Glück gehabt, das Ressort steht noch! Allerdings rüttelte der Wind die ganze Nacht am Bungalow und pfiff durch dessen leicht undichte Fenster. Diese fast anheimelnde Geräuschkulisse wurde jedoch durch eine weitaus imposantere, immens störende überboten: Heinz und ich hielten uns gegenseitig durch dezibelstarkes Geschnarche wach, dem wahrscheinlich auch noch der letzte Baum der Kaphalbinsel zum Opfer gefallen ist… Dementsprechend zerknittert und unausgeschlafen krabbeln wir jetzt, am frühen Morgen, aus unseren quietschenden Betten, lassen uns den Tag aber nicht vermiesen, sondern inspizieren erwartungsvoll das Wetter: blauer Himmel, die Sonne scheint freundlich, doch der kalte Wind hat leider nur wenig von seiner Vehemenz verloren und treibt uns schnell ins Chalet zurück. Bei einem ausgiebigen Frühstück beraten wir anschließend über unser Tagesprogramm, das zahlreiche Optionen bietet, die jedoch allesamt recht wetter- bzw. windabhängig sind. Das macht die Sache ein wenig schwierig. Doch nicht nur das heftige Geblase erschwert die Entscheidungsfindung, auch die Unentschlossenheit meiner Reisegenossen trägt nicht gerade zu einer raschen, wetterfesten Planung bei. Annette äußert als einzige einen Wunsch, nämlich den, die Pinguine zu besuchen, Heinz und Jochen hingegen halten sich vornehm raus und so bin ich, als vermeintlicher Kap-Experte, ganz schnell in der „Sag-doch-du-mal-Position“. Nun gut.
Unter Berücksichtigung der Wunschäußerung zimmere ich einen Vorschlag, den ich meinen Freunden sogleich unterbreite: „Wir könnten erst den Chapman’s Peak Drive fahren, da hat man bei diesem klaren Wetter sagenhafte Ausblicke auf Noordhoek und Hout Bay. Dann sind wir eh schon auf halbem Weg zum Tafelberg und, wenn der Wind sich bis dahin gelegt hat, böte sich eine Fahrt mit der Seilbahn an. Das würde ich wirklich gerne machen, denn ich war noch nie da oben. Und nach der positiven Erfahrung mit meinem persönlichen Horrorziel Sossusvlei fühle ich mich sogar diesem touristischen Highlight samt Menschenansturm gewachsen! Wenn die Bahn nicht fährt, könnten wir um den Berg rumkurven und stattdessen den Kirstenbosch Botanical Garden besuchen. Der liegt relativ windgeschützt und ist sehr sehenswert. Oder wir wandern ein Stück Richtung Tafelberg rauf, um wenigstens einen kleinen Blick auf die dortige Flora werfen zu können. Danach nehmen wir den Ou Kaapse Weg zurück nach Simon’s Town und gehen dort Pinguine kucken. Danach müsste ich unbedingt noch schnell in einen ganz bestimmten Laden. Der nämlich führt Hooligan Kids-Klamotten und da wollte ich ein paar Sachen für meine Patentochter besorgen. Ja, und dann ist der Tage sowieso schon wieder vorbei. Was meint ihr?“ Ein einstimmiges Ja schallt mir entgegen – geht doch!
So also packen wir ein paar Kleinigkeiten zusammen und werfen uns voller Vorfreude ins Auto, das uns zügig Richtung Noordhoek bringt. Dort startet der bekannte Chapman’s Peak Drive, eine fast zehn Kilometer lange, sehr kurvenreiche Küstenstraße, deren spektakuläre Ausblicke schon die Kulisse für so manchen Werbespot stellte. Nicht weniger bemerkenswert ist die Entstehungsgeschichte dieser in den steilen Felsen gehauenen Panoramastraße, die sich in 114 Kurven hoch über dem Meer nach Hout Bay schlängelt: Anfang 1900 wurde der De Waal Drive auf der Ostseite des Kaps fertiggestellt, der Kapstadt City endlich bequem mit den südlichen Vorstädten verband. Diese Strecke fand so großen Anklang, dass man überlegte, ein Pendant auf der westlichen Seite der Kaphalbinsel zu bauen; die Idee für den Chapman’s Peak Drive war geboren. Geologen suchten sogleich nach einer geeigneten Strecke und wurden fündig. Der Steilküste zwischen Noordhoek und Hout Bay, die vorwiegend aus 630 Millionen Jahre altem, extrem hartem Granit besteht, liegt nämlich eine weichere Sedimentschicht auf, die eine relativ gute Bearbeitbarkeit versprach. Relativ, denn die Arbeitsbedingungen hoch über dem Ozean waren nichtsdestotrotz schwierig bis lebensgefährlich. Praktisch, dass man jede Menge Straf- und Kriegsgefangene für diese riskante Tätigkeit zum Einsatz bringen konnte… Und sie machten ihre Arbeit gut – nach siebenjähriger Bauzeit, im Jahre 1922, konnte die Westtangente endlich eröffnet werden und wurde sofort mit Begeisterung genutzt. Allerdings gab es immer wieder Bergrutsche und Buschbrände, die kurzfristige Sperrungen erforderlich machten, der Straße aber nicht nachhaltig schadeten. Ende 1999 jedoch kam ein Bergrutsch herab, der den Drive zum Großteil verschüttete und zerstörte. Und diesmal wurde die Strecke gezwungenermaßen bis auf weiteres gesperrt, denn sie war unbefahrbar und lange konnten keine ausreichenden Mittel für die kostenintensive Instandsetzung aufgetrieben werden. Zwei Jahre später dann fand sich doch ein Privatinvestor, der 150 Millionen Rand in die Sanierung der Straße und den Ausbau weiterer Sicherungsmaßnahmen steckte. So wurden zum Beispiel ein 155 Meter langer Lawinen-Halbtunnel errichtet, vier Kilometer stählerne Steinfangnetze verbaut, zehn Tonnen Asphalt verwurstet und der brüchige Fels fachgerecht stabilisiert. Ziemlich genau vier Jahre nach dem verheerenden Bergrutsch konnte der Chapman’s Peak Drive schließlich in neuem Glanze wiedereröffnet werden – diesmal allerdings als Mautstraße; irgendwie muss die investierte Kohle ja wieder reinkommen. Und kaum haben wir Noordhoek verlassen, stoßen wir auch schon auf das Kassenhäuschen, wo man uns 33 Rand abknöpft – vergleichsweise wenig, finde ich, wenn man den Sanierungs- und Instandhaltungsaufwand dagegenhält. Doch uns soll es recht sein.
Gespannt durchfahren wir die hochgeklappte Schranke und steuern erwartungsfroh der Küste entgegen. Die Ausblicke, die sich uns nun auf den folgenden Kilometern bieten, sind jeden einzelnen Rand wert: das Meer liegt ruhig wie ein dunkelblaues Samttuch unter uns, Kommetjie schmiegt sich an einen endlos langen, weißen Sandstrand, jede Kurve ändert die Sicht auf die hufeisenförmige Bucht von Hout Bay und zu unserer Rechten sprießen immer wieder interessante Pflanzen aus engen Felsritzen. Genussvolle Minuten später erreichen wir Hout Bay, durchqueren den Ort in westlicher Richtung, schlängeln uns weiter an der dicht besiedelten Küste entlang und schrauben uns zu guter Letzt hinter Camps Bay rechts den Berg nach oben, der Talstation der Seilbahn entgegen. Ich wollte ja unbedingt hier her, dennoch ziehe ich jetzt instinktiv, in banger Erwartung riesiger Touristenscharen, den Kopf ein. Das aber ist völlig unnötig, denn wir fahren und fahren und können bald darauf unser Auto, ganz bequem, beinahe in Sichtweite der Talstation parken. Oh weia, hier ist so wenig los, dass ich schon fast vermute, die Seilbahn sei aufgrund des Windes nicht in Betrieb. Doch schon wieder habe ich mir umsonst Sorgen gemacht, denn die beiden Gondeln verkehren munter, die Sonne strahlt und der Wind hat sich völlig gelegt. Absolutes Kaiserwetter!
Während Heinz und ich nun mit in die Nacken gelegten Köpfen fasziniert nach oben starren und Jochen noch im Auto kramt, saust Annette schon mal los, um Tickets zu besorgen. Zehn Minuten später ist sie wieder da und teilt die Billets freudestrahlend aus. „Super, ich musste fast nicht warten! Heinz, deines, Barbara, für dich und… Oh, Mist, jetzt habe ich doch tatsächlich nur drei gekauft!“ Rohrspatzend trabt sie erneut zum Kassenhäuschen. „Ich hab’ halt die letzten Wochen immer nur für drei Leute eingekauft. Jetzt muss ich mich wieder umstellen…“ Wie gut, dass heute Besucherflaute herrscht! So können wir eine Viertelstunde später alle zusammen, jeder mit einem Ticket bestückt, zu den Treppen marschieren, die zum Gondeleinstieg führen. Kurzes Stocken, dann geht es weiter und bei der nächsten Abfertigung dürfen auch wir mit einsteigen.
Ich weiß nicht genau, wie viele Passagiere es sind, die sich jetzt in die Gondel drängen (angeblich passen 65 Menschen hier rein), aber es ist wie überall, wo Menschen aufeinandertreffen: jeder sucht nach seinem Vorteil. So auch in dieser Situation. Wie die Geier hechten die meisten zum Rand der Kabine, dahin, wo die Fenster sind und von wo aus sie sich die beste Sicht versprechen. Was sie allerdings nicht zu wissen scheinen ist, dass diese Gondel eine sogenannte Rotair-Gondel ist, eine, wie es sie nur dreimal auf dieser Welt gibt. Das besondere an diesem Wunderding ist eine integrierte Plattform, die sich auf der fünfminütigen Fahrt einmal um 360 Grad dreht, sodass jeder Passagier die Gelegenheit hat, den Rundumblick in vollen Zügen zu genießen. Und aufgrund der sich drehenden Aussichtsscheibe ist es auch nicht erwünscht, direkt an den Fenstern zu kleben und an der Reling zu lümmeln. Da schau’n sie dumm, die Vorteilsgeier, als sie zurückgepfiffen werden! Als nun endlich alle Passagiere zur Zufriedenheit der Gondelführerin platziert sind, erhebt sich die Konstruktion in die Lüfte und schwebt mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit von bis zu 10 Metern pro Sekunde der Gipfelstation entgegen. Nach fünf Minuten sind über 700 Höhenmeter, die wirkliche spektakuläre Ausblicke boten, überwunden und wir dürfen auf einer Höhe von 1067 Metern über dem Meer wieder aussteigen. Bei der Fahrt nach oben hatte ich übrigens stets die Hänge der Tafelbergs im Blick, denn ich wollte sehen, was da so wächst – die Ausbeute allerdings war leider recht ernüchternd.
Nun aber, da wir die ersten Meter über das Plateau schreiten, ändert sich dieser Eindruck schlagartig: wir befinden uns hier in einem ganz eigenen Reich von Pflanzen, dem Cape Floral Kingdom, das mit einer Anzahl von 8200 Spezies das artenreichste der Welt ist und im Jahre 2004 zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Das Plateau des Tafelbergs ist Teil dieses Pflanzenreiches und mit 1460 floralen Spezies, die dort oben unter recht widrigen Wetterbedingungen gedeihen, eine echte Schatzkiste der Natur.
Bereits nach wenigen Schritten, die uns von der gepflasterten Aussichtsterrasse Richtung Südosten führen, gehen uns die Augen und die Herzen über! Erikas in zig Variationen, Crassulas, Orchideen, Flechten, Proteen und andere phantastische Gewächse erfreuen unsere Sinne und versetzen uns in Staunen. Unglaublich, was hier alles gedeiht! Und wie gut alles organisiert und beschildert ist. Nein, damit meine ich nicht die Pflanzen, sondern die Wege, die die Besucherströme von der empfindlichen Vegetation fernhalten (sollen) und sie ihnen trotzdem sehr nahe bringen. Doch apropos Besucherströme: es stehen drei Rundgangsvarianten zur Verfügung, wovon wir natürlich die längste wählen, die aber mit ihrer ehrfurchtgebietenden Zeitangabe von sage und schreibe 45 Minuten offenbar die meisten Besucher abschreckt, so dass wir letztendlich relativ alleine unterwegs sind. Nun ja, nicht ganz alleine, aber es ist wirklich erträglich und ich bin, wie vor zwei Jahren in Sossusvlei, mal wieder positiv überrascht.
Langsamen Schrittes bewegen wir uns staunend voran, von einer grünenden, blühenden Schönheit zur anderen, von denen die meisten endemisch sind, viele von ihnen sogar nur hier auf dem Plateau des Tafelbergs vorkommen. Leider hatte ich mich im Vorfeld noch nie wirklich eingehend mit Fynbos beschäftigt, wusste zwar, dass diese Vegetationsform sehr artenreich ist, dass sie aber so viel zu bieten hat, und das, obwohl wir außerhalb der Hauptblütezeit vor Ort sind, haut mich völlig von den Socken – und treibt mir den „Angstschweiß“ auf die Stirne. Holla die Waldfee, das wird harte Bestimmungsarbeit! Jetzt jedoch sind wir erst mal da und ich kann das Bestimmen ja noch vier Wochen vor mir herschieben. Außerdem, und das freut mich besonders, können wir das meiste zumindest schon mal mittelgrob zuordnen: Erikagewächse, die wir von heimischen Moor- und Heidelandschaften hinreichend kennen, existieren im Fynbos in einer fantastischen Farben-, Formen- und Größenvielfalt. Da sind kleine, unscheinbare Pölsterchen mit feinen marzipanweißen Glöckchen, geschmückt von satt magentafarbenen Staubgefäßen, etwas größere Pölsterchen, die sich in engen Felsritzen drängen und leuchtend pinkfarbene Blüten haben, aber auch hochgestielte Exemplare, deren feuerrote Blütenkelche wie lange Glocken anmutig nach unten hängen. Wir entdecken außerdem Crassulas, deren extrem symmetrischer Aufbau etwas unendlich Faszinierendes an sich hat, crassulaähnliche Pflanzen, die ebenso symmetrisch sind, aber einer ganz anderen Familie angehören und sogar Erikas, die crassuloide Wuchsformen zeigen. Ich krabble gerade fasziniert auf allen Vieren am Weg herum, womit ich erstaunte Blicke anderer Besucher auf mich ziehe, und fotografiere meine Symmetrieschätzchen, als Heinz begeistert aufquiekt und mich aufgeregt herbeiwinkt. „Eine Disa, kuck mal, eine Disa!“, schmettert er mir hocherfreut entgegen. Und tatsächlich: vor uns, direkt neben dem Weg, steht ein blaublütiges Prachtexemplar dieser Orchideenart. Sie ist wunderschön, selbst wenn man ihr nur einen flüchtigen Blick gönnt, betrachtet man sie aber aus der Nähe, offenbart sie ihre wahre Schönheit: drei zart violette Blütenblätter, ein schirmartiges oben und zwei flügelförmige unten, bilden den Rahmen ein für purpur-weiß gestreiftes Labellum, dessen Zentrum von zwei verschmelzenden, pistazienfarbenen Flecken übergekrönt wird. Wir sind hingerissen und fotografieren die floralen Schmetterlinge bewundernd von allen Seiten.
Unser Tun scheint jedoch die Aufmerksamkeit diverser anderer Besucher zu erregen, die bis dato offenbar recht blind durch die Gegend gesteuert sind; allen voran eine asiatische Familie mit zwei kleineren Kindern. Mehr oder weniger unauffällig folgen sie uns und fotografieren alles, was auch wir der Bildermacherei für wert befinden. Bei manchem „Gestrüpp“ scheinen die Vier zwar komplett ratlos, was genau und warum wir da so angetan knipsen, das meiste aber ist so augenfällig und spektakulär, dass sie uns die nächste Viertelstunde quasi als Detektoren benutzen… Wir entdecken eine zartrosafarbene Gladiole und schwupp, schon sind sie da, Heinz findet eine hübsche Strohblume, zack, sind unsere schlitzäugigen Freunde ebenfalls zur Stelle. Immer drängender und dreister werden sie bei ihrer Verfolgung; sie fragen nicht, was da wächst, sie sprechen nicht mit uns, nein, sie folgen uns einfach nur in inzwischen höchst aufdringlicher Art und Weise. Als wir eine rote Orchideenart abseits des Weges aus dem Bewuchs leuchten sehen und Heinz dort hindeutet, hält sie schließlich nichts mehr. Wie der Blitz springen die Vier, bar jeglicher asiatischen Höflichkeit, vom Weg und trampeln durch die Botanik, um nur ja vor uns bei der grellfarbenen Blume zu sein. Jetzt reicht es aber! Wir rufen den Herrschaften hinterher, sie dürften die Wege nicht verlassen und sollten sofort zurückkommen. Doch wir ernten nur einen kurzen, verschreckt-irritierten Blick, dann hasten sie weiter. In ihrer Blindheit aber haben sie die meterweit leuchtende Blume aus den Augen verloren, wuseln hektisch in Greifweite an ihr vorbei, tauchen hinter einer Kuppe ab und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.
Meine Güte, was für ein unruhiges Gschwerl! Da spricht man immer von asistischer Zurückhaltung und Höflichkeit, das aber trifft ganz offensichtlich nicht auf alle Angehörigen dieser Volksgruppe zu. Wir für unseren Teil auf jeden Fall sind sehr froh, diese aufdringlichen Verfolger abgeschüttelt zu haben und wieder in aller Ruhe unsere Gewächse entdecken zu können. Und das tun wir ausgiebig. Doch nicht nur die Vegetation auf dem Tafelberg hat einiges zu bieten, wie wir immer wieder feststellen dürfen, auch die Tierwelt ist vielfältig und hochinteressant. Tiefschwarze Gürtelschweife sonnen sich auf den warmen Felsen und verrenken ihre kleinen Körper, um möglichst viel Wärme einzufangen. Immer wieder sind zudem wesentlich größere Felsagamen zu sehen, deren Körper hervorragend getarnt sind, die leuchtend türkisblauen Köpfe jedoch verraten sie auf schönste Art und Weise. Ebenfalls gut getarnt beziehungsweise prächtig gefärbt präsentieren sich zahlreiche Vögel, die jedoch allesamt recht scheu und, bevor man sie richtig sieht oder gar abdrücken kann, wieder verschwunden sind. Eines jedoch verschwindet nicht – die Aussicht! Je weiter die Zeit fortschreitet, je höher die Sonne steigt, desto klarer wird die Luft und, als wir die Hälfte des Weges hinter uns haben, breitet sich Kapstadt in voller Pracht zu unseren Füssen aus: die Table Bay liegt wie ein Bilderbuchausschnitt vor uns, zeigt uns ganz unverhüllt die Gipfel von Lion’s Head und Signal Hill, die ineinanderschmelzenden Orte der Bucht, den Hafen, das neue Fussballstadion, sogar Robben Island lässt sich erahnen! Was für ein Tag, was für ein Wetter und das, obwohl wir heute Morgen noch nicht allzu viel Grund zur Zuversicht hatten!
Dass das Wetter eine unerwartet positive Entwicklung genommen hat, merken wir aber leider nicht nur an der phantastischen Aussicht, sondern auch an der zunehmend größer werdenden Besuchermenge. Besucher, die tatsächlich den „langen“ Weg auf sich genommen haben, aber ebenfalls größtenteils von asiatischer Unruhe besessen scheinen! Was da nicht alles umherwuselt: recht betagte Herrschaften, die sich ohne Gehstöcke kaum noch auf den Beinen halten können, Herrengruppen mit mottobedruckten Vereins-T-Shirts, Familien mit gelangweilten Kindern, wie wahnsinnig knipsende Hobbyfotografen und eine Vielzahl von kaltblütigen Sehenswürdigkeiten-Abhakern. Kaum einer dieser Menschen scheint sich jedoch für das zu interessieren, was, in unseren Augen, eines besonders ausgiebigen Blickes würdig wäre – nämlich die einzigartige Tier- und Pflanzenwelt hier oben. Das ist zwar extrem bedauerlich und tut mir fast persönlich weh, könnte uns aber eigentlich weitestgehend egal sein, wenn da nicht eine Sache wäre: die Touris sind so im Tafelberg-Wahn, dass sie uns permanent Vögel und Eidechsen verscheuchen, ohne es überhaupt zu bemerken und, noch schlimmer, in einer Tour von den Wegen abweichen und somit auf den wundervollen Pflanzen herumtrampeln. An einem Ort wie diesem jedoch ist das wohl leider der Normalzustand, der sich heute sicher noch in abgeschwächter Form präsentiert. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das in der Hochsaison ist… Doch nein, ich bin schon wieder undankbar! Wir sind hier auf dem Tafelberg, DEM Besucherziel Kapstadts, und dürfen uns alleine dafür glücklich schätzen, ganz besonders aber auch für unsere relativ einsame Zeit hier oben. So also entfurche ich meine Stirne, die sich gerade vor Unmut über die Anwesenheit eines vorübertrampelnden, schwedischen Kegelclubs in albernen Vereins-Leibchen in tiefe Falten legen will und verinnerliche stattdessen das bisher Gesehene. Om! So fühle ich mich gleich relaxter und kann das nun Folgende weiter genießen: die Sonne steht schon recht hoch und wir machen uns auf den Weg zurück zur Gipfelstation, wo jetzt recht reges Treiben herrscht.
Trotzdem oder eben gerade deswegen gibt es auch da einiges zu beobachten: Vögel, die genau wissen, dass der Tisch hier immer gut gedeckt ist und entsprechend zutraulich sind, Klippschliefer, die sich völlig unbeeindruckt unterhalb der Terrassenmauer rekeln, Touristen, die total verschreckt von der so nahen Präsenz der Tiere kreischend die Flucht ergreifen und ein festliches Buffet, das bereits bei unserer morgendlichen Ankunft fertig aufgebaut in der prallen Sonne stand. Sage und schreibe drei Stunden später sind wir jetzt wieder hier, aber die opulent gedeckten Platten schmoren noch immer in der Hitze. Rosa Räucherlachs, bunte Meeresfrüchte, ehemals frisches Obst, vormals appetitlicher Aufschnitt und in geschmolzenem Eis steckende Sektflaschen brüten, heizen bei über dreißig Grad ungeschützt vor sich hin. Eine Serviceangestellte zieht gerade schwarze(!) Plastikfolien über die kostbaren Lebensmittel, die sicher für die Gäste einer Hochzeit oder eines runden Geburtstages bereitgestellt wurden. Die feierliche Gesellschaft jedoch ist leider nicht in Sicht. Sie sollten sich mal beeilen, denn das Essen wird bei dieser Behandlung nicht besser… Vielleicht aber weniger, denn auffallend viele geflügelte und bepelzte Lebewesen interessieren sich für die nahezu unbeaufsichtigten Lebensmittel. Und diese Momente sind ein erneutes Geschenk für uns: schamlos und völlig furchtfrei hoppelt ein Dassie am Buffet entlang, stürzen sich Glanzstare testhalber auf die noch ungeschützten Platten, stolziert eine Guineataube demonstrativ uninteressiert am Rande der das Buffet eingrenzenden Steinmauer entlang. All diese tierischen Besucher sind so menschengewöhnt, so zutraulich, so auf Futter fixiert, dass sie das menschliche Gewusel um sich herum scheinbar nicht zur Kenntnis nehmen. Scheinbar.
Denn in Wirklichkeit registrieren sie jede Bewegung, jedes zu Boden fallende Krümelchen, jede Sekunde der Unaufmerksamkeit. Voller Unschuld schleicht sich zum Beispiel der Klippschliefer an das Buffet heran (könnte er pfeifen, würde er das wahrscheinlich tun), witscht nahe an den Beinen einer dicklichen Touristin vorbei, die vor Schreck fast ihre Stulle fallen lässt, und sucht wachsam nach einer passenden Gelegenheit, unter die Frischhaltefolie zu schlüpfen. Drei Serviererinnen haben alle Hände voll zu tun, das zu verhindern… Ein paar Meter weiter sitzt ein älterer Herr auf der Terrassenmauer, hält einen Keksriegel in der Hand und blickt gedankenverloren in die Ferne. Ein vorwitziger Glanzstar nutzt die Gunst der Stunde und pickt eifrig an der Süssigkeit. Als der Mann das endlich bemerkt, zuckt er heftig zusammen und wirft anschließend die vom Vogelschnabel besudelte Leckerei in hohem Bogen von sich. Sehr zur Freude des Übeltäters und seiner Kumpanen, die nun im Sturzflug herbeibrausen und so manchen weiteren Touristen in Angst und Schrecken versetzen. Bei diesem vergnüglichen Treiben könnte ich wirklich stundenlang zusehen, doch ein Blick auf die Uhr legt uns ein Verlassen des Tafelbergs nahe, wollen wir unser heutiges Programm noch voll durchziehen. Und das möchten wir natürlich.
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