Unsere heutige Strecke ist, mit rund 230 km, zwar vergleichsweise kurz, aber wir stehen früh auf, um am Nachmittag noch Zeit für diverse Erledigungen in Lusaka zu haben. Wir frühstücken und packen leise unsere Sachen zusammen, denn wir wollen ja keine Dr. Schönfärbers wecken. An der Mauer, die den Campingplatz umgibt, tauchen mehrere Kinderköpfe auf; wir werden bei all unseren Aktionen kichernd beobachtet. Frau Dr. Schönfärber erbarmt sich der armen Kinderlein und beglückt sie mit Bonbons… Vom aufgeregten Geschrei wacht nun auch ihr Gatte auf und quält sich aus dem Dachzelt. Doch zu unserem Glück ist er wohl eher ein Morgenmuffel; er bedenkt uns lediglich mit einem leichten Kopfnicken, der Mund bleibt zu.
Kurz darauf verstauen wir die letzten Kisten im Auto und fahren rauf zur Brücke. Tief unter uns stehen mehrere Frauen und Kinder beim Wasserholen und Geschirrspülen am Ufer des Flusses, blicken zu uns herauf. Noch bevor wir den Ausblick auf die Brücke richtig genießen und Fotos machen können, stürmen aus den steilen Flanken der Uferböschung schon laut schreiend mindestens 15 Knirpse auf uns zu. Hier, in dieser Gegend, sind sie an Touristen gewöhnt und deshalb alles andere als schüchtern – bald haben Annette und ich mehrere Kinder fest an Hosen und T-Shirt kletten. „Give me my money, give me my sweets“ tönt es, wie fast überall in Sambia, aus den verschmierten Mündern. Ein besonders dreister Frechdachs steht vor uns, eine fast leere Chipstüte in der Hand, das Gesicht voller Brösel und insistiert: „Give me my food!“ Ich unterbreite ihm, rein aus Interesse auf seine Reaktion, den Vorschlag, er könne einen Schokoriegel haben, wenn er mir seine Chips gäbe. An diesem doch sehr fairen Tauschgeschäft aber ist der Knirps nicht interessiert, er will den Riegel und die Chips behalten. Tja, so kommen wir nicht ins Geschäft.
Immer mehr Kinder kommen herbei, Joachim ist schon ins Auto geflüchtet. Annette und ich tun es ihm nach, allein Jürg robbt noch irgendwo in den Büschen umher. Als er kurz darauf auftaucht, fallen die Kinder über ihn her und er sieht zu, ebenfalls schnell ins Auto zu klettern. Die Strecke führt zuerst fast stetig bergan. Wir passieren üppig bewaldete Hügel und genießen immer wieder zauberhafte Ausblicke auf kleine Täler, Flüsschen und Dörfer. Dann geht es runter in die Senke von Rufunsa, entlang der Grenze des Lower Zambezi NP, wo wir schön langsam wieder an Höhe gewinnen. Zwischen Rufunsa und Chongwe ist auf unserer Karte nicht eine Ortschaft eingezeichnet, dennoch kommen wir alle paar Kilometer an einer kleineren Ansiedlung vorbei. Überall wird uns freundlich gewunken, man sieht uns neugierig hinterher. Auf der Straße sind wie üblich zahlreiche Fußgänger unterwegs, Radfahrer hingegen bekommen wir immer seltener zu Gesicht. Das ist aber kein Wunder, denn die Straße führt in steilen Anstiegen und Gefällen fast paßartig über dutzende von Bergausläufern; das ist anscheinend sogar für die trainierten hiesigen Radler zu viel des Guten.
Kurz vor Chongwe sehen wir schon von weitem eine Schranke quer über die Straße ragen, ein Stopp-Schild prangt prominent am Schlagbaum. Das ist nichts ungewöhnliches für Sambia, denn bei jedem Distrikt-Wechsel passiert man eine solche Kontrolle. Meist wird man durchgewunken, manchmal muss man seine Autopapiere und Pässe zeigen. Als wir näher kommen, sehen wir, dass der Mann an der Schranke kein Uniformierter ist und sein Interesse sicher nicht unseren Visa und Versicherungen gilt: auf dem Stoppschild wurde mit der Hand nachträglich ein „Tsetse“ aufgemalt. Wir müssen anhalten, der Kontrolleur umrundet unser Auto, wirft einen kurzen Blick ins Innere, murmelt zufrieden „No Tsetses.“ und öffnet uns die Schranke. Aha, so wird also „sicher“-gestellt, dass keine Tsetses in den Großraum Lusaka eingeschleppt werden. Wie gut, dass wir unsere aufgespießten Fliegen schon lange davor wieder vom Armaturenbrett entfernt haben…
Auf den folgenden Kilometern merkt man immer deutlicher, dass wir uns der Hauptstadt nähern. Der Verkehr nimmt stetig zu, insbesondere die LKW werden mehr. Röhrend und qualmend quälen sich die Brummis steile Anstiege hinauf, zum Teil völlig überladen; mit abenteuerlichsten Techniken wurden Güter aller Art auf windschiefe Ladeflächen gezurrt und oft lugen unter einer Plane noch Passagiere hervor. Alle paar Kilometer kommen wir an riesigen Holzkohle-Depots vorbei, im Schatten der Säcke lauern Verkäufer, warten Menschen auf eine Mitfahrgelegenheit, halten Frauen beim Haareflechten ein Pläuschchen. Schwer beladene Radfahrer, jetzt sieht man sie wieder, transportieren bis zu 100 kg auf ihren Drahteseln Richtung Osten, um ein bisschen Geld zu verdienen – denn mit jedem Kilometer, den man sich der Stadt nähert, wird Holzkohle teurer. Auch einige LKW-Fahrer erhoffen sich so einen Zusatzverdienst und packen noch zentnerweise schwarzes Gold auf ihre ohnehin schon ächzenden Gefährte.
Ein Buschbrand wütet rechts und links der Straße, die gefährdeten Kohle-Lager wurden bereits evakuiert, vereinzelte Brocken, die auf der Strecke blieben, werden nun im dichten Qualm von Kindern eingesammelt. In immer kürzer werdenden Abständen kommen wir durch Dörfer; fast überall gibt es eine Schule und – ein Schild der HIV/Aids Task Force. Kondome werden mit keinem Wort erwähnt, der Rat lautet schlicht und einfach „Abstinenz“. Bestimmt die sicherste Methode, sich zu schützen, aber nicht wirklich praxisnah. Erst neulich habe ich Henning Mankells „Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt“ gelesen. Der Autor, der schon lange Zeit in Afrika lebt, befasst sich in diesem Buch mit einem Projekt, das erkrankte Eltern dazu ermuntert, Erinnerungsbücher für ihre Kinder zu verfassen, beschreibt persönliche Erfahrungen mit Betroffenen und erwähnt auch immer wieder die Mythen und Irrglauben, die sich um die Krankheit und den Schutz vor selbiger ranken. Aids ist auf der ganzen Welt ein immens wichtiges Thema, aber insbesondere in Entwicklungsländern, in denen weder die Mittel für Protektion, geschweige denn für eine Therapie vorhanden sprich bezahlbar sind. Da sind, meiner Meinung nach, Edukation, Aufklärung und Entmythisierung die einzig praktikable Form. Und das geht nicht von einem Jahr auf’s andere, von einer Generation nahtlos auf die nächste. Insofern hat die Task Force recht. Doch wenn in einem Land, wie eben in Sambia, rund 20% der erwachsenen Bevölkerung HIV-positiv sind, ist das verdammt viel. Zieht man den weit verbreiteten Irrglauben, Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau könne AIDS heilen, ins Kalkül, wird deutlich, dass der gut gemeinte Rat der Task Force nicht ganz den Kern der Sache trifft.
Nachdenklich starre ich aus dem Fenster, die Ortschaften ziehen vorbei und ehe ich mich versehe, sind wir schon am äußersten Stadtrandbezirk von Lusaka angekommen. Bei unserem letzten Stopp nächtigten wir im Eureka Camp, das aber sehr laut und busy war. Deshalb wollen wir heute mal das Pioneer Camp unter die Lupe nehmen, da es laut Reiseführer ruhig und einsam liegen soll.
Wir werden von einer freundlichen jungen Dame empfangen, die uns bereitwillig die Facilities und das Campgelände zeigt. Ja, hier gefällt es uns: hohe Bäume spenden Schatten, das Areal ist weitläufig und andere Camper sind weit und breit nicht zu sehen. Wir suchen uns ein lauschiges Plätzchen, ganz in der Nähe einer riesigen Bambushecke, bauen alles auf und machen uns dann auf den Weg zur Shopping Mall „Manda Hill“. Annette und Joachim setzen Jürg und mich dort ab und fahren zur nahegelegenen Botschaft von Mosambik. Jürg zieht es ins Internetcafé, mich in den einzigen Souvenir-Shop. Dort hatte ich schon bei unserem ersten Aufenthalt in Lusaka eine wundervolle Auswahl von Wire-Art-Tierchen gesehen, diese kleinen Kunstwerke aus Glasperlen und Draht, die mir erstmals in Livingstone ins Auge stachen. Jetzt, am Ende unserer Tour, kann ich zuschlagen. Ich kaufe einen 30-cm-Gecko in braun-gelb und den gesamten Bestand an Mini-Geckos in blau. Recht viel teurer als in Livingstone sind die Perlentiere nicht, dafür aber wesentlich besser verarbeitet. Stolz und glücklich ziehe ich mit meiner Beute zu Jürg ins Internetcafé. „Ah, oh“, sagt er, „sind die schön! Da geh ich wohl später auch noch hin und kaufe mir einen von den blauen Geckos!“ Er ist sehr enttäuscht, als ich ihm sage, dass sich der gesamte Bestand in meinem Besitz befindet und noch enttäuschter, als ich ihm keinen abtreten will. Es tut mir so leid, ihm das Egoisten-Biest vorzuspielen, aber mir ist bei seiner sehnlichen Anfrage eine Idee gekommen: Jürg hat übermorgen Geburtstag und da schenk ich ihm einfach einen blauen Gecko! Ein bisschen irritiert ist Jürg schon, als ich rundweg ablehne, aber höflich, wie er ist, zeigt er Verständnis. Dass er mich jetzt vielleicht eineinhalb Tage für ‘ne egomanische Kuh hält, wird durch meine Vorfreude auf das Geschenk doch ein wenig als ausgeglichen.
Nachdem die Sachlage – zumindest für mich – geklärt ist, kaufe ich eine halbe Stunde Internetzeit, um die Telefonnummern für meine Flug-Rückbestätigungen herauszufinden. Schnell sind die Nummern notiert, ich lasse Jürg wieder allein beim Beantworten seiner Familienpost in der klimatisierten www-Ecke und gehe zum Telefonieren auf den sonnenbeschienenen Mall-Parkplatz. Bei der British Airways bekomme ich eine Bandansage, die mir mitteilt, eine Rückbestätigung sei nicht nötig; auch gut. Also versuche ich es als nächstes bei der SAA, die sowohl Jürg als auch mich übermorgen von Lusaka nach Johannesburg bringen soll. Die SAA hat ihr Büro im Intercontinental Hotel und obwohl die Bürozeit offiziell erst um 16.30 Uhr endet, krieg ich jetzt, um 14 Uhr, niemanden mehr an die Strippe. Die Dame der Hotelrezeption, an die ich schließlich weitergeleitet werde, empfiehlt mir, zum Flughafen zu fahren, um dort meinen Rückflug fix zu machen.
Mit dieser Info kehre ich zu Jürg zurück, der gerade eine Session abschließt. Da wir auf dem Rückweg zum Camp ohnehin fast direkt am Flughafen vorbeikommen, beschließen wir, die Sache dann gleich erledigen. Beruhigt gehen wir gemeinsam eine Kleinigkeit essen, sehen danach beim Outdoor-Café vorbei, wo wir mit Annette und Joachim lose verabredet sind. Keiner da! Also hängt Jürg eine weitere Internet-Session an, ich bummle interessehalber durch diverse Läden der Mall, sehe mich um, aber so richtig schöne Geschäfte gibt es hier nicht. Bis auf den Souvenir-Shop…
Manchmal braucht es ein bisschen Zeit, bis ich eine Kaufentscheidung treffe, mag sie auch noch so läppisch sein; aber ein Perlenfrosch hat es mir angetan und spukt die ganze Zeit in meinem Kopf herum. Grübel-denk-überleg, ja! Zielsicher steuere ich daraufhin in den Laden rein und treffe dort – Jürg, der auch gerade am Stöbern ist. Ich nehme meinen avisierten Frosch in die Hand und assistiere dann Jürg bei seinen Entscheidungen. Um ein Wire-Art-Flugzeug und ein paar Tierchen reicher lassen wir uns wohlig auf der Terrasse unseres Treffpunkt-Cafés nieder, bestellen zu Trinken und ein paar süße Naschereien. Plötzlich taucht Annette auf; sie schiebt einen schwer beladenen Einkaufswagen vor sich her und fragt, ob wir Joachim getroffen hätten. Haben wir nicht; der ist immer noch, abermals offenbar, bei der Botschaft von Mosambik zugange. Als die beiden ihr Visum abholen wollten, wurde ihnen beschieden, dass dies nicht möglich sei, denn es gäbe momentan keine Klebeetiketten für den Pass. Shit! Also forderten die zwei ihre Unterlagen nebst Passfotos zurück, was aber ad hoc nicht möglich war; sie sollten doch in ein paar Stunden nochmal vorbeischauen. Joachim brachte Annette zur Mall, sie kaufte ein, er brannte DVDs von den vollen Foto-Chips und fuhr zurück zur Botschaft, um die unerledigten Papiere einzusammeln. Mittlerweile steht die Sonne tief, die Caféterrasse liegt im Schatten und es wird unangenehm kalt. Doch unser aller Jacken liegen im Auto, das mit Joachim bei der Botschaft ist. So frösteln wir bei Cola und Kuchen, bis endlich, nach einer Stunde des Wartens, Joachim auf den Parkplatz biegt.
Die Papiere sind wieder da, immerhin, die Fotos auch, aber ansonsten ist nichts dienliches bezüglich der Grenzüberschreitung nach Mosambik passiert. Annette und Joachim bleibt nichts anderes, als sich damit abzufinden und vor Ort auf einen problemlosen Übertritt zu hoffen. Frierend steigen wir schließlich ins Auto, treten den Weg zum Pioneer Camp an. An der Stadtgrenze fahren wir dir Abfahrt zum Flughafen raus, um Jürgs und meine Rückbestätigung zu erledigen. Der Parkplatz ist natürlich kostenpflichtig, wird nach Standzeit berechnet und Jürg und ich eilen ins Terminal. Kein Büro, kein Schalter, der uns nützlich sein könnte, ist mehr besetzt, nur ein einzelner Flughafen-Angestellter ist noch unterwegs. Auf unsere Nachfrage schickt er uns „an der Treppe vorbei nach links, dann nach oben und da wären wir auch schon.“ Wir folgen seinem beflissenen Zeigefinger, bis zur Treppe, aber da geht nichts nach links. Auch nicht nach rechts. Also steigen wir die Treppe nach oben, wohl wissend, dass wir eine Strictly-No-Entry-Zone betrete, landen in einem Flur-Nirvana, aber kein SAA-Büro ist zu entdecken. Dafür erwischt uns ein mit Schlagstock bewaffneter Sicherheitsbeamter: „Hey, you, you are not allowed to enter here!“, schnauzt er uns wenig freundlich an. Wir entschuldigen uns natürlich und erklären ihm, dass wir lediglich das SAA-Büro suchten. Auf einmal ist er ganz freundlich, hebt zu wortreichen Erklärungen an, winkt aber dann ab und führt uns stattdessen höchstpersönlich durch den Irrgarten der Gänge und Stockwerke zum Office.
Zwei SAA-Mitarbeiter kommen gerade durch die gegenüberliegende Flurtür und haben einen höchst aufgeregten Zivilisten im Schlepptau. Die Bürotür wird aufgeschlossen, diskutierend und palavernd treten die drei ein. Bevor die Tür wieder zufällt, bedanken wir uns eilig bei unserem Irrgarten-Helfer und schmuggeln uns mit ins Büro. Fragende Augen blicken uns an, aber als wir unser Anliegen kurz nennen, dürfen wir auf einem schmuddeligen Sofa Platz nehmen. Die erste Viertelstunde unserer Warterei ist noch recht amüsant; wir beobachten die Schwierigkeiten, die die SAAler mit dem Computer haben und lauschen den Tiraden des Zivilisten. Er, ein Sambier mit amerikanischem Pass, ist mit seinem kleinen Sohn auf Heimatbesuch, sein gesamtes Gepäck aber ist auf der Strecke geblieben. Jetzt streitet er sich mit den SAA-Angestellten um ein lumpiges Überbrückungs-Kit. Immer wieder hebt er von vorne an, bekommt die selben Antworten und bald können Jürg und ich das Zahnbürsten-Gespräch nicht mehr amüsant finden. Nach einer Dreiviertelstunde endlich bringt ein weiterer SAA-Kollege das gewünschte Notfallset, der Amerika-Sambier wird mit Versprechungen auf baldige Gepäckzustellung aus dem Office komplimentiert und wir sind dran. Rückbestätigung, aha. Der Computer wird bemüht, unsere Namen stehen in der Liste beim richtigen Flug, zufrieden nickt der SAAler und lächelt uns an. Eingegeben hat er nichts; nichts, was unsere Rückbestätigung beweisen würde. Wir merken das an, aber er meint ganz relaxed, wir stünden ja drin und die eigentliche Rückbestätigung würde dann mit dem Einchecken am Flughafen erfolgen. So kann man die Sache auch sehen. Doch uns bleibt nicht anderes, als auf die Liste und seine Worte zu vertrauen; vorsichtshalber merke ich mir seinen Namen, der auf einem Schild am Hemd prangt. So richtig gelohnt hat sich die Aktion auf jeden Fall nicht, wenngleich der kurze Auschnitt aus dem Alltag eines Airline-Büros ganz informativ war.
Mittlerweile ist es stockfinster geworden und Annette und Joachim warten schon ganz ungeduldig auf uns. Aber naja, wir haben unser Bestes getan und gemeinsam freuen wir uns auf einen gemütlichen Abend auf unserem lauschigen Platz. Das Lagerfeuer wird entfacht, frisch erworbene Vorräte zu einem lukullischen Abendessen komponiert und ein nicht ganz so ereignisreicher, dafür umso anstrengenderer Organisationstag klingt geruhsam aus. Leise raschelt der Wind in der Bambushecke und es wird schon wieder kalt…
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