerlake – und die sind
mir ja nicht so sympathisch. Doch, wie gesagt, das sollte ich erst
Monate später erfahren und so tut die Begegnung mit dem
betrügerischen Ungeziefer meinem Appetit in diesem Moment keinen
Abbruch.
Kakerlake (Blattodea sp.)
Flüchtiger Skorpion
Leucorchestris sp.

Doch
so spannend der frühe Morgen am Ufer des Oranje auch sein mag, so
viel Zeit wie gestern lassen wir uns heute nicht nicht, denn wir
werden De Hoop verlassen und, innerhalb des Richtersveld
Nationalparks, nach Potjiespram wechseln und das heißt natürlich
packen. Oder auch Schnitzelphase Zwei, denn die Temperaturen steigen
stetig und wir fühlen uns beim Auflösen unseres Camps wie in einer
sich aufheizenden Pfanne, so heiß ist es bereits jetzt, zu früher
Stunde. Und in dieser Hitze tut jede Pause gut, selbst eine durch
einen Skorpion verursachte, der unter der Bodenplane unseres Zelts
übernachtet hat und sich, durch unser Geräume hochgeschreckt, zum
drohenden Aufrichten seines bestachelten Schwanzes genötigt sieht.
Es ist ein blass sandfarbenes Exemplar mit kräftigem Hinterteil und
relativ schlanken Scheren, also kein ganz harmloses Bürschchen.

Doch
wir müssen uns keine Sorgen machen, denn der kleine Arachnide hat
mehr Angst vor uns als wir vor ihm und sucht lieber eilig das Weite.
Als er unter einem großen Stein verschwunden ist und wir uns
versichert haben, dass er wohl so schnell nicht wieder aufzutauchen
gedenkt, räumen wir beruhigt weiter. Nach einer halben Stunde ist
alles verstaut, nur Tisch und Stühle sind noch übrig – die müssen
jetzt in den schwarzen Packsack. Aber wo ist der schon wieder
abgeblieben? Schließlich finde ich ihn, lieblos zusammengeknüllt,
hinter einem nahen Gebüsch. Verdammt, der lag, so wie er aussieht,
seit vollen zwei Tagen da – dabei hatte ich doch extra gebeten, den
Sack immer ins Auto zu räumen, denn er ist das ideale Versteck für
allerlei krabbelndes und krauchendes Getier. Und spätestens nach
unserem Mambabesuch auf Koiimasis sollten wir daraus gelernt haben…
Sollten. Seufzend und mit spitzen Fingern hebe ich das schwarze
Stoffding vom Boden auf, um es gleich darauf quiekend wieder fallen
zu lassen. Eine einfamilienhausgroße Spinne enthuscht einer der
textilen Falten und flitzt hektisch auf der Außenseite des Sacks
herum. Naja, ganz so riesig ist sie nun auch nicht, aber auf knapp
zehn Zentimeter bringt sie es schon. Irgendwie wirkt sie
gespenstisch, ja beinahe ungesund, denn ihr stattlicher Leib und auch
die kräftigen Beine sind von schmutzig-weißblonden Haaren bedeckt,
die einen extremen Kontrast zum Schwarz des Packsacks bilden. Mhmm,
das Tier sieht fast aus wie eine Dancing White Lady, aber eben nur
fast – später finde ich heraus, dass es wahrscheinlich eine nahe
Verwandte selbiger ist, eine Unterart, die nur im Richtersveld
vorkommt. Doch Lady hin oder her, begeistert bin ich von ihrer
Präsenz auf unserem Sack nur teilweise und auch Heinz betrachtet den
leichenblassen Achtbeiner, dem übrigens zwei seiner borstigen
Stelzen fehlen, mit gekräuselter Nase und deutlich zweischneidigen
Gefühlen. Zwar lassen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen, zücken
die Fotoapparate und schießen einige Bilder des fahlfarbenen Gastes,
dann aber wird es Zeit, die blonde Dame loszuwerden. Vorsichtig
bugsiere ich sie mit einem langen Stock von der textilen
Stuhlverpackung und knipse noch ein paar Abschieds-Fotos der Lady in
natürlicher Umgebung, sprich auf Sand. Dann zerre ich das
Stoffbehältnis entschlossen, mit der Öffnung nach unten, zu unseren
zusammengeklappten Stühlen – in der Hoffnung, es möge sich alles
weitere Getier, das innerhalb der letzten zwei Tage Quartier im
Packsack bezogen hat, unterwegs verflüchtigen. Zur Sicherheit aber
schütteln wir nochmal kräftig, bevor wir unsere Sitzgelegenheiten
und den Tisch in den dunklen Tiefen des Sacks versenken.
Glücklicherweise purzelt keine weitere tierische Überraschung mehr
heraus, doch Annette und Jochen schwören trotzdem hoch und heilig,
den Sack in Zukunft nicht mehr so leichtsinnig herum liegen zu
lassen: dieses Mal war es nur eine harmlose Spinne, nächstes Mal
aber könnte es eine Schlange sein, die den Wärmeeffekt des
schwarzen Gewebes nutzen wollte, wer weiß. Man muss ja nichts
provozieren…
Aspazoma amplectens
Mesembryanth. guerichinanum
Mesembryanth. guerichinanum

So,
nun ist auch das letzte Teil verstaut und wir können durchstarten.
Sportlichen Reifens passieren wir gleich darauf die mittlerweile so
vertraute Hummer-Passage, entern erneut die Sisyndite-Ebene, die in
Wahrheit übrigens Koeroegab Plains heißt, und halten uns dann
rechts, Richtung Akkedis-Pass. Bei unserer Anreise nach De Hoop sind
wir aufgrund der bereits recht fortgeschrittenen Tageszeit hier ja
relativ zügig durchgebrettert, nun aber haben wir Zeit, diesen
Streckenabschnitt genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Unterfangen,
das sich als sehr lohnend erweist. Unsere Aufmerksamkeit wird sofort
durch ein geradezu plantagenartiges Feld von
Mesembryanthemum-Pflanzen gefesselt, die, abgesehen vor ihrer
beeindruckenden Größe, auf den ersten Blick recht unspektakulär
wirken. Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppen sich die
Riesen-Aizoaceen als ausgesprochene Schönheiten: ihre Blüte ist
zwar fast abgeschlossen, dafür aber tragen sie rote, glänzende,
himbeerartige Früchte, die uns verlockend appetitlich anleuchten.
Auch die rosafarbenen, verblühenden Blüten und die bereits
gebildeten Samenkapseln sind eine wahre Augenweide, das Schönste
jedoch sind die Blätter. Sie sind von samtenem Grün, haben einen
üppig welligen Rand, der von kirschroten Blasenzell-Idioblasten
gesäumt wird. Mann, wie das klingt! Blasenzell-Idioblasten! Dieses
Wort wird weder den prallen, semitransparenten Kügelchen, noch der
malerischen Pflanze, ihren Farbkontrasten und den unterschiedlichen
Oberflächenstrukturen in onomatopoetischer Weise gerecht, aber es
ist nun mal der botanische Fachbegriff für die wasserspeichernden
Bläschen, die der Mittagsblume helfen, in derart regenarmen Gebieten
überhaupt überleben zu können.

Dyerophytum africanum
Mesembryanth. guerichinanum
Mesembryanth. guerichinanum

Vor
lauter Faszination über diese optisch so reizvollen Mesembs hätten
wir beinahe die anderen Pflanzen übersehen, die an diesem Standort
ebenfalls in voller Blüte, Hülle und auch Fülle wachsen. Wie zum
Beispiel sehr viel kleinere Mittagsblumen mit fingerartigen Blättern
und fragilen weißen Blütensternen, bei deren Anblick man sich
unwillkürlich fragt, wie solche Gebilde auch nur eine Sekunde den
hier herrschenden Temperaturen standhalten können. Diese Frage
stellt sich bei einer heckenähnlichen Reihe von robust wirkenden
Büschen eher weniger, aber auch sie erfreuen uns mit roten
lilienartigen und blauen kelchförmigen Blüten. Wir stecken mit
unseren Nasen gerade abwechselnd in Büschen und Bestimmungsbüchern,
als plötzlich ein Motoren-Geräusch in unsere Ohren dringt. Bald
darauf nähert sich tatsächlich ein Wagen, dessen vier Insassen uns
freundlich grüßen und neugierig-fragend in Richtung unseres
Blühgestrüpps blicken. Als sie nichts Spektakuläres entdecken,
halten sie kurz an und fragen nach. „Anything interesting?“ Na
klar! „A lot of beautiful plants. For example different mesembs,
Nymania, Ehretia and Dyerophytum…“, antworten wir, doch kaum
haben wir das Wort „plants“ ausgesprochen, sind die Vier auch
schon wieder deutlich abwinkend und noch deutlicher kopfschüttelnd
von dannen gebraust. Hallo, was waren das jetzt für komische Typen?
Wie kann man denn ausgerechnet in das entlegene Richtersveld fahren,
wenn man sich so gar nicht für Pflanzen interessiert, fragen wir
uns, ebenfalls kopfschüttelnd. Wenigstens am Rande sollte man doch
einen Blick darauf werfen, selbst als eingefleischter Ornithologe,
verbissener Herpetologe oder fanatischer Entomologe. Mhm, das ist ja
fast so, als würde ein Australier Ende September den weiten Weg nach
München antreten, nur um dort die baulichen Schönheiten der Stadt
zu besichtigen und dabei das Oktoberfest links liegen lassen.
Unvorstellbar! Aber gut, ist ja nicht unser Problem. Letzteres liegt
eher darin begründet, dass der Tag bekanntermaßen nur 24 Stunden
hat und es verdammt viel zu sehen gibt – das meiste aber nur,
solange es hell ist. Jetzt ist es zwar gerade mal zwölf Uhr mittags,
doch es liegt ja noch der Akkedis-Pass vor uns, dessen
sukkulentengespickter Sattel, die diversen vielversprechenden Hügel
links und rechts des Wegs hinab in die Oranje-Ebene, das flache
Schwemmfeld vor Potjiespram und natürlich das Camp selbst.
Freizeitstress pur! Und den gilt es nun schleunigst zu entzerren. So
also verabschieden wir uns von den Mesemb-Plains, fahren rasch weiter
und schrauben uns kurz darauf den, diesmal aus südwestlicher
Richtung kommend, relativ flachen Anstieg zu Akkedis-Pass nach oben.

Crassula deceptor
Tylecodon wallichii ssp. ecklonianus
Crassula brevifolia

Auf
dem höchsten Punkt angekommen – der Motor ist noch nicht
abgestellt – klettern Heinz und ich schon voller Ungeduld und
Tatendrang aus dem Auto und stürmen los. Wir hatten ja schon am Tag
unserer Anreise einige Zeit hier verbracht, aber diese Gegend ist wie
ein guter Film: man kann, ohne die geringste Langeweile zu empfinden,
seine Sinne ein weiteres Mal auf Reise schicken und immer wieder
Neues entdecken. Und das genießen wir ausgiebig: die nächsten
eineinhalb Stunden kraxeln wir in den Felsen umher, Heinz bis auf den
Gipfel des nächsten Hügels, ich weiter unten, und vergnügen uns
mit unseren Freunden Tylecodon, Cotyledon und Co. Eigentlich ist es
nicht gerade die richtige Tageszeit, um sich zwischen aufgeheizten
Steinen und bei prallem Sonnenschein sportlich zu betätigen, aber
die Gegend ist so phantastisch, dass wir diese Tatsache erfolgreich
verdrängen. Außerdem riskieren wir für unsere erneute Begegnung
mit unzähligen Sukkulenten gerne eine leichte Überhitzung. Ganz
besonders freue ich mich dabei auf das Wiedersehen mit meinen
Lieblingen, den Namaquanum-Pachypodien. 

Pachypodium namaquanum
Pachypodium namaquanum
Euphorbia decussata

Umgangssprachlich werden die
imposanten Stachelsäulen mit den kecken Blattschöpfen übrigens
Elefantenrüssel, Nordpole oder, der bekannteste Name, Halfmens
genannt. All diese Bezeichnungen liegen im Aussehen oder bestimmten
Eigenschaften der Hundsgiftgewächse begründet und hinter (fast)
jeder steckt eine interessante Geschichte. Nun ja, beim
„Elefantenrüssel“ ist es lediglich eine optische Assoziation –
mit etwas Phantasie kann man tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem haarigen, grauen Rüssel eines Dickhäuters erkennen. Der
Name „Nordpol“ hingegen bezieht sich auf einen raffinierten
Überlebensmechanismus der Pachypodien. Da im Richtersveld und im
äußersten Südwesten Namibias – und nur hier gibt es diese
Sukkulenten – selten Regen in nennenswerten Mengen fällt, fangen
die Nordpole mit ihren Blattschöpfchen Feuchtigkeit aus dem von der
Küste ins Land ziehenden Nebel, die kondensierten Wassertropfen
rinnen am Stamm herab und versorgen die Wurzeln mit
überlebenswichtigem Nass. Doch Blätter bedeuten gleichzeitig
Verdunstungsfläche, die, dem Klima entsprechend, minimal gehalten
werden muss. Dennoch muss das Blattwerk, das die Pachypodien nur
während des etwa drei Monate dauernden Winters, der Zeit mit den
meisten Regenfällen, tragen, eine ausreichende Photosynthese
gewährleisten. Auf diesem schmalen Grat der
Überlebensnotwendigkeiten haben die Sukkulenten die für sich
optimale Lösung gefunden: ihre wenigen Blätter sind gekräuselt –
möglichst viel Oberfläche bei möglichst wenig Energieaufwand, den
das Hervorbringen von Blättern ja erfordert – sie sind behaart,
was Schutz vor unnötiger Verdunstung bedeutet und sie werden exakt
nach Norden ausgerichtet, um ein Maximum an Sonnenlicht
verstoffwechseln zu können. Und genau diese Ausrichtung gen Norden
brachte den Pflanzen den Namen Nordpol ein.

Crassula grisea
Crassula grisea (Jungpflanze)
Tylecodon wallichii (Blüte)

Diese
auffällige Orientierung in nördliche Himmelsrichtung greift auch
eine Legende der Nama auf: vor langer Zeit, so besagt die
Überlieferung, wurden das Hirtenvolk von einem feindlichen Stamm
attackiert und nach einem kräftezehrenden, blutigen Krieg aus seinem
Land vertrieben. Auf der Flucht vor den übermächtigen Aggressoren
wandten sich die Verlierer nach Süden, überquerten den Oranje und
fanden sich im Richtersveld wieder. Diese bergige, schroffe,
lebensfeindliche Gegend, von der die Nama glaubten, ihre Götter
hätten sie in einem Augenblick des Zorn erschaffen, erschien ihnen
so abweisend, so fremd, so unwirtlich, dass sie sich zum Weiterziehen
entschlossen. Einige Stammesmitglieder aber wurden von unsäglicher
Trauer und Sehnsucht nach ihrer alten Heimat übermannt, blieben für
einen Moment stehen und warfen einen letzten Blick nordwärts, zurück
nach Hause. Da bekamen die Götter Mitleid mit den unglücklichen
Fliehenden und verwandelten sie in Halfmens, Pflanzen mit
menschlicher Gestalt, um ihnen für alle Ewigkeit einen Blick auf
ihre verlorene Heimat im Norden zu ermöglichen.

Euphorbia dregeana
Crassula muscosa
Codon royenii

Eine
wunderschöne, sehr anrührende Geschichte, die mir die bizarren
Pachypodien noch sympathischer macht! Aber die Pachys sind nicht die
einzigen, die es mir angetan haben, es gibt noch so viel anderes zu
sehen. Und im Gegensatz zu den Vorfahren der Nama erscheint uns das
gottverdammte Richtersveld wie ein Paradies. Gut, wir haben nicht
soeben unsere geliebte Heimat verloren, wir müssen hier auch nicht
überleben, nur schauen – aber diese karge Landschaft beherbergt
eine solch ungeahnte Vielfalt des Lebens, dass wir schön langsam
nicht mehr wissen, wo wir zuerst anfangen sollen. Während Heinz weit
über mir in den Felsen herumturnt und immer wieder Quieker des
Entzückens hören lässt, krabble ich auf allen Vieren durch die
sonnendurchglühten Gesteinsbrocken am Rande des Tals. In jeder Ritze
wächst hier etwas, in jedem Spalt gedeiht Leben, auf jedem sandigen
Absatz reckt sich ein Pflänzchen dem grellen Licht entgegen. Es ist
unbeschreiblich! Nicht nur die Tatsache, dass es so ist, dass hier
überhaupt etwas sprießt, dass die Gewächse förmlich zu platzen
scheinen in ihrer prallen Üppigkeit, nein, auch die Farben, die
Formen, die Energie, der Überlebenswille, von dem ich hier umgeben
bin, rühren etwas in mir an, ganz tief in meiner Seele. Immer wieder
muss ich Kontakt aufnehmen, vorsichtig über ein kleines, strotzendes
Blättchen streicheln, das sich, trotz der höllischen
Außentemperatur, erstaunlich kühl anfühlt, immer wieder den Atem
anhalten, wenn mich ein Gewächs aufgrund seiner einzigartigen
Schönheit und unerklärlichen Symmetrie sprachlos macht.
Vergleichbare Augenblicke hatte ich bisher nur in der
Zentralkalahari, die mich mit ihrer Weite, Leere und Stille auch oft
derart stumm und staunend dastehen ließ – doch das hier hat eine,
nochmals andere, Qualität, die Gänsehaut auf meinen Körper
zaubert.

Stehen und warten…
Brownanthus nucifer
Sarcocaulon crassicaule

Trotz
meines Gefesseltseins werfe ich dennoch zwischendrin ab und zu einen
Blick hinab ins Tal, hinunter zu unserem Landy, in dessen schmalem
Mittagsschatten sich Annette und Jochen mittlerweile niedergelassen
haben und Tee trinken. Tja, da hatte ich wohl zumindest ansatzweise
recht mit meiner Vermutung bezüglich der „Wild-Entzugserscheinungen“
der beiden. Unsere Reisefreunde sind zwar botanisch höchst
interessiert, unser ausgiebiger Erkundungsdrang in florale Nischen
scheint ihnen dann doch etwas zu ausgeprägt zu sein… Nur noch ein
bisschen, nur noch hinter den nächsten Felsen schauen, entschuldige
ich mich in Gedanken, Heinz ist ja auch noch nicht zu sehen. Nach dem
überüberübernächsten Felsen aber sehe ich sicherehitshalber mal
auf meine Armbanduhr; und – uih, wir krabbeln hier tatsächlich
schon seit eineinhalb Stunden herum! Seufzend beschließe ich,
umzukehren, um die Geduld der beiden nicht über Gebühr zu
strapazieren; die Geduld, die ja auch noch die bevorstehende
Exkursion in die weiter unten liegenden Quarzhügel möglich machen
soll. Dankenswerterweise aber sind Annette und Jochen bei meiner
Rückkehr völlig entspannt, freuen sich mit mir und Heinz, der zehn
Minuten später auf der Bildfläche auftaucht. Nein, nein, es war
nicht langweilig, nur zu heiß, meinen die beiden mit stoischer Ruhe,
mit ebensolcher Gelassenheit nehmen sie unser Ansinnen „Quarzhügel“
zur Kenntnis und lassen uns, ein paar Kilometer weiter, erneut in die
Wunderwelt des Richtersvelds entschwärmen.

Adromischus alstonii
Conophytum bilobum
Tromotriche pedunculata

Heinz
saust voraus, ich hinterher, während Annette und Jochen im Schatten
des Autos zurückbleiben. Jedoch nicht lange. Heinz hat etwas
entdeckt und winkt den beiden aufgeregt. Folgsam sprinten sie den
Hügel herauf und lassen sich den Fund erklären. Es sind kleine,
gelbe Blüten, die aus sukkulenten Kissen etwa centgroßer,
gespaltener Blätter entsprießen. „Ich wollte ja immer Lebende
Steine finden, was mir bisher leider nicht gelungen ist, aber das,
was wir hier vor uns haben, ist Conophytum bilobum aus der Familie
der Ruschioidae – also ganz nahe verwandt mit den Lithopsen. Und
wenn ich schon keine Lebenden Steine präsentieren kann, dann müssen
wir halt damit zufrieden sein.“, referiert Heinz. Interessiert
lauschen Annette und Jochen, fotografieren ein wenig, machen sich
dann aber auf den Weg zurück zum Auto. Weit jedoch kommen sie nicht,
denn wieder hat Heinz etwas entdeckt: kantige, schmutzig-grüne
Würste, polsterförmig angeordnet, denen lange Stiele entwachsen,
die von prallen, zartrosa Knospen gekrönt werden. „Eine Asclepia,
wahrscheinlich eine Tromotriche, aber welche genau, kann ich nicht
sagen, da die Blüten noch geschlossen sind.“ Diese Tatsache lässt
auch bei Annette und Jochen kein allzu großes Interesse aufkommen,
weshalb sie nach höflicher Würdigung der Sichtung erneut rasch den
Hügel hinabstreben. 

Tromotriche pedunculata
Tromotriche pedunculata
Mother-of-Pearl-Flechte

Fast sind sie schon beim Auto angelangt, als
Heinz abermals seinen Lockruf hinterher schickt: „Ja, ja, jetzt hab
ich eine mit offenen Blüten gefunden! Kommt schnell!“ Zögerlich,
fast ein bisschen unwillig, drehen die beiden sich um, können der
Versuchung jedoch nicht widerstehen und traben schließlich ein
drittes Mal gehorsam zu uns herauf. Ihre Neugier und Mühe aber
werden diesmal wirklich fürstlich belohnt. Wie kostbare Seesterne an
langen Tentakeln schmücken prachtvolle Blüten die eher unscheinbare
Pflanze. Fünf fleischige Blütenblätter, auberginefarben, mit
weißem, erhabenem Irrgartenmuster, gesäumt von dichten
Haarbüscheln, treffen sich in der Mitte, der Blütenöffnung, die
ihrerseits wie ein weinrotes, glänzendes Krönchen den zartgelben
Blütenboden zu schützen scheint. Und ja, Heinz hatte recht mit
seiner ersten Vermutung – es ist eine Tromotriche, und zwar eine
pedunculata ssp. longipes. Kein besonders klangvoller Name für die
Aasblume mit den bezaubernden Blüten, aber ein sehr treffender: die
langbeinig Bestielte mit den zitternden Härchen. Fasziniert huldigen
wir dieser Schönheit, fotografieren, schnuppern, berühren,
genießen. Auch Annette und Jochen sind ehrlich begeistert über den
Fund meines adleräugigen Sukkulenten-Liebhabers, machen sich aber
dennoch bald wieder auf den Weg, hinab zum Auto und dem verlockenden
Schatten, den der Landy auf die glühenden Steine wirft.

Hoodia gordonii
Hoodia gordonii
Hoodia gordonii

Heinz
und ich hingegen trotzen weiterhin tapfer der Hitze, klettern höher
und entdecken noch viele andere kleine Preziosen, die uns endlos
erfreuen, jedoch allesamt der Tromotriche, zumindest optisch, nicht
ganz das Wasser reichen können. Hoppla – weil ich gerade endlos
sagte – so lange sollte unsere Exkursion wohl besser nicht dauern,
denn unsere beiden Freunde „zerstreuen“ sich schon wieder über
eine Stunde, während wir hier unserer botanischen Leidenschaft
frönen. Schweren Herzens, aber einsichtig, machen wir uns also
langsam auf den Rückweg zum Wagen, wo wir die beiden bei einem mehr
oder weniger seltsamen Anti-Langweil-Programm überraschen. Jochen
tippt, ausgestreckt auf einer Matte liegend, wie ein Wilder auf dem
GPS-Gerät herum, und Annette legt gerade einen weiteren Stein auf
ein Miniatur-Mäuerchen, das sie liebevoll um eine kleine
Mittagsblume herum errichtet hat. „Da seid ihr ja! Kuckt mal, ich
habe inzwischen einen Ameisen-Pferch gebaut!“ Spricht’s und
scheucht eines der herumwuselnden Insekten auf ihre Spielzeug-Koppel.
„Oh wei, war’s wirklich sooo schlimm?“, frage ich
entschuldigend. „Ach was, kein Problem!“, meinen die Zwei
augenzwinkernd. „Nichtsdestotrotz hätten wir nichts gegen eine
Weiterfahrt einzuwenden, wenn ihr alles gesehen habt. Ja?!“ Klar!
Heinz und ich könnten zwar noch Tage hier verbringen, dennoch sind
wir inzwischen so erfüllt von dem bereits Gesehenen, so gesättigt,
so reizüberflutet, dass wir beinahe dankbar zustimmen. Also klettern
wir in trauter Einigkeit ins Auto, holpern die letzten Höhenmeter
Richtung Schwemmebene hinab und freuen uns auf einen gepflegten
Rest-Nachmittag im Camp. Und bis auf ein paar weitere Stopps,
hervorgerufen durch prächtige Hoodias, die uns ihre in allen
Lachstönen leuchtenden Blüten, ihre schnabelförmigen Samenstände
und zart glänzenden Stacheln entgegenrecken, kommen wir tatsächlich
rasch voran. Gegen 16 Uhr schließlich erreichen wir Potjiespram und
sind zutiefst überrascht, wie sehr sich dieses Camp von De Hoop
unterscheidet. Es ist um einiges besser ausgebaut, schattiger, grüner
und, obwohl wir auch hier völlig alleine sind, wirkt es beinahe
„bevölkert“. Das liegt weniger an den zahlreichen Vögeln, die
durchs üppige Gebüsch flattern, weniger an dem freundlichen Hund,
der uns schwanzwedeln begrüßt, sondern vielmehr an den sichtbaren
Hinterlassenschaften vorheriger Gäste. Auf jedem der durch dichtes
Buschwerk voneinander getrennten Stellplätze begrüßt uns die
heruntergeglühte Asche eines ehemals lodernden Lagerfeuers, garniert
von allerlei Alltagsmüll, hier hängt eine Plastiktüte am Ast, dort
spannt sich eine Wäschleine zwischen zwei Baumstämmen, in der
Dusche stehen vergessene Shampooflaschen, am Spülbeckenrand ein
halbvolles Spüli. Nein, es ist nicht richtig dreckig, ungepflegt
oder gar vermüllt, dieses Camp, es atmet lediglich einen gewissen
Hauch von Zivilisation aus, hat den unterschwelligen Charakter eines
Outback-Ballermanns. Wir sind heilfroh, dass heute bereits Dienstag
ist, denn all diese Indizien deuten auf ein turbulentes, vergangenes
Wochenende hin. Vor drei, vier Tagen hat hier wahrscheinlich noch der
südafrikanische Ausflugs-Bär gesteppt – landestypische
Partystimmung im entlegensten Winkel der Nation. Das ist natürlich
nur eine Vermutung, aber durchaus nicht abwegig, denn so kennen wir
sie, unsere südafrikanischen Camperfreunde: es ist Wochenende, kein
Weg zu weit, um in unverdorbener Natur, umgeben von jeglichem
Equipment-Wahnsinn, die Sau rauszulassen. Thank God, it’s Tuesday!
Dankbar ob dieser Tatsache, suchen wir uns den geräumigsten
Stellplatz aus, räumen Bierdosen und Fleischverpackungen zu unserem
Müll, richten uns häuslich ein, duschen uns die Sandpanade vom Leib
und genießen einen geruhsamen Abend am touristischen Brennpunkt des
Richtersveld Nationalparks – in aller Stille. Fast, denn unser
Feuer knistert laut, der Oranje gluckert, die Bäume rauschen im
Wind, ein Schakal ruft, ein anderer antwortet – und der Camphund
schnarcht vernehmlich…

Weitere Sichtungen/Eindrücke eines Wahnsinns-Tages: 

Aloe ramosissima
Akkedis-Pass downstairs
Frieden am Oranje
Eidechse mit Rallye-Streifen
Cordylus sp.
Zosterops pallidus
 Die Landschaft ist so schön!
Blick vom Akkedis-Pass
Tylecodon paniculatus
Pachypodium nam.
Tylecodon paniculatus
Tylecodon wallichii ssp. ecklonianus
Tylecodon wallichii ssp. ecklonianus
Hoodia gordonii
Crassula grisea
Ceraria namaquensis
Cleome fruticulosa
Sarcostemma viminale
Drosanthemum sp.
Monechma mollissimum
Sesuvium sesuvioides
Aspazoma amplectens
Cheiridopsis robusta
Astridia longifolia
Aloe ramosissima
Ganz oben auf dem Hügel
Commiphora capensis
Atemberaubende Landschaft
Am Oranje mit Blick auf NAM
Cossypha caffra
Pycnonotus nigricans
Eberlanzia sp.
Prenia sladeniana
Kleinia longiflora

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