4. Oktober 2015; Kayonza, Women’s Opportunity Center > Biharamulo, Boma Guesthouse Campsite
Früh, sehr früh am Morgen werden wir von verhaltenem Gekicher geweckt und strecken verschlafen unsere Köpfe aus dem Zelt. Dort steht schon wieder ein Pulk von Kindern, dieselben wie gestern, begleitet von neugierigen Freunden, die offenbar gespannt auf unser Erwachen gewartet haben. Unser Erscheinen und der freie Blick auf unsere Schlafzimmer, die sich verwunderlicherweise in von uns selbst mitgebrachten Stoffhäuschen befinden, sorgt für große Heiterkeitsausbrüche. Viele kugelrunde Augenpaare beobachten aufgeregt jede unserer Aktionen, die Morgentoilette wird flüsternd und giggelnd kommentiert, das Frühstück höchst interessiert analysiert, den Höhepunkt aber bildet der Abbau unseres Lagers. Die Kinder sind völlig gebannt von unserem Tun – wir sind ein echtes Unterhaltungs-Highlight! Dann aber verschwinden die Kids von einer Sekunde auf die andere, genau wie gestern Abend werden sie von lauten Rufen und Pfiffen ins Tal hinunter beordert und wir wundern uns. Heute ist Sonntag, da wird doch wohl keine Schule sein, oder? Nein, natürlich nicht, dafür aber ist Kirchgang angesagt! Das helle Bimmeln einer Glocke bestätigt wenig später unsere Vermutung.
Touristen-TV am Zaun
Komische Sachen machen die da …
Das Tal der neugierigen Kinder
Begleitet vom Klang des Sonntagsläutens packen wir unsere letzten Habseligkeiten zusammen, lassen einen Abschiedsblick über das malerische Tal schweifen, in dem sich unter der Wärme der höher steigenden Sonne langsam die letzten Nebelschwaden auflösen und machen uns anschließend zügig auf den Weg. Schließlich haben wir heute wieder einen recht üppigen Fahrtag und, zu allem Überfluss, auch noch einen Grenzübertritt vor uns. Wir werden Ruanda verlassen und im Nachbarland Tansania einfallen, wo wir in Biharamulo, einem ehemaligen deutschen Fort zu nächtigen gedenken. Es sind also rund 220 Kilometer, die wir heute zu bewältigen haben. Keine Monsterstrecke, aber auch nicht gerade ums Eck, und so ein Grenzübertritt ist zudem stets ein Faktor, der die geplante Ankunftszeit um Stunden verzögern kann. Also nix wie los!
Unser Lagerplatz
Kleine Beet-Anlage
Nachhaltige Gebäude- Konstruktionen
Ein einsamer Torwächter öffnet die Pforten des WOC, dann hat uns die Straße wieder. 80 Kilometer sind es bis zur Grenze, 80 Kilometer, auf denen wir relativ langsam vorankommen, die aber wie im Fluge an uns vorüberziehen. Grund dafür ist, dass auch heute wieder unzählige Menschen auf den Straßen zugange sind – sie sind auf dem Weg zur Kirche oder kommen von dort. In langen Prozessionen wandeln sie gemächlichen Schrittes am Straßenrand entlang und stellen einen wahren Augenschmaus dar, denn sie haben allesamt ihren Sonntagsstaat angelegt: die Herren einen Anzug und die Damen farbenfrohe Kleider afrikanischer oder westlicher Art, allenthalben gekrönt von spektakulären Hutkreationen. Ein wundervoller Anblick!
Überall freundliche Menschen
Festlich gekleidet
Auf Kirchgang
Lkw im Graben
Fischteiche
Zurückhaltende Ladenzeile
Bis zur letzten Minute genieße ich dieses erstaunliche Land Ruanda, das mich so positiv überrascht hat und wo ich gerne noch länger bleiben würde, gleichzeitig jedoch freue ich mich auch wahnsinnig auf den Katavi Nationalpark, der ja einer meiner Lebensträume ist – und nun mal in Tansania liegt. Da aber müssen wir erst mal hinkommen. Der Gedanke an den damit verbundenen Grenzübertritt ruft ein leichtes Gruseln in mir hervor – wird da wieder so ein Chaos herrschen?
Hier wirds schon bunter
Werbung braucht Farbe!
Auf dem Weg zur Grenze
Nein, kein Chaos! Auf beinahe menschenleerer Straße steuern wir den Grenzposten an, der praktischerweise ein One-Stop Borderpost ist; das bedeutet, dass Beamte beider Länder die Reisenden gleichzeitig abfertigen, man also nicht erst hüben aus- und drüben wieder einreisen muss. Das klingt vernünftig und nach raschem Prozedere. Anfangs scheint sich diese Vermutung auch zu bestätigen: vergleichsweise wenige Lkws, ein paar Pkws, kein nennenswerter Publikumsverkehr, und der Grenzposten hat beeindruckende Ausmaße – ein riesiger Parkplatz, diverse Abfertigungsgebäude und ein Grenzzaun, der das Ganze in genehmer Entfernung umgibt. Das hatten wir hier, mitten in der afrikanischen Pampa, nicht erwartet; schon allein aufgrund seiner Lage dürfte Rusumo keiner der geschäftigsten Grenzübergänge des Landes sein.
Dass Geschäftigkeit an diesem Ort tatsächlich ein Fremdwort ist, bekommen wir recht bald am eigenen Leib zu spüren. Wir, als Personen, sind in Minutenschnelle abgefertigt, haben unsere Stempel im Pass, dann aber beginnt die Prozedur mit den Autos. Und da stoßen wir erneut auf, ich nenne es mal vorsichtig, einen Wesenszug, der so manchen Amtspersonen zueigen ist… Besagte Amtsperson sitzt in einem kleinen, verglasten Kabuff mit Schiebefenster und Schlitz, durch den die erforderlichen Papiere angereicht werden können. Jochen und Annette grüßen freundlich und stecken alle Unterlagen, die für den Grenzübertritt der Autos nötig sind, durch den flachen Schlitz in der Verglasung. Der Officer blättert sich im Zeitlupentempo durch den Formularwust, runzelt gestresst die Stirne, stöhnt, um seine Überlastung zu verdeutlichen, dann sieht er unsere Freunde an, wirft einen Blick auf seine Uhr, zuckt bedauernd die Schultern, schließt beherzt das Schiebefenster, stellt ein Closed-Schild auf den Tresen und macht das Kabuff dicht! Dann verlässt er sein Büro, kehrt Minuten später wieder und fängt in aller Seelenruhe an, Stullen aus einer Plastikbox zu pflücken und sie zu verspeisen. Und das demonstrativ, wenn nicht gar provokativ, vor den Augen von uns Einreisewilligen, die wir nur ein paar kleine Stempelchen und eine Unterschrift benötigen würden. Wir sind fassungslos. Allerdings besitzen wir alle genügend Afrika-Erfahrung, um (zumindest in der Theorie) zu wissen, dass es keinen Sinn hat, jetzt ungehalten zu reagieren oder gar zu rebellieren. Jedes Wort wäre ein falsches und würde die Wartezeit nur verlängern. Wir wünschen also lediglich einen guten Appetit und verkrümeln uns, zunächst mal für eine halbe Stunde, bevor wir uns erneut in die Nähe des Schalters trauen. Doch der Beamte hat noch lange nicht fertig: die Hände über dem Bauch gefaltet, flätzt er auf seinem Bürostuhl, sieht Annette und Jochen kurz herausfordernd an, um gleich darauf wieder einen glasigen Entspannungsblick aufzusetzen und durch uns hindurchzustarren. Annette würde ihn am liebsten aus seinem Häuschen ziehen, stellt sich mit verschränkten Armen vor die Scheibe und fixiert den Officer. „Annette, das bringt doch nix.“ Jochen zerrt sie um die Ecke, außer Sichtweite des Grenzers. „Der spinnt! Das macht der doch mit Absicht!“ „Ja, aber irgendwann wird er schon aufgeben. Jetzt komm!“ Widerwillig gibt Annette nach, schöpft jedoch kurz darauf neue Hoffnung, denn ein weiterer Einreiseanwärter, ebenfalls ein deutscher Tourist auf einem Motorrad, steuert bestimmten Schrittes auf das Bürokästchen des pausierenden Beamten zu. „Jetzt muss er doch was machen!“ Denkste – der Neuankömmling wird ebenfalls geflissentlich ignoriert. Und, noch schlimmer, der Neuankömmling ignoriert auch uns, was Annette noch mehr aufregt. „Kann der nicht mal Hallo sagen, der hat doch gehört, dass wir auch deutsch sprechen!?!“ Annette ist so in Rage, dass sie sich momentan über jede Kleinigkeit aufregt, was aber nichts an der Situation ändert. Tja, es gibt Dinge, die kann und muss man nicht verstehen, man muss sie einfach nur geduldig und souverän aussitzen, jede Provokation vermeiden und hoffen, dass es sich bald zum Guten wendet.
Und das tut es in unserem Fall. Nach sage und schreibe fast anderthalb Stunden bequemt sich der Grenzer endlich, seine Tupperbox von unseren Unterlagen zu räumen, seine Stempel zu zücken, sie an den entsprechenden Stellen mit Vehemenz auf die Papiere zu knallen – eine Angelegenheit von weniger als einer Minute -, uns diese mit einer verächtlichen Handbewegung durch den Glasschlitz zurückzuschieben und den nächsten Einreisewilligen mit einem ungeduldigen Zungenschnalzen herbeizuzitieren. „Next. Hello, next! Come on, hurry!“ Manchmal würde man diese Sorte von Menschen, die in Afrikas Beamtenstuben weit verbreitet, aber auch bei uns nicht völlig unbekannt sind, echt am liebsten von ihren Bürohockern zerren und mit ein paar gezielten Tritten zum Arbeiten bewegen. Doch dann würde man genau das erreichen, was die Herrschaften mit ihrem Verhalten herausfordern – nämlich nichts; sie würden einen am ausgestreckten Arm verhungern lassen und dabei noch befriedigt lächeln. Alberne Machtdemonstrationen von Personen, die gerne mehr Macht hätten und das bisschen, das ihnen zugestanden wird, bis an die Grenzen ihres Handlungsspielraums ausreizen, unbefriedigte Zeitgenossen, die ihren Frust an anderen auslassen und glauben, danach würde es ihnen besser gehen. Eigentlich bemitleidenswerte Leute. Aber sie können einen, aller selbstbeschwichtigender Gedanken zum Trotz, zur Weißglut bringen…
Tansania und seine Straßen
Einsamer Radler
Minitaxi-Stopp
Doch wir haben ja nun diese widerspenstige Hürde erfolgreich genommen. Rasch kontrollieren wir noch, ob wir auch wirklich auf ganzer Linie siegreich waren und alle erforderlichen Stempel und Unterschriften in unseren Unterlagen prangen, dann verlassen wir schnellstens diese Grenze, die uns so viel Zeit gekostet hat. Und kaum kurven wir vom Gelände dieses noch recht neu gebauten Borderposts und seiner feinsäuberlich geteerten Zufahrtswege, schon holt uns die Wirklichkeit afrikanischer Straßen wieder ein. Es ist ein krasser Gegensatz zu Ruanda, was uns hier in Tansania empfängt: eine Teerstraße, die nur noch in Ansätzen als solche erkennbar ist, badewannentiefe Schlaglöcher, üppige Müllansammlungen und riesige Staubfontänen, von uns selbst und vom spärlichen Gegenverkehr erzeugt, die uns in rötlichbraune, auf allen Oberflächen haftende Wolken einhüllen. Nach ein paar Kilometern befinden sich auch plötzlich wieder schnaufend-rußende Lkws vor uns, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. An der Grenze hatten wir so viele auf jeden Fall nicht gesehen. Mühevoll überholen wir die stinkenden Riesenkarossen, eine nach der anderen, bis uns Annette anfunkt – ihr Auto macht wieder Probleme. Ne, nicht wahr, oder? Leider doch. Seufzend stoppen wir am Straßenrand und warten auf Annette – während all die soeben mühevoll überholten Stinker erneut an uns vorbeirollen und uns dabei komplett einstauben.
Die Landschaft ist schön …
… die Straßen …
… weniger!
Minuten später rumpelt sie herbei und bringt ihr Sorgenkind mit quietschenden Bremsen hinter uns zum Stehen. „Was gibt’s denn schon wieder für ein Problem?“, fragt Jochen mit leicht genervtem Unterton. Doch Annette kann es nicht konkret in Worte fassen. Es ist einfach was komisch, irgendwas stimmt nicht. Als Fahrerin des weißen Landys hat sie natürlich ein gutes Gespür für fahrtechnische Auffälligkeiten an ihrem Transportgerät, aber ihr fehlt die Erfahrung, diese zuordnen zu können. Und so kommt es, wie es kommen muss: „Ich meine, da schlägt was.“ „Ja wie? Vorne? Hinten? Geräuschmäßig oder spürbar? Wieder die Lichtmaschine, so wie am Anfang?“ „Ich kann’s nicht genau sagen. Aber da ist was!“ „Klar! Und was soll ich da jetzt machen? Mann, die Straße ist ultrascheiße, da schlägt schon mal was. Das ist normal!“ Gereizt setzt sich Jochen in Annettes Auto, startet es und lauscht eine Weile. „Ich kann nichts feststellen. Lass uns weiterfahren und melde dich, wenn du mit was Konkretem aufwarten kannst!“ Tief durchatmend klettern wir erneut in unsere fahrbaren Untersätze und setzen den Weg fort, begleitet von einem unguten Bauchgefühl. Wenn Annette meint, es stimmt was nicht, dann hat sie sicher recht. Leider aber müssen wir das Problem wohl tatsächlich auf uns zukommen lassen, um es eingrenzen und etwas dagegen unternehmen zu können. Heilig’s Blechle, möge dieser Kelch bitte an uns vorübergehen und uns, wenn schon, dann bitte nicht ausgerechnet im Katavi ereilen. Doch anscheinend haben wir Glück. Auf den nächsten 50 Kilometern bleibt alles im Lot, Annettes Wagen läuft wie ein Glöckchen, schnurrt wie ein Kätzchen auf der immer besser werdenden Straße und Annette wird übermütig. Sie überholt uns, winkt fröhlich aus dem Fenster und gibt Gas – natürlich im Rahmen der Geschwindigkeitsbegrenzung.
Das jedoch sieht ein Officer der Verkehrsüberwachung offenbar anders. Im Gebüsch nahezu unsichtbar verborgen, hält er seine Radarpistole mit integrierter Videokamera auf den vorbeirollenden Verkehr und pickt sich Annette heraus. 80 Stundenkilometer innerhalb der Ortschaft! Per Funk wird diese Geschwindigkeitsübertretung stante pede an einen polizeilichen Straßenposten im nächsten Kaff, das den schönen Namen Lusahunga trägt, gemeldet und als wir dort ankommen, befindet sich Annette schon in den Fängen der örtlichen Polizei. „Was iss’n jetzt schon wieder?“ „Die haben mich geblitzt, ich bin aber sicher nicht zu schnell gefahren! Achtzig statt fünfzig. Ich bin doch nicht doof!“ Jochen wendet sich an den Polizeibeamten, der ihm den Sachverhalt nochmal geduldig erklärt. Es ist so, wie es ist und es gibt sogar einen Videobeweis. Jochen will sich gerade resigniert der Amtsgewalt fügen, als Annette wie elektrisiert hochfährt. Ein Videobeweis! Den will sie sehen! Sie insistiert so lange, bis der Officer tatsächlich seinen Video-Kollegen herbeiruft, der bald vor Ort eintrifft und selbstsicher sein Filmchen präsentiert. Da, achtzig Stundenkilometer! „Ja, mag sein. Aber da ist weit und breit kein Haus zu sehen! Und da, da, da vorne sieht man deutlich das Ortsschild! Ha, sag ich doch, das war außerhalb der Ortschaft, und da darf man achtzig fahren!“ Ungläubig starrt der leitende Beamte auf den Monitor, sieht sich den Film nochmal an und nochmal, während der Officer, der Annette gefilmt und der Geschwindigkeitsüberschreitung bezichtigt hatte, immer kleiner wird. „Sie können weiterfahren. Hier handelt es sich um ein bedauerliches Missverständnis. Entschuldigung und gute Fahrt.“ Stramm schlägt der Vorgesetzte seine Hacken zusammen, legt die Hand grüßend an seinen Mützenschild und tritt beiseite, um uns ungehindert aus der Parkbucht fahren zu lassen. Hurtig machen wir uns aus dem Staub und sind richtig froh. Annette, weil sie auf bravouröse Art ihre Unschuld beweisen konnte, der Rest unserer Truppe, weil wir endlich den aufdringlichen Erdnuss- und Honigverkäufern entrinnen können, die uns seit Beginn der Diskussion mit „einzigartigen“ Angeboten penetriert hatten, und wir alle zusammen, weil wir den Anschiss nicht mehr mitbekommen müssen, den der Oberbulle nun wahrscheinlich seinem Video-Beamten verpasst. Mit welcher Begründung auch immer… Entweder war das ein abgekartetes Spiel, man pickt sich generell solvent aussehende Verkehrsteilnehmer heraus und versucht diese, mit dem Argument Videobeweis finanziell über den Tisch zu ziehen. Oder der Filmemacher geht krumme Wege auf eigene Faust. Doch wie dem auch sei: heute wird er eingeseift, entweder für seine Dummheit oder aber für seine unerlaubte Abzocke.
Nun ja, uns soll das egal sein. Hauptsache, wir mussten keine ungerechtfertigte Strafe bezahlen, das Auto macht keine Zicken und wir erreichen möglichst bald unseren heutigen Übernachtungsort, der wirklich in einem extrem entlegenen Winkel Tansanias liegt. Umso erstaunlicher ist die Straße, auf der wir die letzten sechzig, siebzig Kilometer diesem Ziel zustreben. In Lusahunga biegen wir auf der einzig sichtbaren Kreuzung links ab, rollen vorschriftsmäßig langsam aus dem Kaff, das innerorts vorwiegend mit staubigen, von kleinen Schlaglöchern durchsetzten Straßen aufwartet und landen kurz darauf auf einem vorbildlich gepflegten Teerband, das sich nahezu schnurgerade Richtung Norden durch die Landschaft fräst. Mhm, ist die Straße in so gutem Zustand, weil sie wenig befahren und somit geschont wird, oder ist sie neu? Das ist schon irgendwie seltsam: viele Hauptverkehrsachsen in Tansania sind grottenschlecht, strotzen vor Schlaglöchern und der Teerbelag hat sich weitestgehend in Luft aufgelöst. Und ausgerechnet hier, im tansanischen Outback, finden wir so eine Musterstraße vor. Doch nicht nur das ist komisch – die ganze Gegend versprüht eine merkwürdig anmutende Atmosphäre. Lange rollen wir durch eine nahezu menschenleere Landschaft, was einem in Tansania selten widerfährt, dann stoßen wir auf eine Ansiedlung namens Rubondo Village, die so gar nichts Dörfliches an sich hat. In Reih und Glied stehen hier die Häuser, die weniger Gebäuden denn Containern gleichen. Ist das ein Retortendorf, die Wohneinheit einer Garnison oder gar ein Flüchtlingscamp? Wir erblicken nichts, was diese untypische Ansiedlung näher erklären würde, und auch meine Recherchen, die ich später zuhause starte, bringen keine neuen Erkenntnisse.
Blick auf Biharamulo
Im Innenhof der Boma
Wandelgang auf der Mauer
Nur eines wissen wir sicher: es ist nicht besonders anheimelnd hier! Deshalb sind wir froh, als wir Rubondo Village hinter uns gebracht haben und bald darauf in belebtere und damit vertraute Umgebung eintauchen – wir haben Biharamulo erreicht, eine afrikanische Kleinstadt, wie wir sie kennen. Viele Menschen, kleine, windschiefe Hüttchen und gemauerte Häuser mit bunten, aber heruntergekommenen Fassaden. Männer sitzen unter Bäumen und diskutieren über mehr oder weniger wichtige Dinge, Frauen balancieren unterschiedlichste Güter auf dem Kopf und Kinder winken uns freudig erregt hinterher. Alles wirkt völlig normal, doch auch Biharamulo hat mit einer Besonderheit aufzuwarten, die allerdings wesentlich weniger gespenstisch ist, als das Containerdorf Rubondo – ein ehemaliges deutsches Fort. The Old German Boma thront etwas oberhalb der Stadt, hat auch schon bessere Zeiten gesehen, wird aber immer noch genutzt. Das Fort wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von deutschen Schutztruppen erbaut, um das Land Tansania, das damals Deutsch-Ostafrika hieß und Teil des deutschen Protektorats war, vor Fremdzugriffen zu schützen und dauerhaft zu befrieden. Na ja, so zumindest wurde das damals verargumentiert… Dreizehn Jahre nach Fertigstellung des Forts allerdings endete die deutsche Herrschaft, die sogenannte Schutzeinrichtung wurde verlassen und eine wechselvolle Geschichte, die ich leider nicht in allen Einzelheiten nachvollziehen kann, begann. Heute wird die German Boma, die zwar etwas mitgenommen aussieht, aber immer noch vergleichsweise proper dasteht, als Tagungsstätte mit besonderem Charme, als Gästehaus und Campingplatz genutzt. Und auch wir wollen heute hier übernachten. Gespannt rollen wir mit unseren Autos durch das massive Holztor der Boma, melden uns an der Rezeption vorschriftsmäßig an, bauen unsere Zelt im Innenhof auf frisch-grünem Rasen auf und lassen dann das ungewohnte Ambiente zunächst bei einem Ankunftsgetränk auf uns wirken, bevor wir uns anschließend ein bisschen umblicken.
Im Inneren der Boma
Deutsches Siegel
Krächzender Schildrabe
In der Schule war Geschichte nicht gerade mein Lieblingsfach, aber ein historisches Zeitdokument wie diese Boma mit eigenen Augen sehen und ihren Geist in mich aufsaugen zu können, hat schon etwas. Dicke Gemäuer beherbergen großzügige Räumlichkeiten mit knarrenden Holzböden, nahezu feudale Treppenaufgänge führen ins obere Stockwerk, an den Wänden hängen gerahmte Dokumente in deutscher Sprache, der Innenhof ist komplett abgeschottet vom Leben außerhalb der ihn umgebenden Mauern, auf denen ein schmaler Wandelgang, von kleinen Zinnen geschützt, rund um das gesamte Gelände führt. Damals gingen hier Angehörige der Schutztruppen Patrouille, heute kann man da oben einen kleinen Abendspaziergang unternehmen, der durchaus eine malerische, wenn nicht gar romantische Komponente beinhaltet. Eine faszinierende, befremdliche und doch von einem merkwürdigen Geborgenheitsgefühl geprägte Atmosphäre umfängt uns hier. So krächzt ein Schildrabenpärchen auf einer Eckzinne sein unmelodisches Lied in die beginnende Dämmerung, unterstreicht den leicht morbiden Charme dieses Ortes auf bezaubernde Weise, läutet für uns den Abschluss eines Tages ein, der mitnichten ein spektakulärer, aber dennoch ein aufregender und ereignisreicher gewesen ist. Nach einem opulenten Abendessen und entspannten Gesprächen, deren Wiederklang von den historischen Gemäuern dezent, aber hörbar hallend zurückgeworfen wird, begeben wir uns schließlich ins Bett und hoffen, es möge keiner von uns schnarchen, denn auch dieses Geräusch würde, hier im Inneren der Boma, deutlich verstärkt…
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