18. Oktober 2018; Walk im Analamazaotra Nationalpark

Holla, die dicke Decke auf unserem Bett war durchaus angebracht! Es war wirklich kühl in der vergangenen Nacht und die dünnen Wände des Holzbungalows sind eben nicht dazu angetan, die Wärme des Tages zu speichern. So haben wir uns die ganze Nacht unter unsere tonnenschwere Decke gekuschelt und uns geborgen wie in einer Bärenhöhle gefühlt. Jetzt schälen wir uns allerdings aus dem gemütlichen Bett, das in der Mitte ziemlich durchhängt und uns somit das Aufstehen noch schwerer fallen lässt, packen unser Zeug und machen uns auf den Weg zum Frühstück. Auch das erste Mahl des Tages kann sich hier sehen lassen und ist um Klassen besser als im Kirindy.

Ein Morgen der Überraschungen

Gut gestärkt treffen wir anschließend unsere beiden Jungs beim Auto und kutschieren den kurzen Weg zum Analamazaotra Nationalpark, wo eine Überraschung auf uns wartet: Unser Guide ist eine Frau! Damit hatten wir nicht gerechnet und freuen uns nun umso mehr. Sahouli ist eine kleine, kompakte Mittvierzigerin und geht etwas verhalten auf uns zu. Ob Sie eine negative Reaktion unsererseits befürchtet oder einfach nur ein wenig zurückhaltend ist? Na ja, werden sehen.

Gespannt entern wir den Park. Als wir gerade um das Nationalparkgebäude herumgehen, nimmt mich Fitah unauffällig beiseite. „Ich wollte dir nur sagen, dass wir für Heinz’ morgigen Geburtstag eine kleine Überraschung vorbereitet haben.”, flüstert er und hält sich verschwörerisch den Zeigefinger vor den Mund. „Was habt ihr beide denn da zu tuscheln?“ „Tuscheln? Wir? Nein, ich habe Fitah nur gesagt, dass ich es toll finde, dass wir eine Frau als Guide haben, und er meinte, sie sei eine der besten ihrer Zunft.“ „Ach so, na dann…“ Verstohlen grinse ich vor mich hin und freue mich, dass unsere Jungs so aufmerksam sind. „Warum grinst du so, Schneck?“, fragt Heinz, noch nicht ganz von meiner Ausrede überzeugt. „Weil ich mich auf den Tag freue und Sahouli den ersten Frosch für uns gespottet hat. Ich will doch unbedingt ganz viele Frösche sehen!“ Und ich lüge nicht, denn Sahouli hat tatsächlich ein Fröschlein für uns aufgetan, ein winziges Tierchen mit goldenen Augen, das sich in den feuchten Blattachseln eines Pandanus verbirgt. Wir gehen weiter und bald kommt uns eine Horde Brauner Makis entgegen. Sie turnen in den Bäumen und stolzieren mit erhobenen Schwänzchen an uns vorbei, als Heinz plötzlich nach oben deutet. „Ein Chamäleon!“ Sahouli reckt den Kopf und staunt. „Du hast aber scharfe Augen! Das hab ja nicht mal ich gesehen!“ „Ja, da wirst du staunen, was die beiden alles sehen und kennen. Das sind richtige Experten!“, stößt Fitah stolz hervor und Mamy nickt gewichtig dazu. Ach, ist das süß, die Jungs sind tatsächlich stolz auf „ihre“ Touris! Offenbar haben die Tage im Kirindy großen Eindruck auf sie gemacht und ihr Vertrauen in unser Wissen scheint grenzenlos zu sein. Sahouli jedoch will sich offenbar ein eigenes Bild davon machen und neigt nur leicht ihren Kopf. Dennoch gibt sie ab jetzt etwas mehr Gas, was Erklärungen anbelangt und weist uns auch auf Tiere und Pflanzen hin, die eher unscheinbarer sind – hier eine Orchidee, dort ein Insekt, da eine blühende Liane.

Wir wandern durch den grünen, dichten Wald und genießen den Gegensatz zum Kirindy, der uns ja trotz seiner Trockenheit ausnehmend gut gefallen hatte. Und wir wollen ihn auch beileibe nicht schlecht machen, im Gegenteil, doch das hier entspricht eben mehr den Bildern, die man bei tropischem Wald, Urwald oder Dschungel im Kopf hat. Es ist so grün, so üppig, so feucht, man hört völlig andere Geräusche und Flora und Fauna sind irgendwie bunter. Mal sehen, ob auch die Artenvielfalt mit der des Kirindy mithalten kann.

Bald nach unserer Chamäleonsichtung winkt uns Sahouli neben einem kleinen Bachlauf ins Gebüsch. „Eine Eule! Seid möglichst leise, damit wir sie nicht aufschrecken.“ Vorsichtig hangeln wir uns einen schlammigen Abhang hinab und erhalten so einen ersten Vorgeschmack auf die hügelige Geländeform und den rutschigen Boden im Analamazaotra Nationalpark. Hier werden wir sicher weniger bequeme Fußmärsche absolvieren und wohl auch hin und wieder recht schmutzig werden – wie wir bereits bei anderen Touristen, die uns schlammbeschmiert entgegenkamen, sehen konnten. Aber das macht nichts; Hauptsache, wir sehen was. So, wie jetzt die Eule. Verschlafen kuschelt sie sich in eine Astgabel und blinzelt uns müde an. Das Licht unter dem dichten Blätterdach ist jedoch denkbar schwierig zum Fotografieren und, auch ein bisschen anders als im Kirindy, hängen ständig Blätter im Weg, auf die die Kamera scharfstellt. Tja, Eule, das wird wohl nix mit einem Portraitbild. Aber trotzdem schön, dass wir dich sehen durften!

Sahouli hört etwas: Diademsifakas

Wir klettern den Abhang wieder nach oben, indem wir uns von Baum zu Baum ziehen und wandern auf etwas ebeneren Wegen weiter. Es dauert nicht lange und Sahouli lauscht angestrengt. „Lasst uns schnell weitergehen, da sind Sifakas!“ Keine Ahnung, was sie gehört hat, aber sie scheint sich ihrer Sache ganz sicher zu sein. Wir eilen ein Stück den Weg entlang, tauchen wir Offroad in den Wald ein. Es es über Stock und Stein, einen Hügel rauf, auf der anderen Seite wieder runter, am Fuße eines kleinen Tales entlang. Und dann sehen wir sie! Eine kleine Gruppe wunderschöner Diadem-Sifakas sitzt seelenruhig auf einer Lichtung, frisst Blätter und lässt sich durch unser Auftauchen nicht im geringsten stören. Vorsichtig pirschen wir uns näher, doch es scheint, als wäre das gar nicht nötig, denn die Tiere sind völlig tiefenentspannt und lassen uns nahe herankommen. In etwa drei Metern Abstand bleiben wir stehen, doch Sahouli fordert uns auf, noch näher ranzugehen. Unfassbar, da hocken wir schließlich in Streichelweite neben den Lemuren, können sie atmen hören – und die Tiere zucken nicht mit einer Wimper. Auch nicht die Mutter, die ein Baby am Bauch trägt. Das Kleine ist ebenfalls in keinster Weise beunruhigt und sieht uns nur mit kugelrunden Augen neugierig an. Also ist die sehr schwach ausgeprägte Scheu, die uns schon im Kirindy aufgefallen war, wohl doch kein lokales, sondern eher ein madagassisches Phänomen, was uns natürlich sehr freut.

Ganz besonders mich, die ich ja am liebsten fast jedes Tier anfassen und streicheln würde. Das tue ich natürlich nicht, aber diese große Nähe zu all den unerschrockenen Tierchen ist beinahe genauso schön und ich kompensiere meine unerfüllten Plüsch-Gelüste einfach, indem ich mit den vertrauensseligen Wesen spreche. Da ist es mir auch egal, als plötzlich noch andere Touristen auftauchen und mich kurz etwas irritiert ansehen. Sollen sie doch denken, was sie wollen! Die Neuankömmlinge stören sich jedoch nicht wirklich an meinem Gesäusel und haben auch gar keine Zeit dazu. Sie wollen nämlich nur eines – Fotos machen. Zielstrebig marschieren sie von einem Sifaka zum anderen, lichten ihn mehrfach ab und verschwinden dann wieder.

Heinz, der Schlangenmann entfaltet mal wieder seine Wirkung

Und nicht mal diese Aktion hat die Lemuren aus ihrer Ruhe gebracht. Lange bleiben wir noch auf der Lichtung und genießen die Nähe zu den Tieren, solange, bis sie ein Stückchen weiter ziehen. Wir folgen ihnen eine Weile und kehren schließlich wieder auf den Weg zurück. Sahouli ist ganz im Glück, dass sie uns hier Diadem-Sifakas zeigen konnte und dass wir diese Begegnung so offensichtlich genossen haben. Trotzdem eilt sie flotten Schrittes sofort weiter. „Es gibt noch so viel zu sehen!“, strahlt sie und nimmt Kurs auf neue Ziele. Und wir müssen nicht lange warten, bis sich wieder etwas tut. Wir traben gerade am Ufer eines kleinen munter gluckernden Bächleins entlang, als Sahouli so plötzlich stehenbleibt, dass wir fast auf sie auflaufen. Da, eine Boa! Aufgeregt zeigt sie auf eine Stelle in Ufernähe, wo sich eine armdicke, braune Schlange ordentlich aufgeringelt hat und die wärmenden Sonnenstrahlen genießt. Boa(h), geil! Es ist echt beeindruckend, solch ein faszinierendes Tier aus derartiger Nähe sehen zu können. Und auch die Schlange zeigt keinerlei Anzeichen eines Fluchtreflexes. Ich bin fasziniert. Vor vielen Jahren hatte ich in Sambia einmal das Glück, eine riesige Python zu Gesicht zu bekommen. Doch eine falsche, unbedachte Bewegung, und weg war sie. Nicht jedoch diese Boa. Reglos bleibt sie liegen und züngelt ab und zu. Ein paar Minuten später, wir haben die Boa gebührend bewundert, erspähen wir eine weitere Schlange, die linkerhand aus dem Gebüsch kriecht und auf dem Weg innehält. Na, die sieht aber viel agiler als die Boa aus und wird wohl gleich wieder abtauchen, sobald wir näherkommen. Denkste! Völlig entspannt schlängelt das Tier auf dem Weg umher und ignoriert uns völlig. Leise schleichen wir uns näher, bis wir nicht weiter als einen Meter entfernt sind. Und die Schlange, ein wunderschön gestreiftes Exemplar der Spezies „Laterale Wasserschlange“ tut so, als wären wir gar nicht da. Das ist ja irre! Und eine komplett neue Erfahrung für uns, die wir ungemein genießen.

Nachdem die Schlange nach einer ganzen Weile wieder im Dickicht verschwindet, und wir uns endlich losreißen können, ruft Sahouli eine Lunchpause aus. Sie führt uns zu einem kleinen, malerisch gelegenen See, an dessen Ufer ein hölzerner Pavillon steht. „Hier haben wir Schatten und können eine Kleinigkeit essen.“ Wir haben uns aus dem Resort je ein belegtes Baguette mitgebracht und schlagen nun erwartungsvoll unsere Zähne in das Gebäck. Mhm, eine trockene Angelegenheit ist das! Mit viel Wasser spülen wir das spärlich belegte Weißbrot runter und nutzen die weitere Zeit, in der Sahouli, Mamy und Fitah noch speisen, um uns umzusehen. Und dazu müssen wir nicht mal weit gehen. Direkt am Pavillon tummeln sich wunderschön gefärbte Taggeckos, die aussehen, als wären sie in einen Farbkasten gefallen. Sie scheinen hier im Dach zu wohnen und sich an lunchende Touristen gewöhnt zu haben. Auch sie sind nicht besonders scheu, doch mit „gewöhnt“ meine ich etwas anderes: Die kleinen Echsen haben nämlich herausbekommen, dass essende Menschen hin und wieder kleckern und bröseln. Und genau auf diese Hinterlassenschaften sind sie scharf. Immer wieder huschen sie um unsere Sitzplätze herum und sehen sich sehr genau an, was da zu Boden gefallen ist, um dann blitzschnell ihre Deckung zu verlassen, und sich den Leckerbissen zu schnappen. Dabei gehen sie sehr selektiv vor und bevorzugen offenbar Süßes. Zucker, Schokolade und Brotkrumen zählen ja eigentlich nicht so ganz zu ihrer natürlichen Nahrung, doch das scheint den bunten Leckermäulern egal zu sein. Kaum haben sie ein derartiges Krümel ausgemacht, sind sie auch schon zur Stelle. Ein Gecko, der offenbar unsere Ankunft und die Bröselschlacht versäumt hat, eilt herbei, als wir gerade zusammenpacken. Er saust einen Stützbalken herab, examiniert kurz den Boden und hat wohl doch noch etwas entdeckt. Gierig umrundet er noch einmal den Balken, bevor er im Schatten der Balustrade zu seinem Gustostückchen gelangen will. Dabei übersieht er vor lauter Begeisterung eine recht stattliche Stabheuschrecke, mit der er beinahe zusammenstößt. Erschrocken flüchtet er über den Balken wieder nach oben und verschwindet im Dach, während das Insekt empört zu beben beginnt, und dabei umso mehr wie ein Ästchen aussieht; ein Ästchen, das im Wind schwingt.

Amüsiert verlassen wir den Pavillon und machen uns, so sagt Sahouli, langsam auf den Rückweg zum Parkausgang. Wir schlendern an einem kleinen Bächlein entlang, in dem Kreiselkäfer ihren hektischen Tanz absolvieren und Libellen über die sonnenfleckige Wasseroberfläche schweben. Dann geht es wieder in den schattigen Wald hinein.

Sahouli kennt den Park wie ihre Westentasche

Dort steuert Sahouli zielstrebig eine kleine Baumgruppe an. „Hier ist der Schlafplatz eines Wollmakis. Das sind nachtaktive Tiere und deshalb schlafen sie tagsüber. Hoffentlich ist er heute da.“ Und tatsächlich späht da, gemütlich in einer Astgabel sitzend, ein sehr pelziges Wesen mit großen Kulleraugen und knautschigem Gesicht etwas unwirsch durch die Blätter zu uns heraus. Die schwarze Nase kräuselt sich, als ob der Lemur gähnen wollte. Doch offenbar unterdrückt er diesen Reiz, denn dann müsste er die Augen schließen und könnte uns nicht mehr sehen. Das aber scheint ihm ganz und gar nicht geheuer zu sein. Ach, du armer Pelzknuffel, schlaf weiter, wir tun dir nichts lassen dich jetzt einfach in Ruhe!

Wir sind gerade ein paar wenige Schritte weiter gegangen, als Sahouli erneut aufhorcht. „Indris!“ Eine Wegbiegung später können wir sie dann auch sehen, die heimlichen Stars des Nationalparks. Es sind große, schwarz-weiße Lemuren mit winzigen Stummelschwänzchen und riesigen, erstaunt blickenden Augen. Sie leben in kleinen Gruppen, in der Regel ein Elternpaar mit ihrem Nachwuchs, und sind bekannt für ihren Gesang, der weithin ertönt. Man kann ihn vorwiegend in den Morgen- und Vormittagsstunden vernehmen – ein sehr eigenwilliges, lautes, klares, singendes Heulen, das der Revierabgrenzung dient und das einem in seiner Intensität sofort Gänsehaut macht.

Denkwürdige Begegnungen: Indris und „Gelbfüßler“

Heute Morgen wurden wir übrigens auch schon vom Singen der Indris geweckt und sind nun sehr erfreut, die Stimmen des Waldes in personae kennenzulernen. Und da sitzen sie in den Bäumen, direkt vor uns und blicken uns neugierig an. Wir blicken ebenso neugierig zurück und sind entzückt von dem, was wir sehen. Schwere Körper, gewandet in schwarz-weißes, flauschiges Fell, kleine Köpfchen mit großen Kulleraugen, feuchter Schnauze und runden pelzigen Ohren. Kein Wunder, das sie bei Touristen so beliebt sind – sie sehen wirklich zum Anbeißen süß aus! Ausgiebig beobachten wir die sanftmütigen Lemuren und folgen ihnen in Zeitlupentempo am Bach entlang. Es ist ein einmaliges Erlebnis, ihnen so nahe zu sein und ihnen bei ihrem friedlichen Fresszug durch die Bäume zusehen zu können. Wir genießen es sehr, nicht ahnend, dass wir ihnen in den nächsten Tagen noch viel näher kommen werden. Plötzlich aber wird die traute Ruhe gestört, denn andere Touristen, eine Familie mit ihrem halbwüchsigen Sohn, kommen den Pfad entlanggestürmt. Auch deren Guide hat offenbar Wind von den Indris bekommen und seine Gäste schnurstracks hierher geführt. Das ist ja durchaus legitim und würde uns auch nicht stören, wenn, ja, wenn sich die Touris einigermaßen benehmen könnten. Doch sie sind ungebührlich laut und rücksichtslos, vor allen Dingen die Mutter. Kaum hat sie die Indris erspäht, quietscht sie laut auf und prescht an die Reling, die am Bach entlang führt, als würden wir gar nicht vorhanden sein. Lautstark kommentiert sie, was sie sieht und entdeckt schließlich auch die Indri-Mama, die ein kleines Baby am Bauch trägt und die ich gerade fotografiere. „Julian, da musch herkomme, dann kannsch a Bäby seha. Schnell, und dräng dich ruhig vor!“

Der Knabe teilt den unverschämten Enthusiasmus seiner Mutter nicht so ganz und sieht offenbar auch keinen Grund, sich vorzudrängen. „Daher, Julian!“, bellt die sichtungsgeile Mutter. Als der widerborstige Spross noch immer keine Anstalten macht, den vehementen Aufforderungen seiner Frau Mutter Folge zu leisten, beschließt diese, sich eben selbst den vermeintlich besten Platz zu sichern und drängt mich rüde zur Seite, so, als ob man den kleinen Lemuren nur von hier aus sehen könnte. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Soll ich Ihnen eine Leiter besorgen, damit sie noch näher rankommen?“, frage ich unwirsch. Entgeistert glotzt sie mich an und blökt: „Julianhan, da isch a Bääääby!“ Manche Leute sind wirklich unfassbar dreist! Sahouli guckt ganz erschrocken und fragt mich, ob das Landsleute von uns sein. „Unfortunately yes!“, antworte ich vernehmlich, aber auch diese Bemerkung filtert die Dränglerin in ihren Gehörgängen, bevor sie ihr Gehirn erreicht. „Julian, glei isches weg, s’Bäby!“, plärrt sie unverdrossen. Kopfschüttelnd sehen Sahouli und ich uns an und beschließen dann, unseren Weg fortzusetzen. Rasch sammeln wir Heinz, Mamy und Fitah ein, die ein paar Meter weiter vorne den männlichen Indri beobachtet hatten und gehen weiter Richtung Gate. Was sollen wir auch noch hier, jetzt, da s’Bäby ohnehin mit seiner Mutter in den dichten Blättern zu entschwinden droht.

Eine halbe Stunde später erreichen wir schließlich wieder das Gate. „Hat es euch gefallen?“, fragt Sahouli erwartungsvoll. „Ja, es war toll. Vielen Dank für diese schöne Exkursion, Sahouli! Wir haben sehr viel gesehen und mussten uns dafür nicht mal so schmutzig machen wie die anderen Touristen, die uns begegnet sind.“ Sahouli strahlt. „Ja, das haben wir gut gemacht. Aber die Natur kommt zu denen, die sie lieben. Sie müssen ihr nicht hinterherrennen. Und heute Abend treffen wir uns wieder. Mal sehen, was dann zu uns kommt.“

Alles nicht so einfach – die Vögel, die Treppe und das Wetter

Mit diesen Worten verabschiedet sie sich von uns und geht ihrer Wege, während wir mit Mamy und Fitah wieder zurück zum Resort fahren. Dort müssen wir logistisch klug vorgehen, um unnötige Aufstiege über die steile Treppe zu unserem Häuschen möglichst zu vermeiden. Deshalb lassen wir uns gleich an einen freien Tisch auf der Freiluft-Terrasse plumpsen, um etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen – das Baguette war ja, wie gesagt, nicht der Knaller. Danach schleppen wir uns nach oben und machen es uns auf unserer privaten Mini-Terrasse gemütlich. Ein bisschen Körperpflege, den Schweiß der Regenwaldexkursion abwaschen, entspannen und Leute und Vögel beobachten. Heinz hat ein paar Brillenvögel entdeckt, aber die kleinen Federbälle sind unruhige Gesellen, die sich nur ungern fotografieren lassen. Also spießt er eine Banane, die wir beim Frühstück nicht gegessen hatten, in die Äste eines nahen Buschs und hofft so, die Vögel anzulocken und zum Sitzenbleiben überreden zu können. Leider aber klappt sein Plan nicht. Die Brillenvögel werden auch so nicht ruhiger. Das mag wohl in ihrer Natur liegen, aber nicht nur daran, denn alle naslang kommen Leute über die Treppe nach oben gekeucht. Neue Gäste und solche, die schon hier wohnen. Und alle hassen diese Treppe. Das belegen eindeutige Gesten, die die Leute im Vorbeigehen machen – zum Reden haben sie nämlich keine Luft mehr. Na, wenigstens geht es nicht nur uns so; wobei ich die Treppe ungleich schlimmer finde als Heinz.

Wir philosophieren gerade mal wieder über die Geheimnisse madagassischer Treppenbaukunst, als zwei bekannte Gesichter von unten heraufkommen: ein britisches Ehepaar, das im Kirindy zwei Tage lang im Bungalow neben uns gewohnt hatte. Er ist ein älterer Herr, Typ zerstreuter Professor mit Zauselhaaren, leichter Plauze und schwerem Gang. Mit hochrotem Kopf hangelt er sich am Handlauf entlang und bleibt, zusammen mit einem völlig unbeeindruckten Gepäckträger, auf unserem Stockwerk stehen, um auf seine Frau zu warten. Dabei entdeckt er uns und grüßt uns erfreut. Als er wieder zu Atem gekommen ist, taucht auch seine Frau auf, die eigentlich einen deutlich fitteren Eindruck auf uns gemacht hatte. Doch sie kommt nur langsam voran und hievt ihr rechtes Bein mit beiden Händen auf die jeweils nächste Stufe. Erschöpft nickt sie uns zu. Doch kaum hat sie ihren Gatten und den Absatz des dritten Stocks erreicht, saust der Gepäckträger weiter nach oben. „Another floor, oh no!“, schnauft sie entsetzt und folgt mühevoll. Fünf Minuten später tauchen die Drei wieder auf. Der Gepäckträger verschwindet mit dem Professor in einem Bungalow auf der anderen Seite der Treppe, während die Frau auf dem Absatz stehenbleibt und uns ihre Sorgen klagt. „Die Treppen in diesem Land sind die Hölle! Ich bin unterschenkelamputiert und hatte unseren Veranstalter extra gebeten, uns einen Bungalow auf der untersten Ebene zu reservieren. Er hat es hundertprozentig zugesagt, aber, wie man sieht, hat das wohl nicht geklappt. Jetzt bieten sie uns einen Bungalow auf der dritten Ebene an, statt auf der vierten. Als ob das einen Unterschied machen würde. Da war es im Kirindy schon komfortabler, nicht wahr?!“ Sie winkt müde und hinkt ihrem Mann hinterher. Oh Gott, die arme Frau! Jetzt sind diese Treppen schon für unsereinen grenzwertig, aber für sie mit ihrer Behinderung müssen sie wirklich die Hölle sein. Bleibt nur zu hoffen, dass sie diesen Aufenthalt trotzdem ein bisschen genießen kann.

Bedauernd blicken wir ihr hinterher und vernehmen zeitgleich ein rumpelndes Grollen. Ups! Während wir hier philosophiert, sinniert, Vögel angelockt und uns unterhalten haben, hat sich der Himmel über dem Hügel hinter unserem Bungalow merklich verdunkelt. Ist da wohl ein Gewitter im Anzug. Wir kennen uns mit lokalen Wettersituationen natürlich überhaupt nicht aus – aus welcher Richtung kommt ein Unwetter, das sich tatsächlich entlädt, welches zieht vorüber, was zählt hier zu einer normalen Wettersituation und was nicht? Wir beschließen gerade, uns mit Sack und Pack ins Restaurant zu begeben und dort auf den Beginn unserer Nachtexkursion zu warten, als ein Resortangestellter von oben um die Ecke gebogen kommt. „Want to see chameleons?“ Er trägt einen verzweigten Ast vor sich her, auf dem zwei Chamäleons sitzen und sich verängstigt festklammern. „Wo hast du die her und was machst du damit?“ „Ach, die verkriechen sich gerne in den Hecken, wenn ein Unwetter kommt. Und wir haben gerade eine Hecke ganz oben geschnitten, da haben wir sie gefunden. Ich bringe sie weg von da, damit ihnen nichts passiert.“ Spricht’s, setzt die beiden Tiere in einem Baum vor unserem Bungalow und verschwindet wieder. Aha, Unwetter! Rasch packen wir noch unsere Regenjacken ein und begeben uns dann nach unten, in der Hoffnung, das vom Donner und den Chamäleons angekündigte Unwetter möge zu Beginn unseres Nightwalks vorüber sein.

Der Wetterfrosch mit Ringelschwanz hatte recht!

Doch daraus wird nichts. Es blitzt und rumpelt weiterhin, wird immer dunkler. Dann, kurz bevor unsere Exkursion starten würde, bricht ein Inferno los. Der Himmel verdunkelt sich zu nachtfinsterer Schwärze, Blitze zucken stroboskopartig über den Hügelrändern, starke Windböen treiben Regen unter das Dach der Restaurantterrasse, es kühlt auch noch schlagartig ab, dann setzt plötzlich Hagel ein. Der Strom fällt aus und wir erleben die Naturgewalt ganz pur, unabgeschwächt durch Zivilisationsbeleuchtung. Allein ein Dach aus Blättern beschützt uns, und auch das leidet erheblich unter den taubeneiergroßen Hagelkörnern. Die betonharten Kugeln schlagen große Blattstücke aus den Palmwedeln, der Regen spült diese in Dachrinnen und Abflussrohre und im Nu steht überall das Wasser. Der chinesische Resortbesitzer und seine Angestellten klettern im strömenden Regen und den herabstürzenden Hagelkörnern auf Leitern herum, demontieren Fallrohre und räumen Abflüsse frei, um das Schlimmste zu verhindern. Nach etwa fünf Minuten ist der Hagel vorüber, doch der Regen scheint erst richtig loszulegen. Mann, wie gut, dass wir heute bei unserer Rückkehr aus dem Nationalpark noch etwas gegessen haben, denn bei diesem Chaos könnte es schwierig werden, noch etwas zwischen die Kiemen zu bekommen, zumindest hier draußen. Wir sitzen gerade leicht fröstelnd in der Mitte der Restaurantterrasse, als Mamy und Fitah herbeigeeilt kommen und uns verkünden, dass der heutige Nightwalk wahrscheinlich ausfallen wird. Wahrscheinlich? So sicher wie das Amen in der Kirche, würde ich mal sagen! Denn auch, wenn der Regen in der nächsten halben Stunde aufhören sollte, so schwimmt wohl der Wald. Und wer weiß, welchen Schaden der Hagel dort angerichtet hat. Nicht, dass wir im Dunkeln noch von einem lädierten Baum erschlagen werden… Tja, schade, aber das ist halt jetzt so, es ist nicht zu ändern.

Eine gute Nachricht aber gibt es doch noch: Obwohl morgen im Laufe des Tages Aina eintreffen wird, bleibt uns Mamy noch erhalten – er wird erst übermorgen Früh fahren. So können wir Heinz’ Geburtstag tatsächlich alle zusammen feiern. Eine Tatsache, über die wir uns alle ganz besonders freuen! So sausen Mamy und Fitah durch den strömenden Regen wieder von dannen, während Heinz und ich noch sitzen bleiben wollen, bis wir vielleicht doch trockenen Fußes in unserem Bungalow gelangen können. Und es ist ja auch nicht uninteressant hier, denn immer mehr Leute versammeln sich unter dem lädierten Dach. Ein paar Touristen, die mürrisch im Restaurant im Hauptgebäude verschwinden und einige Guides, die gekommen sind, um ihrerseits den Nightwalk abzusagen und nun noch den einen oder anderen Absacker zu sich nehmen. Bei dieser Gelegenheit kommen wir mit einem der Guides ins Gespräch. Es ist ein fast zahnloses, drahtiges, kleines Kerlchen, das dem Alkohol rege zuspricht, aber dennoch erstaunlich klare Statements von sich gibt. Er philosophiert über den Klimawandel – der Hagel heute war wohl nichts, was man hier kennt -, er erzählt von seinem Engagement beim WWF, von seinen Kontakten zu diversen, auch uns bekannten Wissenschaftlern und er erklärt uns Genaueres über die verworrene und durchaus desolate politische Situation im Land. Tja, ein Land, in dem 46 Kandidaten in die Präsidentschaftswahl starten und 10000 Ariary genügen, um jubelnde und auch kreuzchenmachende Anhänger zu rekrutieren – das sagt wohl genug.

Lange unterhalten wir uns mit dem trinkfreudigen Guide und es ist sehr interessant. Allerdings sind wir uns nicht ganz im Klaren, was von dem, was er erzählt, wirklich der Wahrheit entspricht. WWF, Wissenschaftler, sein eigenes Leben am Rande des Existenzminimums? Die sechs Biere, die er am Ende unseres Gesprächs konsumiert hat, bezahlt auf jeden Fall sein schwer angesäuerter Sohn, der seinen mittlerweile deutlich schwankenden Vater, der aber immer noch klar spricht, aufsammeln kommt.

Als das betrunkene Männlein sicher im Auto des Sohnes verstaut wurde und die beiden vom Hof gedüst sind, schicken auch wir uns zum Gehen an, denn der Regen hat fast aufgehört und wir sehnen uns nach unserer schweren Bettdecke, die uns hoffentlich die klamme Kälte aus den Gliedern wärmen wird.

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