Gestern hatten wir der Gisi einen späten Frühstückstermin aus den Rippen geleiert: 9 Uhr. Richtig spät ist das für uns nicht, aber für eine Frühaufsteherin wie die Gisi wahrscheinlich eine schon recht fortgeschrittene Tagesstunde. Doch unsere Befürchtungen, diesen Termin eventuell zu verschlafen, verflüchtigen sich morgens um 6.30 Uhr auf äußerst unsanfte Weise: aus dem Erdgeschoß dringt lautes Gezeter durch das offene Treppenhaus. Zwischen Gisis keifende Tiraden mischt sich immer wieder eine sonore Männerstimme, defensiv, aber deswegen nicht weniger laut. Nach einer halben Stunde kehrt wieder Ruhe ein, aber nun sind wir wach. Eigentlich bin ich über dieses verfrühte Weckereignis nicht wirklich böse, denn ich habe nicht sonderlich gut geschlafen. Mein Kopf fand keine gemütliche Position auf dem monströsen Federkissen, ohne dieses war es wiederum zu flach und außerdem setzte die warme, trockene Zimmerluft meinen Bronchien arg zu; immer wieder erwachte ich von meinen eigenen Hustenanfällen, wechselte von Schwitzen zu Frieren und die Nacht wollte kein Ende nehmen. Doch jetzt ist sie für uns alle vorüber und wir rappeln uns hoch. Nach einer schichtweisen Morgentoilette – es gibt nur eine Dusche, ein Klo für die ganze Etage und ein Waschbecken pro Zimmer – ziehen wir uns an und wendeln die Treppe nach unten, wo in Gisis an die Küche grenzendem Wohnzimmer schon die Frühstückstafel gedeckt ist. Auf der Eckbank schläft kugelrund eingerollt ein schwarzer Kater, der sich nicht stören läßt, als wir um ihn herum Platz nehmen. Kaum dass wir sitzen, umfängt uns Gisi mit ihrer Fürsorge. Alles, was auf dem Tisch steht, wird erklärt und kommentiert: die Kanne Kaffee, ob die wohl für uns reicht, wie auch die drei Semmeln pro Person, der Honig, das selbstgemachte Erdbeer-Rhabarber-Mamalaad und das Johannisbeer-Scheläh, die Eier, deren Öffnung sie gespannt erwartet, schließlich könnten sie zu hart oder zu weich sein, der Kater namens Burschi, der uns stören könnte, das Chiemgauer Tagblatt, das wir sicher lesen wollten, weil da was über den Pfarrer aus Waging drinstünde usw., usw. Nein, Gisi, ja, Gisi, es ist alles super, wunderbar, perfekt! Halbwegs beruhigt durch unsere ehrlich gemeinten Versicherungen, wendet sich Gisi der nächsten Baustelle in ihrem übergroßen Herzen zu. Wortreich und bedauernd entschuldigt sie sich für den frühmorgendlichen Streit, der uns so rüde geweckt hatte und liefert die Gründe für die Auseinandersetzung gleich mit: ihr zweiter Mann, der Klausi, sei im Juli gestorben und nach dessen Beisetzung hätte sie die Namenstafel am Grab neu machen lassen. Jetzt steht der Name ihres ersten Mannes ganz oben, der des zweiten darunter, obwohl er nur angeheirateterweise zur Familie gehört hatte, dann kommen die Namen der Eltern des ersten Mannes und ganz unten, wo noch ein Platz frei ist, wird mal Gisis eigener Name hinkommen, „wenns ma amoi d’Schaufe naufhaun“. Diese Namensreihenfolge hatte wohl bei einigen, besonders „engagierten“ Dorfbewohnern Unmut erzeugt, der wiederum an Gisis Sohn Rudi herangetragen worden war. Auch Gisis emsiges Friedhofsgepflanze und Schalengeschleppe schmierte man ihm vorwurfsvoll aufs Brot – das müsse doch nicht die alte Frau machen, dafür wäre die Familie da. Rudi war natürlich ob der ungerechtfertigten Vorwürfe ziemlich konsterniert, informierte seine Mutter und gab ihr zu allem Überfluss auch noch eine Teilschuld. Und da war der Gisi der Kragen geplatzt; heute Morgen und völlig zu recht, wie wir meinen. Wen geht das was an? Sollen die Leute doch vor ihrer eigenen Haustüre kehren. „Ach,“, seufzt die Gisi, „es is scho a Gfrett bei uns aufm Land, des is fuachbar mit de Leid, in was sie de ois eimischn. Dawei geht de des garnix o! Wia i de Nama aufs Dafal schreim lass, des is alloa mei Sach. Und wenn i zehnmoi am Dog Schoin rumdrog, aa. Mei Sohn hat gnua Arwad und wenn i ma was eibuid, kann i ned wartn, bis a endlich Zeid dafür hod. Dann mach i’s hoid seiba! Mei, und ihr kennts ned in Ruah frühstückn, weil i eich den ganzn Schmarrn erzeih. Jetzt loss i eich aber in Ruah essn, jetzt wissts ja ois!“ Sprichts und entschwindet. Einigermaßen erschlagen von den ganzen Informationen, dem endlosen Wortschwall und vor allen Dingen von Gisis rührender Offenheit, speisen wir schweigend weiter, genießen das hausgemachte Mamalaad, das Scheläh und die Gegenwart des leise schnurrenden Burschi. Kaum sind wir fertig und tragen gerade das Geschirr in die Küche, stürmt Gisi wieder herein und kontrolliert unseren Fressaliendurchsatz. Besorgt muss sie feststellen, dass 3 Semmeln übrig geblieben sind und schwupp, schon legt sie uns Brotzeitbeutel auf den Tisch. „Mei, schmierts eich doch de Semmen, deads a Wurschd und an Kaas drauf, dann habts was zum Mitnehma fürn Dog!“ Das ist lieb gemeint, aber so verfressen sind wir nun auch nicht, dass wir gleich Proviant für unser touristisches Sparprogramm benötigen. Seufzend über unsere Weigerung, setzt Gisi unsere morgige Semmelration auf zwei Stück pro Person herunter und entläßt uns mit herzlichen Wünschen in einen spannenden Tag – nicht ohne abermals zu bezweifeln, ob wir uns hier wirklich in irgendeiner Art und Weise vergnügen könnten. Aber wir können! Nach einem weiteren Besuch in unserem Zimmer, wo wir uns für die herbstlichen Temperaturen rüsten, starten wir zu einem Dorfbummel; hinab zum örtlichen Freibad, das einsam und verlassen im Nebeldunst liegt, hinauf über die Hauptstraße, hinüber zum Friedhof. Ich liebe Friedhöfe, vor allen Dingen die kleinen ländlichen, deren Grabstätten sich eng um die Kirche drängen – und ganz besonders die alten Grabsteine, die oftmals mit sepiafarbenen Portraits der Verstorbenen, gedruckt auf ovale Porzellanplaketten, versehen sind. Ganz nebenbei wollen wir natürlich auch die anstoßerregende Namenstafel begutachten, die unsere Gisi so in den Fokus der Dorfkritik gegerückt hat. Gerade sind wir fündig geworden, als uns eine Frau anspricht: „Suachts ihr eppan? Weil die meistn Leid, de doher kumman, de suachan des Grab vom Allermann. Aba des is ned do, de is am andan Teil vom Friedhof.“ Freundlich grüßen wir, sehen die Dame aber etwas ratlos an, denn der Name Allermann sagt uns so gar nichts. Die Mittfünfzigerin mit ausgebleichten Hennalocken steht barfuß in Birkenstocks – bei frostigen acht Grad – hat ein Fußkettchen um, wirkt recht undörflich, eher etwas ausgeflippt, exaltiert, scheint aber bestens informiert zu sein. „Was, ihr kennts den Allermann ned? Der war doch, na, wia sagt ma, na, Ding halt bei der Ding in Minga. Wega dem kumman an Hauffa Leid.“ Plötzlich hält sie in ihren Erklärungen inne, richtet ihren Blick gen Himmel, wo gerade ein Gänseschwarm in V-Formation seine Bahn zieht und dabei laut schnattert. Inbrünstig faltet die seltsame Dame ihre Hände und flötet andächtig: „Mei, da sans wieda, unsare Gäns, is des schee!“ Was nun folgt, würde man in einem Chat/Forum als „Säuseln aus, markiges Fluchen an“ bezeichnen: in völlig anderer Stimmlage bricht aus dem rotgefärbten Weib etwas hervor, was viel besser zu ihr passt, als das Geflöte: „Kruzifix, jetzt i hab mei Gwahr ned dabei. Do dama scho zwoa ghean!“ Inbrunst off, kommunikativer Infoton an: „Oiso, zum Allermann geht’s do naus, dann grodaus weida, a bissl nüba und nauf und scho seids do. Des kennts garned vafeihn.“ Wir sind heftig beschäftigt, unsere Mundwinkel in Zaum zu halten und nicht lauthals über diesen von Herzen kommenden Fluch zu lachen und entfernen uns deshalb dankbar und dankend in die angegebene Richtung, während uns weiter detaillierteste Wegbeschreibungen hinterher schallen.Huch, was war denn das jetzt? Kichernd gehen wir das Grab vom Allermann suchen, auch wenn wir nicht wissen, wer das sein soll. Kichernd und lachend, da die Situation ja schon ein bisschen grotesk war: auf der einen Seite beschwert „man“ sich über die Namensreihenfolge auf der Grabtafel, auf der anderen Seite läßt eine seltsame Frau herzhafte Flüche und Wildererphantasien auf geweihter Erde los und keiner schreitet ein; es donnert nicht, es blitzt nicht und auch der Boden tut sich nicht auf…Dank der präzisen Wegbeschreibung erreichen wir nach kurzem Marsch den anderen Friedhof, offenbar der neuere Teil, und durchstreifen die Grabreihen, jenem ominösen „Ding bei da Ding in Minga“ auf der Spur. Doch wir können Allermanns letzte Ruhestätte nicht finden, dafür fällt uns aber eine seltsame „Grabmode“ ins Auge. Einige der Grabstellen sind nicht bepflanzt, sondern dicht mit weißen Kieselsteinen belegt. Das Ganze sähe extrem lieblos aus, wären diese Steininseln nicht allesamt mit weißen Steinengelchen in diversen liegenden und betenden Positionen geschmückt. Aber auch die petrifizierten Himmelswesen nehmen dieser Art der Grabverzierung nur mühsam, nur ansatzweise ihre, naja, sagen wir mal, nüchterne Ausstrahlung. Der neue Friedhofsteil hat ingesamt viel weniger Charme als der alte und als sich auch der Allermann nicht finden lässt, ist unser Interesse rasch erschöpft und wir spazieren langsam wieder hinunter ins Dorf. Dort entern wir einen von zwei nahe beieinander liegenden Supermärkten der Gruppe „Nah&Gut“ – einer ist näher, der andere ein paar Schritte weiter die Straße hinab; deshalb taufen wir die Läden kurzerhand in „Nah&Fern“ um. Faul wie wir sind, bevorzugen wir natürlich den „Nah“ und erstehen dort Leckereien für einen gemütlichen Sofa- und Kniffelabend, wie wir ihn für heute geplant haben. Prosecco, Aperol, Chips, Schokolade, Pistazien und natürlich ein paar Postkarten – die gehören zu einer derartigen „Fernreise“ einfach dazu. Schwer beladen kehren wir zur Pension zurück, stellen unsere Einkäufe ab und eilen weiter zum nächsten Laden. Gleich ums Eck nämlich befindet sich ein Nippes- und Schnickschnack-Shop, der nur an zwei Tagen in der Woche für wenige Stunden geöffnet hat. Und heute ist so ein Tag. Eine alte Scheune wurde von zwei Damen liebevoll in ein Paradies voller Dinge, die niemand braucht, verwandelt. Allerdings ist der Tand auch hübsch teuer, so teuer, dass wir nicht mal ansatzweise auf die Idee kommen, hier etwas zu erwerben. Nach einem kurzen Bummel verabschieden wir uns deshalb freundlich und begeben uns mitsamt unseren Knabbereien hinauf in unser Zimmerchen. Es ist schon Mittag, aber immer noch sehr nebelig und recht frisch draußen – so haben wir nicht den leisesten Anflug eines schlechten Gewissens, es uns mitten am Tag auf unseren Betten gemütlich zu machen und eine Lesestunde einzuläuten. Moni und Chrissie allerdings fallen bald die Bücher aus den Händen, sie schlafen ein und aus einem Stündchen werden ein paar mehr. Gegen 18 Uhr, ich bin mit meinem Buch fast durch, erwacht Chrissie schließlich wieder und bald darauf auch Moni. Hunger! So lautet Monis erste Wortmeldung. Da sind wir natürlich sofort dabei! Anziehen, ausgehfein machen und nichts wie ab in die „Gans“! Ich freue mich aufs Essen, aber viel mehr noch auf das Aquarium in der „Gans“, in dem vor 5 Jahren zwei prächtige Hauschen schwammen. Heute Morgen beim Frühstück hatte ich bereits die Gisi interviewt, ob es die beiden urtümlichen Knochenfische wohl noch gäbe. „Ja freilich, des Beckn hams scho oiwei no. Do san die Fiesch gwiss no drin!“ Umso enttäuschter bin ich, als zwar das Riesenaquarium noch da ist, leider aber ohne Hauschen. Ich schnappe mir die Bedienung und frage, wo die Viecher denn abgeblieben seien. Hauschen? Ratlos sieht die Kellnerin mich an. Als ich bekräftigend nicke, plärrt sie in die Küche: „Du, Agnes, ham mir amoi Hauschn ghabt?“ „Freilich, aba scho lang nimma.“ Schon kommt Agnes aus der Küche geschossen. „Mei, de zwoa Fiesch hamma nimma, de ham si einfach nimma woigfuid in dem kloana Beckn drin. Do hob i’s zu meim Freind do, der hod a baar Fieschweiha z’Prien drent, do sans jetzad guad untabracht. Des gfoid eana richtig und de Gloria is scho fast an Metta gwachsn seid dem!“ Es freut mich sehr, dass es den beiden Schönen so gut geht und sie auf niemandes Teller gelandet sind… Beruhigt danken wir der Agnes und wenden uns dem Studium der Speisekarten zu. Hier in der „Gans“ gibt es eine große Auswahl an Gerichten, sicher dreimal mehr als beim Jägerwirt, sie alle klingen sehr lecker und das, ohne verbal „verfeinert“ worden zu sein. Hier ist nichts AN einer Beilage, sondern ganz normal MIT und die Bratensauce wurde auch nicht niveauheischend zu Jus haute-cuisiniert, sie wird nicht mal erwähnt, dafür aber ist sie in deutlich großzügigerer Menge auf dem Teller zu finden, als bei der Konkurrenz. In rustikaler Umgebung genießen wir ein feines, üppiges Abendessen, das uns in unserer Erholungssucht und gnadenlosen Faulheit tatsächlich an den Rand erneuter Erschöpfung treibt. In wohliger Vorfreude auf unsere Betten begleichen wir die Rechnung, schleppen uns gähnend in die Pension zurück und sinken ermattet auf die fast noch nicht ausgekühlten Betten. Eigentlich wollten wir noch ein paar Runden Kniffel spielen, doch dazu reichen unsere Kräfte heute nicht mehr – nach diesem ereignisreichen, sehr (ent-)spannenden Tag. Um 22 Uhr geht deshalb das Licht aus und wir kuscheln uns ein. Moni und Chrissie mit ihrer „Nackerten“ und „Angezogenen“, ich mit meiner zu einer Nackenrolle geklöppelten Fleecejacke. Mhmm, gute Nacht!
08. OKTOBER 2010; Kurzchillen im Chiemgau 2
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KategorienChiemgau 2010
Verfasst von:Barbara
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