Sechs Uhr und unsere Nacht ist vorbei, schließlich warten der verflixte Berg und tausendundein Schlagloch auf uns. Trotz des frühen Aufstehens gelingt es uns, Annettes Geburtstag stilvoll zu begehen. Noch etwas verschlafen decken wir den Tisch mit unserem Prachtkuchen und einem Windlicht in Form einer Kerze in einer abgeschnittenen Plastikflasche. Der Kuchen ist wirklich sehr süß und sehr fettig, aber er schmeckt dennoch hervorragend. Nach dem feierlichen Frühstück packen wir in Rekordgeschwindigkeit unsere Sachen zusammen, um halb acht sind wir mit einem etwas mulmigen Gefühl abreisefertig.
Bevor wir uns jedoch der Herausforderung Bergstrecke stellen, heißt es erst das Dorf zu durchqueren. Bei Tageslicht wirkt alles gleich viel freundlicher, aber man sieht auch deutlich, dass wir uns den katastrophalen Zustand der „Straße“ nicht nur eingebildet haben. Wir quälen uns über scharfkantige Felsbrocken, umfahren tiefe Rinnen und Löcher und gelangen schließlich an die marode Brücke. Was in der Dunkelheit mit Hängen und Würgen auf Anhieb gelang, will heute nicht so recht glücken. Wenig vertrauenerweckende Bohlen, die lose und mit großen Zwischenräumen auf der wackeligen Konstruktion liegen, geben den Blick nach unten ins Bachbett frei. Es gestaltet sich extrem schwierig, so auf die Brücke zu fahren, dass alle 4 Reifen Bodenkontakt behalten. Beim Auffahren muss man zudem noch aufpassen, dass die unbefestigten Balken und Stämme nicht nach oben schnellen. Mehrmals versuchen wir, den richtigen Winkel, den richtigen Weg zu finden, aber es gelingt nicht. Ein paar junge Männer aus dem Dorf eilen uns zu Hilfe. Zu sechst füllen sie rasch die größten Lücken mit Steinen und stellen sich als Gegengewichte auf das tückische Holz. Und tatsächlich, mit vereinten Kräften schaffen wir es, die Brücke ohne Schaden zu überqueren.
Wir bedanken uns herzlich und rumpeln noch weitere zwei Kilometer durch das Dorf, das kein Ende zu nehmen scheint. Für die Dorfbewohner sind wir mit unserem Auto DAS Jahresevent; überall wird gewunken und geschreien, Kinder laufen in Scharen neben dem Landy her. Wir müssen höllisch acht geben, keines der wuselnden Kids zu überfahren und zudem noch unser Heck im Auge behalten, denn wieder mal würden die Jungs zu gerne aufspringen und ein Stück mitfahren. Nach einer halben Stunde ist es endlich geschafft: wir lassen das Dorf hinter uns, beginnen den Aufstieg. Nach ein paar hundert Metern halten wir an, zum einen, weil wir in Ruhe eine bestimmte Pflanze begutachten wollen, die uns bei der nächtlichen Abfahrt schon aufgefallen ist. Es sind relativ unscheinbare Büsche mit länglichen, fast oleanderartigen Blättern, die sehr augenfällige Früchte tragen: sie sind ca. 4-7 cm groß, kugelrund und gefleckt wie Vogeleier. In keinem unserer Bücher haben wir Vergleichbares gefunden und bis heute, Monate später also, ist es mir nicht gelungen, das seltsame Gewächs zu bestimmen. Anfragen in Expertenforen, bei botanischen Gärten und Fachautoren haben keine verwertbaren Ergebnisse geliefert, doch diverse Indizien deuten darauf hin, es könnte sich um eine Strychnos-Art mit sehr lokal begrenztem Verbreitungsgebiet handeln, was auch erklären würde, dass keine Dokumentationen zu finden sind. Ich werde auf jeden Fall nicht locker lassen und das Rätsel doch noch eines Tages lösen!
Der andere Grund unseres Haltens ist, mal wieder, der saumäßige Zustand der Piste. Annette, Jürg und ich steigen aus, laufen vor dem Auto her und füllen die schlimmsten, tiefsten Rillen mit Felsbrocken, die wir von überall herbei schleppen. Immer wieder muß Jürg Joachim über besonders kniffelige Stellen lotsen, während Annette und ich vorausrennen und versuchen, die Strecke einigermaßen befahrbar zu machen. So geht das über Kilometer. Es ist schweißtreibend, anstrengend, aber man hat immer wieder phantastische Ausblicke runter auf den See und die Arbeit beschert uns endlich mal wieder ausreichend Bewegung, die in solchen Urlauben meist etwas zu kurz kommt. Nach einer guten Stunde und ein paar hundert Höhenmetern haben wir das schlimmste Stück hinter uns und dürfen alle wieder einsteigen. Jetzt, bei Tageslicht und da wir einen großen Teil zu Fuß gelaufen sind, konnten wir sehen, wie heftig die Strecke wirklich ist, wie viel Glück wir hatten, dass bei unserer Nacht-Fahrt nicht mehr passiert ist! Zwei Stunden und 40 Minuten nach unserer Abfahrt aus Isanga Bay erreichen wir die Abzweigung zu den Kalambo Falls, die Höllenstrecke ist geschafft. Wir genießen die gut befahrbare Staubstraße bis Mbala, wo wir auf die M1 abbiegen und von den altbekannten Schlaglöchern empfangen werden. Über 160 km bröckelnden Teerbelags und badewannentiefer Löcher bringen wir hinter uns, bis wir gegen 13.30 Uhr endlich in Kasama ankommen.
Die Zivilisation hat uns wieder und wir nutzen die Gelegenheit, unsere recht spärlich gewordenen Vorräte im gut sortierten Supermarkt aufzufüllen. Während Annette beim Einkaufen ist und Joachim das Auto bewacht, versuchen Jürg und ich eine neue 100.000-Kwacha-Prepaid-Karte zu erstehen. Zahlreiche Top-Up-Here-Schilder von Celtel versprechen eine rasche Erledigung unseres Vorhabens, doch die Realität sieht etwas anders aus. Keiner der kleinen Läden hat eine derart teure Karte, alles, was man uns anbieten kann, sind 10 Karten zu je 10.000 Kwacha. Das aber wollen wir nicht, denn es würde bedeuten, zehn Mal eine ellenlange Nummer eintippen zu müssen, um das erstandene Guthaben zu aktivieren. Wir sausen durch die halbe Stadt, bis wir endlich in einem großen Celtel-Shop die gewünschte Karte bekommen. Eilig machen wir uns auf den Rückweg, denn Annette, so denken wir, ist sicher schon fertig mit den Einkäufen. Doch sie ist weit und breit nicht zu entdecken. Jürg geht in den Supermarkt, um nach dem Rechten zu sehen, Joachim will noch Zigaretten besorgen, also übernehme ich die Bewachung des Autos.
Auf nahezu jedem nicht offiziell bewachten Supermarkt-Parkplatz Sambias treiben sich sogenannte Mashenga-Boys herum. In der Regel sind das kleinere bis halbwüchsige Jungs, die sich gegen Bezahlung um die Bewachung der abgestellten Autos „kümmern“. Hat man nicht die Möglichkeit, selbst beim Auto zu bleiben, empfiehlt es sich durchaus, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, denn tut man dies nicht, kann es sehr leicht passieren, dass sich die selbsternannten Wächter aus Rache am Auto zu schaffen machen, es beschädigen oder gar aufbrechen. Eigentlich will man so etwas nicht wirklich unterstützen, zudem die Mashengas auch noch recht mafiös strukuriert sind – alle Mitglieder der Gruppe müssen Teile der Einnahmen an den Anführer abgeben; je niedriger sie in der Gruppenhierarchie stehen, desto höher ist der Anteil. Bis jetzt hatten wir mit derartigen Jungs noch keine Probleme. Sie akzeptierten unsere Eigenbewachung, ohne uns groß zu behelligen. Heute allerdings ist das anders. Während sich einige Mashengas um einfahrende Neukundschaft kümmern, lungern die anderen wie Kletten um unser Auto und betteln mich ständig an. Alle Maschen werden durchprobiert; von der unverhohlenen Drohung bis hin zur Mitleidsnummer. Meistens hilft in solchen Situationen, sie einfach nicht zu beachten, durch sie hindurch zu sehen. Nicht aber hier. Als der erste Knabe anfängt, an meinen Klamotten rumzuzupfen, werde ich sauer und besinne mich auf die meist durchschlagende Wirkung meines bayerischen Dialektes. Mit ruhiger, aber drohender Stimme und festem Augenkontakt rede ich ohne Punkt und Komma auf den größten der Boys ein, reihe zusammenhanglose Wörter aneinander, die möglichst viele rollende R, schneidene Z und zischelnde S enthalten. „Ja du Dregschboz du Malefiz-Krischberl du Zwetschgnmanschgal wos glabst’n du werst bist Kraizbianbaamhollastaun Sacklzementnoamoi surrst wia a Zipfegladscha um mi rum soi di da Schbarifanggal hoin du oide Zwidawurzn!“ So in dem Stil; übersetzen kann man das nicht wirklich, deshalb lasse ich es.
Aber es funktioniert; zwei Minuten später haben sich die Jungs vertrollt und belästigen andere Leute. Nur einer kleinerer ist geblieben, der die Waisen-Mitleidsmasche abzieht. Mit hündischen Augen sieht er mich an, hält die Hand auf und haucht: „No mother, no father. Please, Madam…“. Ganz freundlich beuge ich mich zu ihm hinunter und vertraue ihm mit schmerzgebeutelter Stimme mein Geheimnis an – „No brother, no sister!“ – und deute dabei auf mich. Diese Aussage bringt ihn derart aus dem Konzept, dass er seine Bettelei aufgibt und sich aus dem Staub macht. Sicher nicht, weil er Mitleid mit mir bekommen hat, sondern eher, weil ihm die irre Weiße nicht ganz geheuer ist. Als Joachim vom Zigarettenkaufen zurück kommt, ist unser Parkplatz Mashenga-freie Zone.
Einige Minuten später fährt ein auf Hochglanz polierter, silberner Bonzen-Toyota in die Parklücke neben uns. Am Steuer sitzt ein jüngerer Mann, der mit einer recht farbenfrohen Chauffeurs-Uniform bekleidet ist, neben ihm ein Anzugträger, der schwer nach Bodyguard aussieht, im Fond des Wagens ein älterer, sehr feister, gepflegt und teuer gekleideter Herr, neben ihm eine halb so alte Dame, die recht nuttig daherkommt. Alle vier Insassen sind Schwarze. Der Feiste sieht aus dem Fenster, taxiert den Abstand zu unserem Auto und faltet erst mal den Chauffeur zusammen. Bevor der aber reagieren kann, öffnet Feisti schon die Tür und quetscht sich pikiert durch den seiner Meinung nach unzumutbar engen Spalt. Auf der anderen Seite steigt die aufgebretzelte Lady aus und gemeinsam stolzieren die beiden hoch erhobener Häupter in den Supermarkt, gefolgt vom Bodyguard. Beflissen nutzt der Chauffeur die Gelegenheit und versucht, seinen Lapsus wieder gut zu machen, indem er das Auto so umparkt, dass nun rings herum mehrere Meter Platz sind. Jetzt können wir das Kennzeichen sehen: GRZ steht da zu lesen, das Kürzel für „Government of the Republic of Zambia“ – ein Regierungsfuzzi also. Eine Viertelstunde schreiten die vornehmen Herrschaften gemessenen Schrittes wieder aus dem schnöden Konsumtempel, der Bodyguard schleppt mehrere Tüten hinterher. Annette und Jürg übrigens sind immer noch nicht aufgetaucht; den beiden ist eben keine Sonderbehandlung zuteil geworden.
Bevor Sir und Madame Government wieder in ihre Limousine steigen, geschieht etwas, was Joachim und mich fassungslos macht. Feisti zückt ein dickes Bündel 50-Kwacha-Scheine, winkt befehlend einen der Mashengas herbei, händigt ihm mit spitzen Fingern das Geld aus. Hinter ihm macht Madame ihr Handy filmbereit und die beiden warten auf das Unvermeidliche. Der Mashenga entfernt sich dienernd und kaum ist er drei Meter vom generösen Wohltäter weg, fallen die anderen über ihn her. Sie prügeln sich, jagen sich gegenseitig schreiend über den Parkplatz, jeder versucht, möglichst viel Geld zu ergattern. Feisti sieht angewidert zu, seine Tussi filmt das Ganze genüßlich. Als sie genug gesehen haben, steigen Herr und Frau Menschenverachter wieder in ihren Schlitten und lassen sich zu ihrem nächsten Ziel kutschieren. Wir können kaum glauben, was wir gerade gesehen haben und schütteln immer noch ungläubig unsere Köpfe, als Annette und Jürg endlich zurück kommen.
Es ist 15.00 Uhr, als der üppige Einkauf bis zur letzten Tomate im Landy verstaut ist und Joachim und ich bringen ein Thema zur Diskussion, über das wir vorher schon gesprochen hatten: Wie wäre es, wenn wir noch weiterführen, schließlich sei es noch relativ früh, die Strecke bis Mutinondo noch weit und der Tag ohnehin schon zum Fahrtag deklariert worden. Je weiter wir heute kämen, desto streßfreier würde es morgen. Als machbare Ziele mit Übernachtungsmöglichkeit böten sich Mpika oder Kapishya Hot Springs an. Wir alle, auch unser Geburtstagskind Annette, halten das für eine gute Idee und entscheiden uns für Kapishya, nicht nur wegen der heißen Quellen, sondern auch, weil das Ressort Mark Harvey gehört, der uns vielleicht endlich die ersehnte Info über die Befahrbarkeit der Escarpment Road geben kann.
Also machen wir uns auf den Weg. Nach Kasama ist die Great Old North Road in gutem Zustand und wir kommen rasch voran. Die Strecke führt zunächst bergab, steigt dann stetig wieder an und führt an vielen kleiner Dörfchen vorbei. Es sind gewohnte Bilder, die da an unseren Fenstern vorbei ziehen. Fußgänger, Radfahrer, weite, baumbestandene Landschaft. Nur eine Sache, die uns schon seit Mbala aufgefallen ist, wird immer augenfälliger. In jedem Dorf steht mindestens ein offensichtlich frisch gestrichenes Haus, dessen Anblick fast in den Augen schmerzt, so leuchten das grelle Pink und krachige Türkis in der Sonne. Kleine Restaurants, Grocery-Stores, Garküchen, Reparaturwerkstätten, aber auch Privathäuser sind derart schrill bemalt. Wir rätseln, ob wohl ein Großposten dieser eigenwilligen Farben zur Zeit gerade besonders günstig vertickt wird oder ob es sich um Modefarben handelt. Doch wir kommen nicht wirklich dahinter. Jetzt, da ich schon wieder über 3 Monate in Deutschland bin, weiß ich, was es damit auf sich hat. Vor einigen Tagen habe ich ein E-Mail von Ute, meiner Freundin aus Tansania erhalten. Wie in Sambia gibt es auch in Tansania einen Mobilfunkanbieter namens Celtel. Der Inhaber von Celtel hat sich vor einiger Zeit aus dem Geschäft verabschiedet und seine Firma an einen arabischen Scheich verkauft. Als Scheich gibt man sich nicht mit halben oder gar gebrauchten Sachen zufrieden, also wurde die etablierte Company Celtel generalüberholt, mit höheren Tarifen ausgestattet und natürlich mit einer neuen Corporate Identity nebst geändertem Namen versehen. Eine der Lieblingsgattinnen des guten Scheichs heißt Zainabu und ihr zu Ehren nannte er seine neue Firma „Zain“, ein Schriftzug, der uns in den vergangen Wochen auch schon mehrfach aufgefallen war. Die neuen Firmenfarben Zains sind, wen wundert es, Türkis und Pink (vielleicht der Gattin bevorzugte Farbtöne…). Damit auch jeder mitkriegt, dass sich hier was geändert hat, um die Omnipräsenz und Allmacht seiner Neuerwerbung zu untermauern, wurden in Tansania abertausende von Häusern „eingezaint“ und schrillen seitdem farblich demonstrativ vor sich hin. Naheliegend, dass Celtel Zambia wohl auch dem Scheich anheim gefallen ist. Danke Ute, dass du dieses Rätsel gelöst hast!
Nach etwas mehr als 120 km erreichen wir die Abzweigung nach Kapishya Hot Springs. Jetzt sind es noch 40 km Staubstraße und wir alle sind froh, wenn wir diesen Fahrtag endlich hinter uns gebracht haben. Mit dem letzten Restlicht kommen wir an. Annette hat schon seit zwei Stunden kein Wort mehr gesagt und macht einen ganz unglücklichen Eindruck. Ihren Geburtstag hat sie sich wohl doch ein bisschen anders vorgestellt. Ihren Lieben zuhause hatte sie mitgeteilt, sie wäre heute Abend zu erreichen und hätte sich so gefreut, ein paar Glückwünsche entgegen zu nehmen. Als wir in Kasama waren und Empfang hatten, rief natürlich niemand an, und jetzt, da wir wieder fernab jeglicher Sendemasten sind, ist der Empfang futsch. Hinzu kommt, dass sie seit Wochen dringend einige Dinge telefonisch regeln müßte, aber entweder niemanden erreicht oder eben keinen Empfang hatte. Sie ist völlig verzweifelt. Ihre letzte Hoffnung, wenigstens von Kapishya aus telefonieren oder ein E-Mail schicken zu können, wird von einer recht unfreundlichen und sehr unterkühlten Mrs. Harvey zunichte gemacht. Sie, Annette könne ja ein paar Kilometer Richtung Shiwa Ngandu fahren, dort wäre neben der Straße eine Art hölzerner Plattform, von der aus man eventuell Empfang hätte. Punkt.
Wir fahren zur Campsite, laden unser Zeug ab und während Jürg und ich das Lager aufbauen, versuchen Annette und Joachim ihr Glück. Nach einer Stunde kommen die beiden zurück; egal, wie sie sich drehten und wendeten, es erschien nicht mal ein einziger Netz-Balken auf dem Display. Die Stimmung ist am Tiefpunkt, wir alle sind erschöpft. Jürg und ich zaubern noch ein schnelles Abendessen, danach gehen wir zeitig zu Bett und freuen uns, dass morgen ein neuer Tag mit weniger Fahrerei vor uns liegt.
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