13. März 2013, Kapstadt > Tankwa Karoo NP, Skaapwagterspos
Ausgeschlafen krabbeln wir am frühen Morgen aus unseren Betten, frühstücken, packen rasch unsere Sachen und machen uns vom Acker. Eine relativ lange Strecke liegt jetzt vor uns, rund 320 Kilometer, hinaus aus Kapstadt, rauf auf die N1, und dann weiter über Schotterstraßen Richtung Norden, Richtung Tankwa Karoo Nationalpark, dem ersten Ziel unserer Sukkulentengürtel-Reise, auf das wir alle schon sehr gespannt sind. Bevor wir unseren heutigen Übernachtungsort jedoch zu Gesicht bekommen, müssen wir noch allerlei Dinge erledigen und viele unbekannte Orte hinter uns bringen. Wohlgemut beginnen wir das Tagwerk mit einem Lebensmitteleinkauf in Fish Hoek, dann verlassen wir das Kap über die Küste, über Muizenberg – die malerisch bunten Strandhäuschen nämlich wollte ich Heinz unbedingt noch zeigen, sind sie doch eines bekanntesten Postkartenmotive Südafrikas. Leider aber lenken uns zahlreiche Baustellen bereits weit vor dem besten Aussichtspunkt in die Tiefen des Küstenorts, sodass wir lediglich einen abgespeckten, leicht verstellten Blick auf die farbenfrohen Holzhüttchen erhaschen. Dieser bedauerlicherweise nur kurze Blick kostet uns allerdings eine ganze Stunde, die wir an Ampeln verwarten, im Stau stehen und nur meterweise voran kommen.
Wolken über den Bergen
Mitten in Kapstadt City
Skyline von Kapstadt
Dann endlich landen wir doch in Kapstadt City, sehen, wie sich dichte Wolken über den Tafelberg schieben, freuen uns, gestern bei klarer Sicht dort oben gewesen zu sein, verfahren uns in der Stadt, finden wieder raus und haben schließlich die gesuchte Abfahrt zur N1 gefunden. Erleichtert atmen wir durch und fliegen auf der Autobahn dahin, bis wir, nach Passieren der letzten Industriegebiete, ein große Tankstelle erreichen. Sehr gut! Wir müssen ohnehin noch dringend tanken und erledigen das gleich hier. Aufgabe Eins, abgehakt. Annette will danach noch schnell aufs Klo und zum Geldautomaten, also verfrachten wir den Landy von der Zapfsäule auf den beschatteten Parkplatz nebenan und schichten in der Zwischenzeit das hastig ins Auto geworfene Gepäck ein bisschen sinnvoller um. Aufgabe Zwei steht nun an: Wassertank befüllen. Mit dem dafür nötigen Umparken des Autos aber wollen wir warten, bis Annette zurück ist. Minuten später kommt sie herbeigesaust, murmelt etwas in ihren nicht vorhandenen Bart, schnappt sich unseren Alu-Teekessel und verschwindet wieder. Wir sind leicht irritiert, erst recht, als sie nach fünf Minuten erneut auftaucht, den Inhalt des Kessels in unseren Wassertank gießt und abermals verschwindet. Was macht die Frau da? Ne, nä!? Wasser tanken! Mit dem Teekessel!
Da stehen wir ja morgen noch hier!
An der Tanke
Liebhaberkutsche wird kutschiert
Außerhalb Kapstadts
Als Annette mit der zweiten Kesselfüllung zurückkehrt, fragen wir vorsichtig an, wie sie sich das vorstellt und warum wir nicht einfach um die Tanke herum fahren und den dortigen Wasseranschluss nebst Gartenschlauch benutzen. Weil da ein Angestellter sitzt und sich sein Glas mit Wasser füllt, erklärt sie uns. Na ja, das ist ein Grund, aber doch kein Hindernis! Kurzentschlossen bugsieren wir Annette in den Wagen, werfen den Motor an und tuckern die dreihundert Meter zum Wasserhahn. Der erwähnte Angestellte sitzt zwar tatsächlich immer noch daneben, aber was soll er schon dagegen haben, wenn wir hier ein bisschen zapfen. Ich grüße ihn freundlich, frage, ob wir den Schlauch haben dürften, er nickt und schon gluckert in Minutenschnelle das frische Nass in unseren Tank. Kurz darauf ist so auch Aufgabe Zwei erledigt und wir können weiter. Gegen elf Uhr haben wir dann endlich Kapstadt und die ausufernden Vorstädte hinter uns gelassen, erfreuen uns an der zunehmend bergiger werdenden Landschaft, überwinden einen Pass, passieren einen ellenlangen Mauttunnel und staunen, wie sehr sich die Umgebung innerhalb dieser wenigen Kilometer verändert hat.
Vor dem Tunnel: Berge
Nachd dem Tunnel: Weinbau
Arbeitersiedlung High-Tech
Vor dem Tunnel noch ragten überall steile Berge auf, doch jetzt, da uns das Tageslicht wieder hat, erstreckt sich eine weite, hügelgesäumte Ebene vor uns, deren dominantes Merkmal Weinplantagen sind. Weinstöcke in allen Größen ranken an v-förmigen Gestellen, riesige, fahrbare Bewässerungsanlagen überschatten die Pflanzungen und hübsche Farmhäuser und Padstalle zieren die Gegend mit kolonialem Charme. Was aber so gar nicht zu diesem gefälligen Ambiente passen will, das sind unzählige Containersiedlungen, die allesamt von hohen Elektrozäunen umgeben sind und direkt an der Straße stehen, wohingegen die Farmgebäude, lauschig eingebettet in grüne Bauminseln, fernab des Verkehrslärms erbaut wurden. Im Gegensatz dazu präsentieren sich die Wohncontainer geradezu steril, unpersönlich und kalt. Lediglich zum Trocknen aufgehängte Wäschestücke und kabelreich montierte Sat-Schüsseln verraten, dass tatsächlich auch hier Menschen wohnen. Wohnen müssen. Die Zeiten der Apartheid sind ja nun schon lange vorüber, offiziell zumindest, wenn man aber derartige Siedlungen sieht, fühlt man sich deutlich an vergangene Polit- und Gesellschaftsstrukturen erinnert. Gut, vielleicht hausen heutzutage auch weiße Arbeiter hier, vielleicht, das aber können wir im Vorbeifahren natürlich nicht überprüfen. Eines ist jedoch sicher: schöner wohnen sieht anders aus…
Arbeitersiedlung Wellblech
Verkeerdevlei Dam
Noch ist die Straße geteert
Viel einladender sind da schon die traditionellen Padstalle, Straßengeschäfte, in denen Farmen ihre Produkte anbieten – ansatzweise vergleichbar mit unseren Hofläden. Da gibt es kleine Häuschen, in denen Wein, Honig und Saisonfrüchte feilgeboten werden, aber auch große Gebäude mit Restaurationsbetrieb und liebevoll dekorierten Regalen im Inneren, in denen man alles erwerben kann, was die Gegend zu bieten hat. Wir sind jetzt schon geraume Zeit unterwegs, unsere Beine sehnen sich nach einer Bewegungspause, und unsere Münder nach einem kühlen Getränk, weswegen wir bei einem kleinen Ort namens De Doorns anhalten und einen dieser sogenannten Padstalle aufsuchen. „Die Veldskoen“ nennt sich der Hofladen, der uns, als wir ihn betreten, in eine völlig andere Welt versetzt. Kolonialambiente, rustikal verspielt, britisch-blumig, kalligrafierte Etiketten in Großmutters Handschrift, Dekoration, die nur hier so unkitschig-romantisch wirkt und eine Produktpalette, die uns in einen Kaufrausch versetzt, der sich gewaschen hat! Hier ein paar Aprikosenröllchen, dort getrocknete Mischfrüchte, da handgedrechselte Bonbons, ein Regal weiter fußgeblasene Gummibärchen und im Kühlraum nebenan, der nicht aussieht wie ein Kühlraum: mundverlesene Rebensäfte und Schaumweine. Es ist fürchterlich! Wir kaufen ein, als wäre es die letzte Gelegenheit – na ja, ist es für längere Zeit wohl auch. Heinz marktet Trockenfrüchte und anderen Süßkram ein, Annette verfällt dem T-Shirt-Sortiment und ich vergreife mich hemmungslos an Fruchtrollen und Sekt zum standesgemäßen Feiern meines Afrika-Jubiläums im Busch. Nur Jochen entzieht sich dem Konsumtaumel, indem er tapfer auf dem Parkplatz auf uns wartet. Und auf das versprochene Kaltgetränk, das wir in unserer Erwerbstrunkenheit tatsächlich beinahe vergessen hätten…
Beim Bezahlen unserer Beute, inklusive der doch noch erinnerten Limonade, fällt uns an der Kasse eine kleine Box mit gelb-schwarzen Aufklebern auf: Stop fracking! Eine aufgedruckte Telefonnummer verspricht die Weiterleitung von je dreißig Rand pro SMS an eine Umweltinitiative. Sofort befragen wir die Kassiererin, was genau es mit diesem Aufruf auf sich hat. Wo soll hier gefrackt werden? Überall, wo es vielversprechend ist, antwortet die schwarze Kassendame bitter, und vielversprechend sei es in der Tat fast überall, besonders aber in der Karoo und der Kalahari. „Sie wissen, was Fracking ist, was das bedeutet, ja?“, fragt die Verkäuferin. Mhm, das wissen wir, nur zu gut, denn auch in Deutschland ist diese Art der Ressourcengewinnung bedauerlicherweise ein stetiges Thema.
Fracking ist eine ganz besonders perfide Methode, dem Boden seine Gasreserven zu entlocken: Chemikalien werden mit hohem Druck in das Erdreich gepresst, um die Gase zu lösen – vereinfacht ausgedrückt. Niemand aber kann zum heutigen Zeitpunkt die Langzeitfolgen dieser Förderungsart abschätzen; der gesunde Menschenverstand allerdings legt einige Antworten nahe, die man nur als katastrophal bezeichnen kann. Wir sind entsetzt, dass nun auch hier, in so sensiblen und einzigartigen Ökosystemen wie der Karoo und Kalahari gefrackt werden soll. Klar, diese Methode verursacht an jedem Ort dieser Welt ein ökologisches Desaster, doch gerade in bis dato nahezu unberührten Gegenden mit unwiederbringlichen Naturschätzen floraler und tierischer Art ist es ganz besonders unverantwortlich. Natürlich ist es ungleich einfacher, ein derartiges Projekt in menschenleeren Landstrichen zum Laufen zu bringen, als anderswo, wo Energiekonzerne aufgrund der Bevölkerungsdichte praktisch kein freies Fleckchen mehr finden, auf dem sie vermeintlich unbemerkt ihren üblen Machenschaften nachgehen können. In umweltsensiblen Ländern, nein, besser gesagt, in Ländern mit umweltsensibler Bevölkerung und dichter Besiedelung, wie zum Beispiel Deutschland, ist das schon wesentlicher schwieriger. Dennoch frackt man auch bei uns. Das wiederum erstaunt jetzt die Kassiererin, die gedacht hatte, das sei mal wieder ein rein afrikanisches Problem. Nein, das Problem haben wir alle, weil WIR das Problem sind! Herzlich verabschieden wir uns nach einer für beide Seiten interessanten Diskussion von der netten Lady und nehmen unsere neuen Informationen mit hinaus auf den Parkplatz, nebst einem der Aufkleber, den wir sofort auf der Heckscheibe anbringen. Jochen ist schon halb verdurstet und sehr dankbar, als wir ihm eine kühle Limonade in die Hand drücken.
Über die Sache mit dem Fracking allerdings ist er genauso entsetzt wie wir und wir merken, als wir vom Parkplatz zurück auf die Straße fahren, dass wir eine neue, veränderte Sicht auf die Landschaft haben, die vielleicht bald nicht mehr die sein wird, die wir jetzt sehen. Und das ist wirklich tragisch, denn schon jetzt, direkt neben der N1, entdecken Heinz und ich Pflanzen, die wir hier noch gar nicht erwartet hätten. Wie sieht es dann wohl erst im Tankwa Karoo Nationalpark aus? Wir werden immer gespannter, müssen unsere Ungeduld jedoch noch eine ganze Weile zügeln, denn noch liegen rund 200 Kilometer vor uns. Schlappe fünfunddreißig Kilometer später verlassen wir schließlich die N1 Richtung Hottentotskloof, passieren den Verkeerdevlei Dam, der wie ein türkises Auge zu Füßen einer wunderschönen, in unterschiedlichen Farbabstufungen geschichteten Bergkette liegt, durchqueren den Kloof (Schlucht), der seinen Namen kaum verdient und verlassen kurz darauf den Teerbelag. Genau genommen: er verläßt uns. Denn nun entern wir ein Gebiet, wie es menschenleerer fast nicht sein könnte; und bei der damit einhergehenden Verkehrsdichte lohnt natürlich ein Teerbelag nicht mehr. Fast hundert Kilometer sind die Ortschaften hier im „Outback“ auseinander – und Ortschaft ist beinahe schon zu viel gesagt. Aber genau in diese Abgelegenheit wollten wir ja, genau diese Menschenleere hatten wir gesucht. Glücklich und voller Vorfreude rattern wir auf der Staubstraße weiter dahin und genießen es, keinem Menschen und keinem anderen Auto mehr zu begegnen.
Dass sich hier aber dennoch, zumindest ab und zu, Menschen herumtreiben, merken wir mal wieder überdeutlich, als wir für eine kurze Pause auf einem staubigen Parkplatz anhalten.
Rast auf dem Parkplatz
Psilocaulon junceum
Malephora crassa
Ja, auch so etwas gibt es hier, auf dieser entlegenen Strecke und ja, es liegt, wie überall auf Parkplätzen, jede Menge Müll herum. Überreichlich sogar! Vorsichtig umschlängeln wir die scharfen, unvermeidlichen Glasscherben, sammeln Dosen, Chipstüten und Flaschen zusammen und ziehen uns dann erst Mal ins trockene, klopapiergespickte Gebüsch auf eine gepflegte Blasenerleichterung zurück (wir nehmen unseren eigenen, benutzten Kulturfilm natürlich wieder mit), bevor wir uns einen kleinen Mittagssnack gönnen. Doch auf unserer Bedürfnis-Exkursion sind Heinz und ich, inmitten der Klopapierinseln, auf so interessante Pflanzen gestoßen, dass wir uns, die Stulle in der Hand, gleich wieder ins Gebüsch aufmachen und kauend den Boden abscannen, jeglichen Abfall und alle Fäkalienreste ausblendend: und es ist geradezu rührend, was sich hier, an diesem verdreckten Ort, strotzend und auch blühend aus dem Abfall kämpft! Psilocaulons mit winzigen, unscheinbaren Blüten, Malephoras, deren dottergelbe Blütensterne alles zu sonnigem Strahlen bringen und jede Menge mittagsblumentypischer Samenkapseln, deren besondere Eigenschaften ich ja eigentlich stilvoll mit meiner Sprühflasche erkunden wollte. Die aber ruht noch, momentan unerreichbar, in den Tiefen meiner Reisetasche. So also muss wohl doch erst Mal Spucke herhalten… Während Heinz die Pflanzen anderweitig näher untersucht, pflücke ich vorsichtig zwei der holzigen Knöpfchen von einer Psilocaulon-Pflanze und speichle eines davon probehalber ein. Innerhalb einer Minute öffnen sich die eng geschlossenen Flügelchen und klappen sich sternförmig nach außen. Genial! Wieder und wieder repetiere ich dieses kleine Experiment, sicherheitshalber, weil ich es kaum glauben kann, und bin völlig fasziniert, dass es tatsächlich jedes einzelne Mal erneut perfekt und ähnlich schnell funktioniert. Das ist eine so komplett neue und fesselnde Erfahrung für mich – die ich ja erst vor zwei Jahren tiefer in „Medias succulentes“ eingestiegen bin – dass ich das dringende Bedürfnis verspüre, dieses unglaubliche Wunder auch meinen Reisegenossen nahezubringen. Und ja! Meine Freunde, mampfend und an ihren Broten kauend, beugen sich neugierig über meine völlig unprofessionelle Versuchsanordnung, sehen mir gespannt beim Spucke-Verteilen über die Schulter und sind von der prompten Reaktion der so leblos wirkenden Samenkapseln ebenso angetan wie ich. Spuck, klapp, spuck, klapp.
Psilocaulon junceum
Musterkapsel: trocken – nass
Jochen und Heinz
Es dauert nicht lange und die Drei machen mit großem Engagement ihre eigenen Versuche. Wie die Lamas, spuckend und speichelnd, stehen wir nun auf diesem entlegenen Parkplatz und freuen uns wie die kleinen Kinder. Dabei hätte das Ganze ja eigentlich einen durchaus streng wissenschaftlichen Hintergrund, den zu erklären ich weiter ausholen muss: es gibt eine unendliche Anzahl sukkulenter Pflanzen auf dieser Welt, ganz besonders gesegnet jedoch ist das südliche Afrika. Nun gehören aber Sukkulenten nicht einer einzigen, gemeinsamen Pflanzenfamilie an, sondern sie verteilen sich auf ganzer Bandbreite – sozusagen quer durch Gottes Gemüsebeet. Die größte Sukkulenten-Gruppe des südlichen Afrikas sind die Aizoaceen, zu deutsch Mittagsblumengewächse, also diejenigen, die uns auch jetzt gerade unsere Spucke abtrotzen. Mit 136 Gattungen und rund 2000 Spezies stellen sie stolze 63 Prozent der hiesigen Sukkulenten-Flora, zehn Prozent der Gesamtflora – eine Vielfalt, die sogar den ausgemachten Experten mit deutlichen Bestimmungsproblemen konfrontiert. Ihr äußeres Erscheinungsbild nämlich ist teilweise verflucht uneindeutig, besonders dann, wenn die Pflanzen blütenlos sind oder sich in der Ruhephase befinden. Und da wären wir bei der Samenkapsel angelangt, weil dieses kleine Konstruktionswunder wichtige Hinweise liefert, um welche Spezies es sich genau handelt: ein winziger Teil von Aizoaceen trägt xerochastische Samenkapseln, die sich nur bei absoluter Trockenheit öffnen. Das Gros der Früchte hingegen ist hygrochastisch, geht also bei Kontakt mit Feuchtigkeit oder Nässe auf. Die hygrochastischen Kapseln wiederum teilen sich ebenfalls in zwei Gruppen: diejenigen, die sich wieder schließen und andere, die offen bleiben. Die Kapseln, egal, ob sie nun Trocken- oder Nassöffner sind, sich wieder schließen oder offen bleiben, können aus drei oder deutlich mehr Kammern bestehen, je nach Spezies, womit wir einen weiteren Bestimmungshinweis erhalten. Leider gibt es, wie sollte es anders sein, unwägbare Abweichungen und viele Überschneidungen bezüglich der Kammernanzahl innerhalb dieser großen Pflanzengruppe. Jeden Rest von Zweifel jedoch beseitigen, im Gegensatz zu diesen recht schwammigen Anhaltspunkten, bestimmte Konstruktions-Details, die sich dem Kenner wie ein offenes Buch darbieten, sobald die Kapseln ihre Deckelchen aufklappen. Von derartigem Spezialistentum indes bin ich noch meilenweit entfernt. Leider oder Gott sei Dank? Ich glaube, Letzteres trifft eher zu, denn meine Unkenntnis lässt mir den nötigen Spielraum, das Mechanikwunder gebührend und relativ unbedarft zu genießen, gleichzeitig aber stachelt es auch meinen Entdecker- und Lerndrang an. Und das ist die Kombination, die auf mich den größten Reiz ausübt. Ich wüßte gar nicht, in was ich mich sonst reinknien wollte, würde die Welt keine Natur-Rätsel mehr für mich bereithalten. Vielleicht Fußball-Experte werden? Oder gar ein Börsen-Ass oder eine Steuerrechts-Koryphäe? Nein, da speichle ich lieber bis an mein Lebensende kleine, holzige Knöpfchen ein und zerbreche mir den Kopf, warum es mir nicht gelingen will, schlappe 2000 Spezies allein im Vorbeigehen zu unterscheiden, geschweige denn, deren wissenschaftliche Namen zu behalten…
Doch das Leben hält immer wieder kleine Triumphe bereit: wir verlassen den Parkplatz, ich nehme das Gesehene in meinem Herzen mit – und recherchiere im Nachhinein – zumindest zum Teil – erfolgreich, was genau wir da bespuckt haben. Psilocaulon junceum und Malephora crassa; nur so am Rande bemerkt.
Über weites Land
Wir nähern uns dem Park
Kurz vor dem Gate
Aber das ist lediglich ein bescheidenes Freudenstück – die großen warten erst noch auf uns. Zum Beispiel im Tankwa Karoo Nationalpark, den wir nun bald entern werden. Bald, denn erst mal müssen wir den Eingang finden, was sich als unerwartet schwierig entpuppt. Wir kommen von unserem besagten Parkplatz, die Karte heißt uns rechts abbiegen, auf eine weitere Schotterpiste, doch plötzlich haben wir wieder Teer unter den Reifen. So alt ist die Karte aber noch nicht. Mhm, man kann sich doch hier nicht allen Ernstes verfahren!? Nein, das haben wir auch nicht, allein der geänderte Straßenbelag wurde in der Karte noch nicht aktualisiert. Gestern Staub, heute Teer, so einfach ist das. Und wir bekommen sogar noch die dafür verantwortlichen Straßenarbeiter zu Gesicht, die sich bei nahezu 40 Grad einen abschwitzen und uns mit Freude über den Besuch ihres neu gemachten Makadams strahlend durchwinken.
Wenige Kilometer später führt uns dann tatsächlich eine recht unscheinbare Einfahrt nach links, in den Nationalpark hinein. Langsam schaukeln wir nun durch eine Landschaft, wie sie karger nicht sein könnte. Staubig, trocken, ja fast trostlos ist es hier und wir alle sind etwas enttäuscht, denn ganz so „arid“ hatten wir uns den Tankwa dann doch nicht vorgestellt. Über viele Kilometer will sich dieser Eindruck auch nicht bessern, im Gegenteil: an manchen Stellen nämlich sieht es fast aus, als hätte vor Kurzem eine Baugesellschaft das karge Erdreich umgeschichtet. Insgeheim fragen wir uns gerade, ob der Tankwa wirklich das geeignete Ziel für unsere kostbaren Urlaubstage ist, als wir ganz plötzlich um eine ausladende Kurve kommen und, die seltsamen Bauhügel hinter uns lassend, in einer Umgebung landen, die unseren Wunschvorstellungen schon wesenlich näher kommt. Zwar ist es immer noch grau in grau und staubtrocken, aber zwischen den überall umherliegenden Felsbrocken wachsen unzählige Hoodias.
Hoodia gordonii
Man könnte es, wären die Pflanzen etwas höher, beinahe einen Wald nennen. Sofort halten wir an und beginnen, die stacheligen, kakteenähnlichen Würste in Augenschein zu nehmen. Tja, der Eindruck absoluter Trockenheit scheint nicht getrogen zu haben, denn die Aasblumengewächse sehen allesamt recht schrumpelig aus. Und natürlich zeigt sich in diesem Zustand auch keine einzige Blüte. Das aber tut unserer Freude keinen Abbruch. So viele Hoodias auf einen Haufen haben wir noch nie gesehen und es ist, nach dem etwas verhaltenen Einstieg in die Tiefen des Tankwa Karoo NPs, nun doch ein erstes grandioses Erlebnis, das durchaus nicht ohne Verheißung ist. Und ja, nachdem wir nach gründlicher Inspektion dieser Hoodia-Plantage wieder ins Auto geklettert sind und weiterfahren, wird es mit jedem Kilometer besser. Schon eine ganze Weile, bevor wir das Park Office erreichen, eröffnet sich uns ein Blick auf eine Bergkette, die ganz eindeutig üppig bewachsen ist und die verschiedenen Grüntöne lassen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Euphorbien schließen. Mann, wann sind wir denn endlich beim Büro? 35 Kilometer nach der Gatedurchfahrt ist es endlich soweit; wir sehen das Verwaltungsgebäude, stellen unseren Wagen auf dem Parkplatz ab und entern das Office. Das heißt, Annette, Jochen und Heinz gehen hinein, ich hingegen bleibe bei zwei Beeten, die den Eingang flankieren, kleben. Und auch, wenn diese Sichtungen nicht „gelten“ – weil angepflanzt – so bin ich dennoch überaus angetan von den Pflanzen, die einen kleinen Querschnitt der Parkflora repräsentieren. Von Augeas über Zygophyllums ist hier einiges zu finden; und wenn wir nur die Hälfte davon „in echt“ zu Gesicht bekommen, bin ich schon mehr als zufrieden. Beruhigt und voller Vorfreude auf unseren zweitägigen Aufenthalt im Park betrete nun auch ich das Büro, wo ich sogleich herzlich von einer Rangerin begrüßt werde. Ob ich kaltes Wasser trinken und etwas ins Gästebuch schreiben wolle? Hier gäbe es weiterhin einige Prospekte, dort ein Buch mit den Wetterdaten der vergangen Monate. Ich bin leicht überfordert von der überbordenden Freundlichkeit und der Angebotspalette, die mir hier unterbreitet wird, entschließe mich aber, ebenso herzlich dankend, eines nach dem anderen zu tun. Erst kaltes Wasser, dann das Gästebuch. Hui! Kein Wunder, dass die Dame so mitteilungsbedürftig ist; hier steppt besuchertechnisch nicht gerade der Bär – seit fast einer Woche hat sich hier schon keiner mehr eingetragen! Das verspricht absolute Einsamkeit! Und durchaus heftige Temperaturen, wie mir der nächste Blick, nun in das Wetterdatenbuch, offenbart: gestern hatte es satte 38,4 Grad (heute dürfte es gar etwas mehr sein) und der letzte Regen fiel vor sieben Tagen. Nun ja, Regen ist etwas übertrieben: genau 0,1 mm war es, also ein Fingerhut auf einen heißen Stein.
Einfahrt in unser Tal
Zygophyllum retrofractum
Schmutzkäfer (Eurychora sp.)
Doch das wussten wir ja schon im Vorfeld. Der März ist nicht wirklich die Reisezeit üppigen Wachstums und der Blütenmeere. Ich persönlich finde das nicht so schlimm, denn, so sagte ich halb im Spaß, halb im Ernst zu Heinz, wenn die ganzen Sukkulenten blühen, kann man die wundervollen Blätter gar nicht mehr sehen. Diese Bemerkung stieß nun nicht auf vollstes Verständnis bei Heinz. Und er hat natürlich recht. Sicher wäre es ein Wahnsinns-Erlebnis, die unscheinbaren Pflanzen in ihrer unglaublichen Blütenpracht zu erleben, doch wir sind eben jetzt, ein halbes Jahr vor der Hauptblütezeit hier und müssen das beste draus machen. Und das haben wir auch vor. Heinz hat sogar, was das „Unternehmen Tankwa“ noch zusätzlich bereichern könnte, ein Buch über die Pflanzenwelt der Gegend in der Verkaufsvitrine des Büros entdeckt und sofort erworben. „Siehste, da sieht man auch nur Blüten und keine Blätter!“, sage ich augenzwinkernd, als er das Buch vor meinen Augen durchblättert. Die Abbildungen werden in der Tat von wunderschönen, farbenprächtigen Blütensternen dominiert, was zugegebenermaßen einen echten Augenschmaus darstellt, dass ich mit meiner „Beschwerde“ aber doch nicht ganz daneben liege, das wiederum werden die folgenden Wochen zeigen. Denn wir bekommen zum größten Teil blütenlose Sukkulenten zu sehen – der fehlende Vergleich mit charakteristischen Abbildungen nur der Blätter erschwert uns deshalb so manche Bestimmung. Das aber ist Jammern auf hohem Niveau…
Mit interessanten Informationen, neuer Literatur und den freundlichen Wünschen der Rangerin ausgestattet, verlassen wir nun das Office und begeben uns auf den Weg zu unserem Camp, das uns die nächsten zwei Nächte beherbergen wird. Skaapwagterspos heißt der Ort, der mit keinerlei Einrichtungen ausgestattet ist – kein Wasser, kein Plumpsklo, nichts. Dafür aber scheint er, was wir nach ein paar Kilometern der Fahrt bereits erahnen können, in einem lauschigen Tal zu liegen, umgeben von sanften Hügeln. Volltreffer! Als wir von der Hauptstraße in unser Übernachtungs-Tal abbiegen, begeistert uns jedoch zunächst eine ganze Palette frischer Grüntöne, die von den frischen Triebspitzen diverser Beseneuphorbien und den kleinen Blättern zahlreicher Tylecodon-Arten stammen. Limettengrün, rotgrün, tannengrün, dazwischen rötliches Gestein – all das leuchtet in der warmen Nachmittagssonne wie die Mischpalette eines Landschaftsmalers. Und es scheint beinahe, als seien die Minimalregenfälle genau hier heruntergekommen, so saft- und kraftvoll, so frisch das Grün. Ganz anders, jedoch nicht minder schön, präsentiert sich schließlich die unmittelbare Umgebung unserer Campsite: hier dominieren starrige Zygophyllumbüsche, die nur winzige Blättchen tragen, aus ein paar Metern Entfernung aber wie einladende, kissenförmige Polster wirken und in allen erdenklichen Farbtönen von rostrot über grüngrau bis hin zu fliederviolett erstrahlen. Hah, hier lässt es sich aushalten!
Blick vom Camp aus
Camp Skaapwgterspos
Das schattenspendende Gazebo
Sofort nehmen wir unseren Lageraufbau in Angriff, eine recht schweißtreibende Angelegenheit bei fast vierzig Grad im Schatten. Schatten aber spenden hier nur einige größere Bäume, die am Rande der Campsite stehen und somit nicht direkt hilfreich sind. Doch wir sind ja perfekt ausgerüstet. Heuer nämlich kommt erstmals ein Gazebo, ein Sonnensegel, das von Zeltstangen gehalten wird, zum Einsatz. Wohlgemut leeren wir also das nötige Zubehör aus dem Packsack, der den ganzen Tag zuoberst auf unserem Wagendach ruhte, aus und wollen die Stangen ineinanderstecken. Aua! Verflucht, sind die heiß! Erst, als wir uns mit dicken Arbeitshandschuhen vor den glühenden Rohren schützen, können wir das Sonnensegel aufbauen und den wohlverdienten Schatten genießen. Schnell noch installieren wir den Gaskocher, setzen Teewasser auf, dann aber ist die Idylle perfekt: wir in unserem einsamen Tal, fernab jeglicher mitmenschlichen Präsenz, ein Tässchen Darjeeling in der Hand, den Blick in der Runde, Insekten summen im Baum, ab und zu überfliegt ein Vogel das Camp. Ansonsten: Stille! Und so verbringen wir den restlichen Nachmittag mit süßem Nichtstun. Erst, als sich die Sonne dem Horizont nähert, kommt wieder Leben in uns Faulpelze. Ein Kloloch muss gegraben werden, ein Sundowner getrunken und das Abendessen zubereitet. Outdoorstress pur… Nach dem Dinner fallen wir erneut in unsere Campingstühle, gruppieren uns ums Lagerfeuer und bewundern den einzigartigen Sternenhimmel, der sich wie eine samtblaue Domkuppel, gespickt mit unzähligen Lichtlein, über uns aufwölbt. Stundenlang könnte man so sitzen, doch ab und zu schadet auch ein prüfender Blick auf den Boden nicht. In diesem Falle wird er von Heinz geworfen, der auch sogleich, zu seinem maßlosen Entsetzen, etwas “Größeres, Sauschnelles” aus dem Augenwinkel davonhuschen sieht. Das sah aus wie eine Spinne, meint er schaudernd, war aber viel, viel, vieeel schneller. Eine Solifuge, mutmaße ich. Eine was? Minuten später bestätigt sich mein Verdacht, allerdings nur in kleinerem Maßstab: zahlreiche, blitzschnelle Walzenspinnen flitzen über den sandigen Boden zu unseren Füßen und sind auf der Jagd nach anderem Kleingetier. „Iiiiih, pfui deife, sind die greißlig!“, stößt Heinz mit tiefster Inbrunst hervor. Und ja, keinem von uns sind die kleinen Arachniden, die für ihre Schnelligkeit und Unerschrockenheit bekannt sind, wirklich geheuer. Sicherheitshalber lagern wir deshalb unsere Beine außerhalb der Reichweite der flitzenden Nachtjäger, etwas erhöht, und versuchen uns weiter auf den Sternenhimmel zu konzentrieren. Die Betonung liegt auf „versuchen“. Denn richtig relaxed sind wir nun nicht mehr. Außerdem übermannt uns allmählich eine bleierne Müdigkeit, der wir alsbald dankbar nachgeben und uns in unsere Zelte zurückziehen, akribisch darauf achtend, keine Solifuge mit in die Schlafsäcke zu nehmen…
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