3. Oktober 2015: Bugombe Gateway Camp > Ruanda, Kigali > Kayonza, Women’s Opportunity Center
Der Platz der vielen kleinen Vögel beglückt uns auch heute Morgen nicht: in der Nacht hat es immer wieder geregnet, alle Ausrüstungsgegenstände sind feucht, tiefe Wolken ziehen über den See und die Temperaturen sind eher frisch. Immerhin gönnt uns der Regen eine Pause, in der wir rasch frühstücken und packen können, bevor wir diesen zwar gastlichen, aber gerade ziemlich unwirtlichen Ort verlassen. Vor unserer Abfahrt vergewissern wir uns natürlich, dass das in der Rinne aufgeschichtete Bauholz noch vorhanden und stabil gestapelt und nicht dem strömenden Regen zum Opfer gefallen ist, dann rollen wir rumpelnd über den Behelfssteg, winken den freundlichen Angestellten einen letzten Gruß zu und hangeln uns anschließend am Seeufer zurück, bis wir den steilen Anstieg nach Kabale erreichen.
Lake Bunyonyi im Dunst
Der Nebel wird dichter
Strömender Regen
Ich rücke mich im Auto zurecht, um noch ein paar Abschiedsblicke auf den wolkenverhangenen See werfen zu können, aber nicht mal das ist mir vergönnt – es fängt schon wieder an zu regnen. Ach ne! Nun ist ja ein Land Rover Defender an und für sich ein super Auto, doch er hat ein paar, na ja, sagen wir mal, Mankos, die gerade an kühlen Tagen mit hoher Luftfeuchtigkeit und strömendem Regen besonders augenscheinlich zutage treten: die Scheiben laufen sofort an, obwohl es bei allen Türritzen eiskalt hereinzieht und die Scheibenwischer, die sich wie ein arthritischer Greis im Zeitlupentempo über die Frontscheibe bewegen, werden der Regenmenge nicht Herr. Also sehe ich nicht nur wenig, sondern nichts! Nun ja, egal. Mit beschlagenen Scheiben kämpfen wir uns die etwas rutschige Straße nach oben und kommen schließlich wohlbehalten in Kabale an. Die Stadt, die schon gestern, als das Wetter noch besser war, nicht besonders einladend wirkte, verströmt heute ein nahezu abstoßendes Flair. Ungeteerte Straßen werden von rasch fließenden Bächlein geflutet, die Häuserfronten sehen noch verkommener aus, Menschen eilen missmutig durch den Schlamm und in vielen Shops sitzen in Decken gehüllte Dienstleister, die heute vergeblich auf Kundschaft zu warten scheinen – jeder will nur möglichst schnell ins Trockene und verschiebt seine Besorgungen auf einen Tag mit besserem Wetter.
Kabale im Regen
Kein gutes Geschäfts-Wetter
Überall fließen Bächlein
Auch wir hätten gerne trockenere Bedingungen zum Fahren, wenngleich unsere Tagesstrecke heute keine sehr weite ist: wir wollen nach Kigali und dort auf unserem Weg nach Tansania im Rwanda Youth Hostel Zwischenstation machen. Doch die Fahrerei mit hechelnden Scheibenwischern und vernebelten Scheiben ist eben trotzdem nicht sehr prickelnd. Doch wenig später hat das Wetter ein gewisses Einsehen mit uns. Es nieselt nur noch hin und wieder und die Temperaturen steigen leicht, was die beschlagenen Fenster im Wagen sofort zum Aufklaren bringt. Und nun sehen wir auch, dass wir uns in wunderschöner Landschaft bewegen. Unglaublich grüne Reisfelder, die sogar in diesem fahlen, sonnenlosen Licht förmlich glühen, leuchten uns entgegen, die streng geometrischen Formen der landwirtschaftlichen Nutzflächen verleihen der Gegend einen ganz besonderen Reiz, der durch die unterschiedlichen Grüntöne der Reispflanzen zusätzlich unterstützt wird. Ich schwelge gerade in diesen subtilen Farbnunancen und den Strukturen der wogenden Reishalme, als plötzlich der Verkehr zu- und der landschaftliche Reiz wieder abnimmt.
Wolkenverhangen
Nahe der ruandischen Grenze
Frisches Grün der Felder
Ei, wir nähern uns der ugandisch-ruandischen Grenze! Wenige Kilometer später sind wir da, in Gatunga, dem Ort unseres geplanten Grenzübertritts. Die Ausreise ist, wie nicht anders erwartet, völlig unproblematisch – kurz aussteigen, Kontrolle, Stempel in den Pass und Tschüss. Doch dann, auf den paar hundert Metern im Niemandsland zwischen Uganda und Ruanda, offenbart sich das Chaos einer afrikanischen Grenze, wie ich es erst wenige Male erlebt habe! Unzählige Pkws und Lkws stauen sich in mehreren Reihen nebeneinander, der aus Ruanda kommende Gegenverkehr drückt ohne Rücksicht auf Verluste in die wartende Kolonne, die Fahrzeuge verkeilen sich förmlich ineinander, nichts scheint mehr zu gehen, ein schier unlösbares Gewirr aus Blechkarossen schiebt sich vor uns ineinander und unterschiedlich uniformierte Beamte provozieren noch mehr Kuddelmuddel, indem sie mit Waffen und blanken Fäusten auf die Kühlerhauben der wartenden Fahrzeuge eindreschen. Go, go! Ja, wohin denn? Es ist ein heilloses Durcheinander und ich frage mich, wie lange wir wohl brauchen werden, um da wieder rauszukommen. Wenn überhaupt…
Millimeter für Millimeter schiebt sich die Blechlawine gen Grenze, im Zeitlupentempo geht es voran, die Grenzbeamten schreien aggressiv, schlagen auf Autos ein und beschimpfen die Fahrer. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich ein Gelände erreichen, auf dem eine Art Parkplatz erkennbar ist und kleine Hüttchen sichtbar werden, die zur ruandischen Grenzabfertigung gehören könnten. Erleichtert quetschen wir uns auf einen freien Stellplatz und sondieren die Lage: tatsächlich, es ist der ruandische Grenzposten – Gott sei Dank! Rasch teilen wir uns in zwei Parteien auf. Gabi, Erika, Heinz und ich, stolze Besitzer eines Ostafrika-Visums, müssen nur uns selbst über die Grenze bringen. Annette und Jochen hingegen haben auch die zwei Autos auf legal korrekte Weise von Uganda nach Ruanda zu verfrachten. Also gehen erst wir „Fußgänger“, während Annette und Jochen bei den Fahrzeugen bleiben.
Ah, ne, Scheiße, es regnet schon wieder! Rasch flüchten wir unter eines der winzigen Dächlein der ruandischen Immigration – die Gebäude erinnern eher an kleine, holzgezimmerte Fahrkartenbuden auf dem Jahrmarkt oder an Reihenplumpsklos, denn an offizielle Beamtenstuben. Es geht trotzdem erstaunlich rasch voran: nach einer Viertelstunde sind wir dran, legen unsere Pässe auf die Theke, das unter heftigen Mühen erworbene Ostafrika-Visum wird kurz inspiziert, abgestempelt – und schon sind wir abgefertigt! Glücklich, das Grenzprozedere so problemlos hinter uns gebracht zu haben, schieben wir uns auf den Parkplatz zurück, postieren uns neben den Autos und schicken Annette und Jochen los. Die beiden brauchen natürlich länger, aber auch sie sind nach einer halben Stunde wieder da. Fertig? Fertig! Nichts wie weg von hier! Rasch klettern wir in unsere Autos und wollen nur noch weiter. Doch etwa hundert Meter Stau liegen noch vor uns, ein Stau, ein Blechgekeile, das sich nicht groß von dem vor der Grenze unterscheidet. Nur in einem Punkt. Es rascher voran. Hoffnungsfroh stauen wir uns so gen Ruanda und sind dem Desaster schon fast entronnen, als ein martialisch bewaffneter Uniformierter mit der Faust auf unsere Kühlerhaube schlägt, zum Fenster kommt und mit geschwollenen Halsadern zu uns reinplärrt. „Bolla, bolla, get out of your car! Bolla, bolla, immediately!“ Was will der von uns? Hektisch winkt der Beamte. „Bolla, get out!“ Verunsichert steigen wir aus. Kaum sind wir draussen, wird uns sekundenkurz ein digitales Fieberthermometer ans Ohr gehalten, einem nach dem anderen, von mehreren Beamten. Die Aktion jedoch ist wohl eher pro forma, denn es piept nicht und es wird keine Anzeige abgelesen. Dennoch werden wir zufrieden abgenickt und weitergewunken. „Go, you can go!“ Bolla? Ach, der meinte EBOL(L)A! Puh, da muss man auch erst mal draufkommen!
Hüben wie drüben: Wolken
Regenschutz
Was ist hier anders?
Hurtig entfernen wir uns aus dem Dunstkreis des finsteren Beamten, der schon die nächsten Bolla-zu-Prüfenden anschreit, schlichten uns erneut in die Autos und flüchten Richtung Kigali. Erstaunlich schnell haben wir den Grenzstau hinter uns gelassen und rollen nun auf ruhiger Landstraße dahin. Dort bietet sich uns das typische Bild: Pkws, Lkws, schwer beladene Radfahrer – aber irgendwas ist trotzdem anders. Ich komme jedoch nicht drauf, so sehr ich auch nachdenke und analysiere. Erst, als wir das zweite oder dritte Dorf passiert haben, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: es ist unglaublich sauber hier! Nirgendwo liegt Müll in den Straßengräben, es flattern keine Plastiktüten im Gebüsch, und nicht mal die üblichen Zuckerrohrfasern, die von eifrigen Kauern und Knusperern überall sonst achtlos ausgespuckt werden, sind zu sehen. Ich bin erstaunt. Dann aber erinnere ich mich, im Vorfeld dieser Tour etwas im Reiseführer gelesen zu haben, was diese verblüffende Sauberkeit erklärt. In Ruanda gibt es seit mehreren Jahren ein striktes Plastiktütenverbot. Anfangs wurde dieses Verbot von vielen für undurchführbar gehalten, doch die Ruander setzten es erfolgreich durch, indem sie konsequent Alternativen anboten. Supermärkte und andere Geschäfte wurden dazu angehalten, ihren Kunden Papiertüten zur Verfügung zu stellen, die das selbe oder sogar weniger als Plastiktüten kosteten. Weiterhin arbeitete die Umweltbehörde mit vielen Frauengruppen zusammen, die Beutel aus Baumwollstoff herstellten und diese überall zu günstigen Preisen verkauften. Aufklärungskampagnen in Funk, Fernsehen und in Schulen sorgten für die Verbreitung des nötigen Basiswissens und Verständnisses bei der Bevölkerung. Das durchdachte Konzept war so effektiv, dass Ruanda nun seit vielen Jahren tatsächlich plastiktütenfrei ist. Und ja, es werden sogar bei einreisenden Personen Gepäckkontrollen durchgeführt; finden die Grenzer Plastiktüten, werden diese sofort konfisziert und entsorgt! Das hatte ich in der Tat beinahe wieder vergessen, aber jetzt, da wir durch dieses wie geleckt wirkende Land rollen, fällt es mir natürlich wieder ein. Und nachträglich fährt mir noch ein leichter Schrecken in die Glieder, denn unsere Fahrzeuge sind voll mit Plastiktüten – gesammelte Einkaufsbeutel, die wir als Mülltüten nutzen, Plastiksackerl, in denen ich meine Klamotten verstaut habe und Tüten, die unsere erworbenen Souvenir-Schätze vor Staub und Feuchtigkeit schützen. Da hatten wir ja richtig Glück, dass der Bolla-Typ nicht gleichzeitig als Plastik-Wauwau unterwegs war; der hätte uns sicher aufs Übelste auseinandergenommen!
Frauen kommen vom Feld
Bananentransport
Werbung für Gorilla-Tracking in Ruanda
Doch es ist nicht nur das Plastiktüten-Verbot, das Ruanda in dieser Gepflegtheit glänzen lässt, es gibt noch eine andere Besonderheit, die absolut bemerkenswert ist: in unseren Breiten organisieren Umweltschutzorganisationen ja ein- oder zweimal im Jahr sogenannte Ramadamas, bei denen die interessierte und willige Bevölkerung dazu aufgerufen wird, Wald und Flur nach Müll abzusuchen und von diesem zu befreien. In Ruanda heißt eben jenes Pendant zum Ramadama Umuganda, was übersetzt gegenseitige Hilfe, Zusammenhalt bedeutet. Umuganda jedoch wird nicht nur zweimal pro Jahr praktiziert, sondern an jedem letzten Samstag im Monat. Und es nehmen nicht nur ein paar „Umwelt-Spinner“ daran teil, es gehört für die ganze Bevölkerung zum guten Ton, sich nach den jeweiligen persönlichen Möglichkeiten einzubringen und tatkräftig mit anzupacken. Umuganda, gemeinschaftliches Großreinemachen – eine fantastische Sache, die das Land in einladender Sauberkeit erstrahlen lässt, der Umwelt zugute kommt, die Menschen stolz macht und somit auch hilft, das immer noch präsente Trauma des über 20 Jahre zurückliegenden Völkermordes zu bewältigen. Freude am Dasein durch ein selbst geschaffenes, gepflegtes Umfeld, Wertschätzung für sich selbst und seine Mitmenschen; ein Konzept, das augenscheinlich hervorragend funktioniert! Ich bin, gelinde gesagt, begeistert und spätestens jetzt gespannt wie ein Flitzebogen, ob das in einer Großstadt wie Kigali genauso ernsthaft umgesetzt wird, wie auf dem Land.
Vororte von Kigali
Reisfelder zu Füßen der Stadt
Skyline von Kigali
Und ich muss nicht lange warten. Kurz vor Mittag erreichen wir die Hauptstadt Ruandas, die wir schon lange vorher mit einer imposanten Skyline auf einer Hügelkette vor uns thronen sehen. Wir durchfahren immer dichter besiedelte Vororte, der Verkehr nimmt zu, wir schrauben uns nach oben, dieser Millionenstadt entgegen, tauchen in sie ein, doch das bereits gewonnene Bild bleibt bestehen. Es ist sauber, gepflegt, geordnet, der Verkehr, obwohl dicht, fließt in äußerst geregelten Bahnen über perfekt geteerte Straßen, man sieht keine Spur von Chaos, hört kein Hupen, jeder hält sich in höchst zivilisierter Weise an die Verkehrsregeln und man könnte wirklich denken, man sei in einer nordeuropäischen Großstadt gelandet, die gerade fieberhaft nach dem Verkehrsteilnehmer des Jahres sucht, um ihn anschließend mit einer Million Euro zu belohnen. Unglaublich für eine Stadt dieser Größe und noch unglaublicher für eine afrikanische Großstadt! Und dann die Ampeln: über den Stadtautobahnen verrichten keine schnöden Rot-Gelb-Grün-Verkehrslichter ihren Dienst, sondern High-Tech-Leuchten, die sekundengenau anzeigen, wie lange noch Rot ist oder wann die grüne Phase endet. Ich bin geflasht!
Brunnen beim Convention Centre
Traumhafte Verkehrslage!
High-Tech-Ampeln
Staunend kurven wir durch Kigali, auf der Suche nach einem Supermarkt und können uns dergestalt davon überzeugen, dass dieser traumhafte Verkehrszustand in der Tat die Regel für die ganze Stadt darstellt. Im Supermarkt geht die Überprüfung des im Reiseführer Gelesenen weiter – und natürlich werden wir nicht enttäuscht. Zur Verstauung unserer Waren werden uns Papiertüten gereicht und auf dem Parkplatz des Konsumtempels herrscht geleckte Sauberkeit. Kein Chipstütchen flattert durch den Wind, kein Kaugummi klebt am Boden, kein Mülleimer quillt über, und die einsame Kippe, die im Eingangsbereich über den Teer kullert, stellt den Gipfel der Verunreinigung dieses Geländes dar. So sauber ist es nicht mal bei uns, denke ich mir überrascht, lese beinahe automatisch den Zigarettenstummel auf und entsorge ihn fachgerecht. Eine derartige Ordnung und Sauberkeit ist wirklich höchst ansteckend.
Tankstelle
Bus- und Taxibahnhof
Nach unserem Supermarktbesuch, wir haben uns redlich bemüht, kein Stäubchen zu hinterlassen, machen wir uns nun auf die Suche nach dem Rwanda Youth Hostel, wo wir heute eigentlich nächtigen wollen. Doch bereits auf der kurzen Fahrt zu diesem Etablissement beginnen wir zu diskutieren, ob es nicht besser wäre, noch weiterzufahren, schließlich ist es gerade mal ein Uhr mittags und der Tag noch jung. Und so sauber und geordnet Kigali auch ist, ein Nachtquartier in weniger urbaner Umgebung würde uns allen besser gefallen. Nun aber sind wir schon auf dem Weg zum Youth Hostel, also können wir dieses zumindest noch in Augenschein nehmen und dort eventuell sogar eine Alternativ-Bleibe auf dem Weg nach Tansania erfragen. Gesagt, getan. Das Youth Hostel, auf dessen Gelände man auch campen kann, liegt in einer ruhigen Seitenstraße, eine kleine, und wie nicht anders zu erwarten, feine, gepflegte Unterkunftsmöglichkeit in zentraler Lage, die von Reisenden aller Altersgruppen offenbar gerne frequentiert wird. Man hätte auch noch ein Plätzchen für uns frei und wir würden dieses ohne Zögern annehmen – einladend grüner Rasen, gepflegte Sanitäranlagen und eine vertrauenerweckende Umgebung – wenn es, wie gesagt, nicht noch so früh am Tage wäre. Man ist uns nicht gram, als wir uns nach einer Alternative erkundigen, im Gegenteil, und legt uns freundlich einen Ort ans Herz, der, keine 90 Kilometer von hier entfernt, auf unserer direkten Route nach Tansania liegt – das Women’s Opportunity Center nahe Kayonza. Noch können wir uns keine genaue Vorstellung von dem, was uns da erwartet, machen, aber nach kurzer Beratung beschließen wir, es uns einfach mal anzusehen. Freundlich grüßend verabschieden wir uns von den zuvorkommenden Angestellten des Youth Hostels und machen uns gespannt auf den Weg, der uns, Richtung Nordosten, durch viele kleinere und größere Dörfer führt.
Getränketransport
Straße mit Fußgängerspur
Ein Erlebnis der besonderen Art, wie sich bald herausstellt, denn es ist Samstag, der erste Samstag im Monat. Somit erstrahlt das ganze Land im Glanze des erst vor einer Woche durchgeführten Umuganda und, noch viel beeindruckender, es scheint heute Markttag zu sein. Die gesamte Landbevölkerung ist auf den Beinen, Frauen balancieren Waren auf dem Kopf, Kinder sausen spielend um ihre Mütter herum und Männer steuern vorsichtig Eselskarren und beladene Pferde durch die gut gelaunte Menschenmenge. Und überall wird uns freundlich-fröhlich zugewunken, nirgendwo ist Feindschaft zu spüren und, was das Sympathischste ist, nichts wirkt auch nur andeutungsweise aufgesetzt. Eine Freundlichkeit, der man in vielen afrikanischen Ländern begegnen kann, doch hier, in Ruanda, wo sich vor 21 Jahren Unvorstellbares ereignete, ist das etwas, was mich besonders tief berührt.
Im April 1994 begann in diesem Land eine fast hundert Tage dauernde Zeitspanne, in der Dinge geschahen, die in der Menschheitsgeschichte zwar nicht einzigartig sind, in dieser Brutalität und Effizienz aber dennoch eine gewisse Sonderstellung einnehmen. Angehörige der ruandischen Hutu-Mehrheit meuchelten in diesem kurzen Zeitraum nahezu 75 Prozent der ebenfalls in Ruanda ansässigen Tutsi-Minderheit, aber auch Angehörige ihres eigenen Stammes, die sich den Tutsi gegenüber zu liberal präsentierten – 500 000 bis eine Million Menschen verloren so auf grausamste Weise ihr Leben; wie viele es jedoch exakt waren, kann keiner so genau sagen. Ein dreimonatiges Blutbad, ein Völkermord, ein Leid der Menschen, das minütlich durch die Presse ging, das fast niemandem verborgen blieb, das schließlich sogar mehrfach verfilmt wurde. In diesem Wissen, diesem Bewusstsein kam auch ich hierher und bin nun umso fassungsloser, im positiven Sinne, Ruanda und seine Menschen so vorzufinden.
Nie im Leben hätte ich mit einer derartig positiven Energie gerechnet, die das ganze, vor kurzem noch so gebeutelte Land durchströmt und überall spürbar ist! Beeindruckend und, im momentanen Zustand, beispielhaft. Dennoch kann ich es nicht wirklich glauben, dass das von Bestand ist; zu viele Beispiele auf der ganzen Welt erzählen andere Geschichten, halten andere Entwicklungen parat. Was also, wenn die ruandische Bevölkerung immer noch so traumatisiert ist, dass der alte Hass, die alte Feindschaft nur unter den Nachwirkungen dieser schlimmen Ereignisse begraben liegen, nicht aber ausgemerzt wurden? Was, wenn es sich lediglich um eine positive, aber temporäre Art von Schockstarre handelt? Was, wenn auch jetzt, wie schon beim Genozid vermutet, in- und ausländische, an den Menschen vordergründig nicht interessierte Machthaber ihre Finger im Spiel haben und im Verborgenen schon lange wieder ihre schändlichen Fäden spinnen? Es wäre, wie gesagt, nichts Neues im ewigen Reigen der gegenseitigen Ressentiments und Grausamkeiten unter Menschen.
Ziegelrundhäuser im Opportunity Center
Teil der Beetanlagen
Unsere Campsite
Ja, ich bin eher ein Pessimist denn ein Optimist, ich gebe es zu! Aber ich bin auch schon viel zu lange auf dieser Welt, unter meinesgleichen, und beobachte alles, was um mich herum passiert – zu genau, um mir noch großes Vertrauen in das Gute im Menschen bewahrt zu haben. Doch ich hoffe. Ich hoffe für diese sympathischen, motivierten Ruander, dass all das, was ich hier sehe, von Dauer sein und der positive Geist das Böse besiegen möge. Das wünsche ich mir umso mehr, als wir Kayonza und, kurz darauf, das von den Hostel-Angestellten empfohlene Opportunity Center erreichen und uns dort freundlich Einlass gewährt wird. Das riesige Gelände, von Klinkermauern und Zäunen begrenzt, liegt an einer Hügelflanke über einem ländlichen Tal, organisch gerundete, luftige Ziegelbauten schmiegen sich in Kreisform um ein eher nur spürbares denn sichtbares Zentrum, freischwebende Dachkonstruktionen beschatten die Gebäude, dazwischen sieht man liebevoll gepflegte Beete, bestückt mit zahlreichen Schildchen. Ein Angestellter hört sich unser Ansinnen an, nickt, eilt von dannen und holt den Manager herbei, der uns uns sofort auf ein spaziöses Campingareal lotst, nicht ohne uns, ganz nebenbei, über diese wirklich augenfällige Einrichtung zu informieren. Nebenbei und ganz unaufdringlich, aber mit der Option, dass er gerne mehr erzählen würde, sofern wir denn interessiert wären. Ja, das sind wir! Doch bevor wir mit weiteren Informationen „behelligt“ würden, sagt er, sollten wir uns doch erst mal bequem einrichten. Und das tun wir. Auf einer großzügigen Fläche, die am unteren Ende des abfallenden Gesamtareals liegt, mit Blick auf ein dörflich besiedeltes Tal, bauen wir unsere Zelte auf und genießen erst mal die Sicht. Beziehungsweise – man genießt die Sicht auf uns. Während wir nämlich unser Lager errichten, eilen zahlreiche Kinder aus dem Tal herauf, um uns aufgeregt dabei zu beobachten.
Neugierige Kinder
Foto bitte! Oder doch nicht?
Wir scheinen eine wirkliche Sensation zu sein! Die Kinder hangeln sich am Zaun des Opportunity Centers entlang, kichern, giggeln, versuchen schüchternen Kontakt aufzunehmen, wenden sich aber immer wieder verschämt ab, wenn dieser zustande kommt. Lange versuchen Heinz und ich, Vertrauen zu den neugierigen Kids aufzubauen, was uns schließlich zumindest partiell gelingt. Radebrechend, mit Händen und Füßen, unterhalten wir uns mit den Kleinen, als plötzlich energische Pfiffe aus dem Talgrund erschallen. Wie die Pfeile flitzen die Kinder folgsam von dannen, obwohl sie so gerne geblieben wären. Wir winken ihnen, erstaunt über so viel Gehorsam, hinterher.
Okay, dann kann ich ja jetzt duschen gehen, ohne was zu verpassen! Ich schultere meine Utensilien und stapfe zu den etwas entfernt liegenden Sanitär-Einrichtungen, als mir der Manager wieder über den Weg läuft. „Aah, Sie wollen duschen gehen. Sie wissen, wo die Ablution Blocks sind?“ „Ja, vielen Dank. Aber Sie hatten vorhin versprochen, noch etwas über diese Einrichtung hier zu erzählen. Hätten Sie jetzt Zeit dazu?“ „Natürlich, sehr gerne!“ Und schon legt er los. Eine Flut von Informationen prasselt auf mich herab, er führt mich auf dem Gelände herum, erklärt, erläutert, beschreibt – und entschuldigt sich dabei immer wieder, mich vom Duschen abzuhalten. Doch ich bin so gefesselt von seinen Ausführungen, dass es mir völlig egal ist, ob ich heute noch zur Körperpflege komme oder nicht. Fasziniert lauschend wackle ich ihm hinterher: also, das Women’s Opportunity Center wurde 2013 eröffnet, es erstreckt sich über eine Fläche von über 2 Hektar, ist einem Dorf nachempfunden und bietet jährlich bis zu 300 Frauen die Möglichkeit, sich in Sachen Landwirtschaft und anderen Tätigkeiten des Broterwerbs weiterzubilden. Auf einer Schulungsfarm lernen sie alles, was man wissen muss, um der Subsistenzwirtschaft erfolgreich zu entrinnen und erfahren ganz nebenbei, was Nachhaltigkeit bedeutet. Das Women’s Opportunity Center selbst ist nämlich ein Musterbeispiel an Nachhaltigkeit: gebaut wurde es mit rund einer halben Million Ziegeln, die hiesige Arbeiter per Hand selbst herstellten und dazu Lehm aus einem benachbarten Tal verwendeten. Die runde Konstruktion der Gebäude mit den durchbrochenen Wänden und freischwebenden Dächern hat zudem diverse Vorteile. Sie sind in sich so stabil, dass auf Stützpfeiler verzichtet werden konnte, die durchbrochenen Mauern sorgen für angenehmen Lichteinfall und wirken wie eine natürliche Klimaanlage, die Dächer sind dergestalt geformt und ausgerichtet, dass sie ein Maximum an Regenwasser auffangen und anschließend in zwei unterirdische 40 000-Liter-Zisternen leiten können. Ein Teil des Wasser wird dann mittels Solarpumpen in einen Wasserturm verbracht, mit einem UV-Filtersystem gereinigt und trinkbar gemacht und versorgt so das ganze WOC; Überschuss wird verkauft. Um trotzdem Wasser zu sparen, hat man Komposttoiletten installiert, deren Inhalt wiederum zu Dünger verarbeitet wird, der auf der Schulungsfarm für höhere Erträge und im Verkauf für zusätzliche Einkünfte sorgt. Und Wasser, das zum Waschen, Duschen oder Abspülen verwendet wurde, wird sofort wieder in den Kreislauf eingebracht – als Gießwasser. Mir schwirrt der Kopf, ich kann gar nicht alles behalten, was mir erzählt wird, aber ich bin schwer beeindruckt. Der Manager platzt vor Stolz, als ich meine Begeisterung äußere und ihm gestehe, dass ich mir solche Projekte auch für Deutschland wünschen würde. „Es bedeutet mir viel, wenn Menschen wie Sie, die aus reichen Ländern kommen, so etwas sagen und ich spüre, dass es ernst gemeint ist! Aber jetzt gehen Sie bitte duschen, es wird Abend und kühl. Nicht, dass Sie sich noch erkälten!“ Diese simple Fürsorge berührt mich so sehr, dass ich fast feuchte Augen bekomme; rasch schüttle ich dem väterlichen Herrn die Hand, danke ihm herzlich für seine Privatführung und leiste dann augenblicklich seiner Aufforderung Folge.
Kommunikation am Zaun
Beim Abendessen …
… im Restaurant
Frisch geduscht kehre ich so wenig später zu meinen Freunden zurück, mit dem guten Gefühl, wieder sauber zu sein und gleichzeitig für Gießwasser gesorgt zu haben… „Barbara, die haben ein Restaurant hier und wir haben uns dort angemeldet. Mach dich fertig, wir wollen gleich los!“ So also findet ein ereignisreicher und höchst interessanter Tag ein gemütliches Ende: wir müssen nicht mehr selbst kochen, sondern lassen uns stattdessen verwöhnen und ich habe zudem Gelegenheit, ein bisschen was von meinen neuen Erkenntnissen zu erzählen, die von den anderen ebenso fasziniert aufgenommen werden und uns das Dinner doppelt unvergesslich machen. Eine gute Entscheidung, hierher gekommen zu sein! Zu vorgerückter Stunde schließlich verlassen wir das Restaurant, dessen einzige Gäste wir heute Abend waren und streben unseren Zelten zu, in die wir uns alsbald verkriechen, denn es ist echt frisch. Nicht, dass wir uns noch erkälten…
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