„Du weißt, dass die eigentlichen Entdeckungsreisen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche bestehen, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen, oder?“, fragt Marcel Proust mit hintergründigem Blick. „Natürlich, mein Lieber!“, entgegnet John Steinbeck lächelnd. „Jede Reise ist wie ein eigenständiges Wesen; keine gleicht der anderen.“ „Genau! Und nur törichte Menschen suchen im Urlaub das große Erlebnis; ein geglückter Urlaub hingegen besteht aus lauter netten Kleinigkeiten!“, gibt nun auch Jennifer Ward ihren Senf dazu. Da kräht es aus dem Off: „Ihr und euer salbungsvolles Gelaber! Ich sag da ja nur: Jeder Mensch braucht dann und wann ein bisschen Wüste! Und jetzt lasst die beiden endlich losfahren, sonst wird das nie was mit dem Reisebericht.“ „Sven Hedin, warum musst du immer so profan sein – und die Sache trotzdem genau auf den Punkt bringen?“ Kopfschüttelnd sehen die Drei den Schweden an. Der freut sich wie ein Schnitzel und dreht sich zu uns um. „Jetzt packt euer Zeug und haut ab. Ihr tut so oder so das Richtige, auch, wenn das nicht jeder versteht. Genießt es und kommt mit vielen neuen Erlebnissen zurück; ich bin gespannt, sie zu hören! Denn wie sagte unser alter Kumpel Matthias Claudius schon anno dunnemals? Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Los, los und nehmt mir den Claudius beim Wort!“
Heinz und ich sehen uns voller Vorfreude an und starten, begleitet von diesem fiktiven Gespräch vierer kluger Köpfe, zu unserer neuen Tour, die uns genau dorthin führen wird, wo wir im letzten südafrikanischen Herbst auch schon waren – in die Sukkulenten-Karoo. Heuer jedoch besuchen wir diese Region zu einer ganz anderen Jahreszeit – im Frühling der südlichen Hemisphäre – und das macht diese Reise besonders spannend. Wie immer werden wir dabei natürlich mit unseren Freunden Annette und Jochen losziehen. Die Zwei sind ebenso afrikaverrückt wie wir, stehen zwar mehr auf Großwild, lieben aber auch Pflanzen. Und die Liebe zur Natur, zum schwarzen Kontinent und den „netten Kleinigkeiten“, die man Tag für Tag entdecken kann, teilen wir gleichermaßen. Da weiß man, was man hat – das perfekte Reiseteam! „Na, na, na!? Es gibt kein sichereres Mittel festzustellen, ob man einen Menschen mag oder nicht, als mit ihm auf Reisen zu gehen!“, so piesackt uns Mark Twain, das kleine Flüsterteufelchen, jedoch seit Wochen. „Annette und Jochen kennt ihr schon lange, gut, geschenkt. Aber vergesst mir die Ute nicht!“ Ja, Mark hat leider recht, denn besagte Ute, die sich in letzter Minute in unsere Tour eingeklinkt hatte, ist tatsächlich unsere einzige und größte Sorge. Wir kennen sie nicht, sie kennt uns nicht. Das allein würde uns eigentlich wenig bekümmern, schließlich sind wir durchaus gesellschaftskompatibel. Viel mehr ist es jedoch der Zweck, das recht spezielle Wesen unserer Reise, die sich so sehr auf unser Steckenpferd, die Sukkulenten konzentriert. Für uns sind diese Bodenschätzchen wunderschön, hoch interessant und zutiefst aufregend. Klassische Safaritouristen hingegen fühlen sich in der Regel sehr schnell gelangweilt, wollen Wildlife, große Tiere, Jagdszenen, Action. Etwas, was auf unserer Tour in dieser Form nicht zu erwarten ist. Und davor haben Heinz und ich Angst: ein uns unbekannter Mensch mit an Bord, ein Mensch, der nach ein paar Stunden oder Tagen gelangweilt oder enttäuscht ist, ein Mensch, der uns mit seiner Erwartungshaltung unter Druck setzt und uns so die Reise verleidet. Annette hat zwar vorgesorgt und Ute deutlich auf den ungewöhnlichen Charakter unserer Tour hingewiesen. Doch Ute akzepierte das und blieb dabei: sie kommt mit. So also fliegen Heinz und ich am 26. September, einem kühlen Freitag, aus München los, voller Vorfreude und zuversichtlich, haben aber auch ein gutes Quäntchen an Bedenken und Zweifeln mit im Gepäck. Diese Sorgen jedoch haben wir ganz zu unterst in die Taschen geschlichtet und warten nun gespannt und, soweit möglich, vorurteilsfrei auf ein Kennenlernen mit Ute, das nun nicht mehr fern ist. Nach einem völlig unspektakulären Flug mit der BA kommen wir schließlich am nächsten Tag in Kapstadt an, wo uns Annette freudestrahlend vom Flughafen abholt. Schnell ist all unser Gepäck im Auto verstaut und wir machen uns auf den Weg nach Hout Bay, wo wir die nächsten zwei Nächte in einem kleinen privaten Bungalow der Kairos Lodge verbringen werden – das Oatlands wollten wir uns nach den Erfahrungen der letzten Tour nicht mehr antun… Bevor wir allerdings unser Quartier in Augenschein nehmen können, müssen wir es erst mal finden. Jochen, der noch anderweitig unterwegs ist, hat Annette genau aufgeschrieben, wie sie vom Flughafen dort hin kommt – männergenau. In diesen Notizen aber fehlen leider ein paar wichtige Turns, sodass wir, ganz auf Jochens Beschreibung vertrauend, schließlich doch völlig falsch abbiegen und, um wieder rauszufinden, eine unfreiwillige Sightseeingtour absolvieren. Heinz und ich haben kein Problem damit, ein wenig durch Kapstadt zu kurven, doch Annette, die das Auto steuert, flucht und schimpft. Wir beschließen deshalb, Jochens Wegbeschreibung einfach ad acta zu legen und uns auf diverse Wegweiser und unsere bescheidenen Ortskenntnisse zu verlassen. Und siehste, schon sind wir auf dem richtigen Weg. Trotz dieser kleinen Irrfahrt durch Kapstadt – die wir Jochen natürlich verschweigen – kommen wir am frühen Nachmittag zielsicher an, fast so, als wären wir Einheimische.
Hui, ist das schön hier! Ein kleines, recht privat wirkendes Anwesen, ein paar Hunde, Sonnenschein, üppig blühende Leucospermum-Büsche, zahlreiche Nektarvögel, ein urgemütlicher Bungalow – und Jochen heißen uns willkommen. Voller Freude begrüßen, umarmen wir uns, richten uns ein und lassen dann den Urlaub beginnen; in dieser sehr heimeligen Unterkunft, bei einem Empfangsgetränk auf der hölzernen Terrasse, von der aus man einen wunderschönen Blick auf die Berge des Kaplands und den gepflegten Garten des Anwesens hat. Schneck, wir sind da, wir haben Urlaub!
Gerade prosten wir uns alle zu, als Ute über die Holztreppe zu uns heraufgespurtet kommt – und ich finde sie sofort sympathisch. Natürlich sind die ersten Minuten unserer Bekanntschaft noch etwas verhalten, abtastend, aber nach einer Weile lockert sich die Stimmung sichtlich. Ganz besonders, als Ute, vom Klo kommend und ich, zum Klo gehend, uns begegnen und sie mich anspricht – auf ihre Bedenken hinsichtlich dieser Tour. Frei von der Leber weg schildert sie ihre Sorgen, die sich eher im persönlichen, denn im routentechnischen Bereich bewegen: zwei alte Freunde von Annette und Jochen (also Heinz und ich), zwei pflanzenverrückte Platzhirschen, wir Vier als soziale Einheit, sie als quasi „Fremde“, als Fremdkörper, als fünftes Rad am Wagen. Im Gegenzug schütte nun ich ihr, begeistert von ihrer Offenheit, mein Herz aus und alles ist im Lot. Wir müssen uns keine Sorgen machen, wir verstehen uns und, das Wichtigste, wir sind beide Freunde klarer und klärender Worte – eine hervorragende Basis für unsere gemeinsame Zeit in Südafrika!
Und um das in der Praxis auszutesten, haben wir nun gleich eine erste Gelegenheit: nicht weit von unserer Unterkunft entfernt liegt nämlich die „World of Birds“, ein riesiger Vogelpark, der zu den größeren Sehenswürdigkeiten Hout Bays, ja, sogar Kapstadts zählen soll. Heinz und ich wollten da gerne hin, allerdings, und das macht mich etwas sauer, haben wir uns mal wieder total vertrödelt: um 17 Uhr macht der Park zu und, als wir losmarschieren, ist es bereits halb vier. Deshalb nehmen wir den kürzesten Weg, der in nördlicher Richtung über den Disa River führt. Dort gibt es keine Brücke, aber die Einheimischen – so sagt zumindest unser Gastgeber vom Kairos – gehen immer an dieser Furt über die Felsen. Nach zehn Minuten Fußmarsch stehen wir tatsächlich an besagter Furt, die so seicht gar nicht ist. Ein paar algenschleimige Unterwassersteine und diverse Trockenfelsen, die, um von einem zum anderen zu kommen, spagatartige Hüpfer erfordern, bilden den Weg über den munter gluckernden Fluss. Ute nimmt die Hürde, ohne mit der Wimper zu zucken, unsere Männer hechten hinterher – Heinz hilft mir dabei gentlemanlike über die Felsen – und alle sind drüben, allein Annette panikt ein wenig. Heinz und Jochen reden ihr gut zu, leisten jede erdenkliche Hilfestellung und schließlich hat auch Annette die Flussüberquerung trockenen Fußes und heilen Leibes hinter sich gebracht. Wir robben die Böschung nach oben und erreichen, eine Stunde vor Schließung des Vogelparks, dessen Eingang. Na, das lohnt sich ja richtig! Im Eiltempo zahlen wir Eintritt und sausen los, um wenigstens ein bisschen was zu sehen.
Doch bereits nach der Besichtigung der ersten Volieren bin ich über unser knappes Zeitfenster gar nicht mehr so traurig, denn die World of Birds hält nicht, was sie versprochen hatte – zumindest in meinen Augen. Im Internet hatte alles so gut geklungen: über 3.000 Vögel und andere Kleintiere, einzigartig präsentiert in mehr als hundert naturnah gestalteten, teilweise begehbaren Volieren, die sich auf einer Fläche von über vier Hektar verteilen. Die reinen Zahlen möchte ich nicht anzweifeln, doch die „Präsentation“ der Tiere lässt durchaus zu wünschen übrig. Naturnah ist hier gar nix! Die Volieren sind zusammengenagelte Hasengitter-Verschläge, dekoriert mit abgenagten, entlaubten Ästen, zerschlissenen Kletterseilen und anscheinend unvermeidlichen Zierelementen wie pseudoantiken Amphoren und lieblos gepflegten Pflanzgefäßen; die Vögel, gerade die größeren, haben viel zu wenig Platz zum Fliegen, und alles in allem wirkt die Anlage doch recht traurig. Ich will niemandem Unrecht tun: man erkennt schon, dass sich hier „gekümmert“ wird, dass ein Möglichstes getan wird, um den Tieren ein gutes Umfeld zu bieten, doch ich hatte mir das Ganze dennoch deutlich schöner und großzügiger vorgestellt. Gerade, weil sich die World of Birds als größter Vogelpark Afrikas anpreist, dessen Motto besser nicht klingen könnte: „Indem wir Wildtiere in die Stadt gebracht haben und damit Menschen und Tiere einander näherbringen, fördern wir den Respekt und das Verständnis für die Natur. So kann die Wertschätzung für Gottes wunderbare Schöpfungen in ihrer Vielfältigkeit von allen geteilt werden.“ Hehre Ziele, mangelhafte Umsetzung, würde ich da mal sagen. Vielleicht aber doch nicht so mangelhaft, wenn man die zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur in Betracht zieht – da kann es nicht schaden, einen Vogel mal „in echt“ zu sehen und ihn später, „in echt-echt“, wiederzuerkennen… Mein Ding war es, so oder so gesehen, aber trotzdem nicht – trotz der unleugbar hübschen Vogelfotos, die wir innerhalb der knappen Besuchsstunde geschossen haben – unseren, die Gitter wegsoftenden Zooms sei Dank!
Nun aber werden wir aus dem Park hinauskomplimentiert, Besuchsende ist eben Besuchsende, und, weil in der vergangenen Stunde jeder da unterwegs war, wo es ihm eben interessant erschien, treffen wir am Ausgang erstmals wieder zusammen. Dort stellen wir fest, dass sich unser aller Begeisterung für die „World of Birds“ in Grenzen hält und somit keiner über die Kürze des Besuchs traurig ist. Darüber sind wir uns einig – nicht aber über den Rückweg zum Kairos. Annette fand die Flussquerung so schrecklich, dass sie gerne über die reguläre Brücke gehen möchte – was wir anderen so gar nicht einsehen, schließlich bedeutet das einen Umweg von mehreren Kilometern, einen Umweg entlang stark befahrener, todlangweiliger Teerstraßen. Ne, nicht mit uns, wir streiken! Notgedrungen und nur sehr ungern fügt sich Annette der Mehrheit. Doch mit der Hilfe von Heinz und Jochen schafft auch sie es abermals heil über den Disa River und eine viertel Stunde später sind wir zurück im Kairos, wo wir einen gemütlichen Abend einläuten. Ein bisschen Sundowner trinken, Zeitung lesen, im Internet surfen, von der Terrasse starren und ratschen.
Zwischendurch verschwinde ich allerdings kurz im Schlafzimmer, um mich endlich mal umzuziehen und mein Gepäck zu inspizieren. Selbiges war mir am Flughafen, als es vom Rollband kam, irgendwie „anders“ vorgekommen: es sah zwar völlig intakt und auch unberührt aus, aber dennoch war da etwas, etwas Unbenennbares, was meine Alarmglocken schrillen ließ. Als ich es jetzt öffne, d. h. die mehrfache Klebeband-Umwicklung entferne, das TSA-Schloss aufsperre und den Reißverschluss aufziehe, manifestieren sich meine diffusen Ahnungen – da war jemand dran! Ganz obenauf nämlich liegt ein Zettel vom deutschen Zoll in München, auf dem mir kundgetan wird, dass meine Reisetasche aus amtlichen Gründen geöffnet und Gefahrengut in Form von zehn Feuerzeugen konfisziert wurde. Spinnen die? Acht Feuerzeuge steckten in der offen zugänglichen Seitentasche und nur zwei davon in meiner im Gepäck befindlichen Waschtasche. Und jedes Jahr packe ich eine größere Anzahl von Feuerzeugen ein, denn wir machen ja Campingurlaub und brauchen die Teile, die leider alle naslang Beine kriegen, permanent. Noch nie hat das den Zoll gestört! Diesmal aber schon. Bei der Durchsuchung wurde das Oberste äußerst uncharmant zuunterst gekehrt, das „Gefahrengut“ entnommen, der Zettel beigelegt und die Tasche danach gewissenhaft wieder verschlossen – und zwar so, dass alles nahezu unverändert erschien. Auf der einen Seite ja löblich, aber trotzdem: warum? Robbe ich etwa während des Fluges in den Frachtraum und sprenge anschließend die Maschine mit Hilfe von zehn popeligen Feuerzeugen noch höher in die Luft oder setze sie in Brand, fünf der gefährlichen Flammenwerfer in jeder Hand? Hände hoch, ich brenn euch alle nieder!?
Ach, egal! Kopfschüttelnd nehme ich den Verlust zur Kenntnis, lege ihn ad acta, werfe mich in frische Klamotten und begebe mich wieder auf die Terrasse, um mit meiner „Crew“ dem Sonnenuntergang beizuwohnen. Der ist, weil er auf der anderen Seite des Hauses stattfindet, natürlich wenig spektakulär, dafür aber wird es schnell zapfig kalt und wir ziehen uns ins Innere unserer Behausung zurück, wo wir uns der Zubereitung des Abendessens und der Besprechung der Pläne für morgen widmen. Wobei es nicht viel zu besprechen gibt: Ute hat eine Township-Tour gebucht und wird sich in aller Frühe auf eigene Faust mit dem öffentlichen Bus auf den Weg zum Sammelpunkt machen, während wir Vier dem Botanischen Garten von Kirstenbosch einen Besuch abstatten wollen. Alles klar, oder? Entspannt und voller Vorfreude also genießen wir unser Abendessen, schwatzen noch ein wenig und begeben uns dann in unsere Schlafgemächer. Heinz und ich, rechtschaffen müde von der Anreise, kuscheln uns wohlig in unser luxuriöses Doppelbett, lassen die vergangenen Stunden revue passieren, plaudern kurz über unsere positiven Eindrücke bezüglich der „Gruppendynamik“ und schlafen schließlich zufrieden und erschöpft ein – einem neuen Tag, drei kommenden Wochen entgegen, die gut zu werden versprechen.
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