11. Oktober 2014; Kokerboomkloof, Ausflug zum Tatasberg und weitere Musestunden vor Ort

Eigentlich wollten wir ja heute mal ein wenig länger schlafen, denn es liegt ein ruhiger Tag vor uns – und da kann man sich durchaus ein Mützchen Schlaf mehr gönnen. Aber irgendwie ist uns der Rhythmus der vergangenen zwei Wochen bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir um sieben Uhr schon wieder putzmunter sind und uns am Frühstückstisch versammeln. Also investieren wir die „gewonnene“ Zeit eben in ein ausgedehntes, gemütliches Morgenmahl, das wir richtig zelebrieren. Dann spülen wir ab, räumen gemächlich zusammen und machen uns höchst entspannt auf den kurzen Weg zum Tatasberg, der, quasi in Sichtweite, keine 6 Kilometer vom Kokerboomkloof entfernt liegt.

Am Tatasberg
Weite Sicht
Beruhigende Landschaften

Der Tatasberg zählt mit seinen gut 1000 Metern durchaus zu den höheren Gipfeln des Richtersvelds und stellt, rein geologisch gesehen, eine kleine Besonderheit dar. Er besteht aus einer mächtigen Granitintrusion, die mit ihren zarten 530 Millionen Jahren das Durchschnittsalter der wesentlich älteren Gesteinsaufwerfungen am Rande des Oranje-Richtersveld-Gebietes erheblich senkt. Das klingt nun nicht sonderlich aufregend (außer man ist Geologe), der Live-Anblick dieser relativ jungen Formation allerdings ist unvergleichlich: der Tatasberg zählt zu einer der grandiosesten Mondlandschaften dieses Nationalparks. Ein konisch zulaufender Felsenhaufen, bestehend aus riesigen, rotbraunen, von Wind und Wetter zu bizarren Formen geschliffenen Granitbrocken, einzelne davon größer als ein Hochhaus, ragt majestätisch über seine Umgebung hinaus. Am Fuße seiner Südwestseite beeindrucken gigantische, walbuckelförmige Felsformationen, von denen sich im Laufe der Jahrmillionen, wie Zwiebelschalen, immer wieder meterdicke Schichten abspalteten und zu Boden rutschten. Fährt man ein paar hundert Meter weiter, so landet man auf einem fast brettebenen Felsplateau, übersät von knödelrunden Granitkugeln, das sich in Treppenform gen Tal neigt und einen phantasischen Blick auf eine weite, sandige Senke und sich dahinter liegende Bergketten freigibt. Wir sind nun schon zum dritten Mal hier, wissen deshalb, was uns erwartet, aber trotzdem haut uns es auch diesmal beinahe wieder aus den Socken. Es ist eine Landschaft, die immer gleich und doch jedes Mal anders ist, ein Ort, an dem man sich so klein vorkommt, der aber gleichzeitig derart warme Impulse aussendet, dass man sich hier unendlich geborgen fühlen kann. Und eine Umgebung, die zum Träumen, zum Abschalten, zum Fliegenlassen der Gedanken, zum sich Ausklinken, aber auch zum Erkunden einlädt. Raue, äußerst griffige Granitfelsen lassen einen rasch und sicher nach oben kommen, zahlreiche natürliche Sitzgelegenheiten verzögern den Aufstieg aufs Angenehmste, der Ausblick verändert sich mit fast jedem, trotzdem getanen, weiteren Schritt, man entwindet sich so auf fast unwirkliche Weise der Zeit und landet in einer weichen, umfangenden Daseinsblase, die alles andere nichtig und unwichtig erscheinen lässt.

Während unsere Freunde schon lange außer Sichtweite sind und Heinz hoch über mir zwischen den Felsen herumturnt, erlebe ich das, was ich gerade beschrieben habe, lasse meine Gedanken dabei fliegen – und frage mich: kann man so etwas ersthaft empfinden? Was ist das? Der Verklärungszwang einer Afrikasüchtigen? Nein, es ist etwas anderes, etwas, das sich schwer erklären lässt, aber versuchen möchte ich es trotzdem: der Hafen, in dem mein Boot liegt, in dem mein Herz vertäut ist, das ist meine Heimat, das Umfeld, in dem ich groß geworden bin, umgeben von den Personen, die mir alles bedeuten. Das ist gleichzusetzen mit Vertrautheit, Sicherheit, Geborgenheit und tiefer Liebe. Wie oft durchfährt mich ein überbordendes Gefühl der Wärme und unlösbaren Verbundenheit, wenn vertraute Kindheits-Gerüche in meine Nase dringen, wenn ich unvermutet die Stimmen meiner liebsten Menschen höre, wenn ich ein blühendes Rapsfeld sehe, einen oberbayrischen Bauernhof mit seinem Blumenschmuck, das Bergpanorama des bayrischen Oberlands, oder mich der heimische Wald mit seinen Geräuschen umfängt, ein Vogel sein Lied schmettert und Erinnerungen wachruft. All das ist für mich wahre Heimat. Doch das östliche und, ganz besonders, das südliche Afrika verkörpern eben eine Art zweiter Heimat für mich. Hier spielen Kindheitserinnerungen natürlich keine Rolle, aber bestimmte Situationen und Landschaften, die Stille und Weite, die Einsamkeit, die einen trotzdem nicht alleine lässt – all das ruft ebenfalls ungemein angenehme, mich samtig umfangende Gefühle hervor. Es ist wie das heimelige Pochen eines geheimnisvollen Herzens, das mich hier in seinen Bann zieht und mit seinem weichen Schlagen mütterlich in die Arme nimmt. Abgefahren, oder? Afrika, die Wiege der Menschheit; vielleicht ist es das, was im hintersten Winkel meiner Ur-Erinnerungen abgespeichert ist, was diese tiefen Regungen in mir hervorruft, vielleicht aber ist es auch die Befriedigung einer Sehnsucht, die zuhause, in Deutschland, keine Erfüllung mehr findet – das unstillbare Verlangen nach Ruhe, bar jeglicher menschenerzeugter Geräusche, nach unendlicher Weite, in der sich mir nichts in den Weg stellt, nach Gerüchen, die keine chemischen Komponenten enthalten, nach Zeit, die von Licht und Dunkelheit bestimmt wird und nicht von unsinnigen Terminen und Zwängen. Ich komme letztendlich zu keiner schlüssigen Erklärung, aber allein die Tatsache, hier sitzen und über so etwas nachdenken zu können, ist mir Erklärung genug!

Und was mich beruhigt: es ist offenbar kein Dauerzustand einer pathologischen Afrika-Glorifiziererin, sondern eine genauso temporäre Empfindung wie zuhause auch – Annettes lautes Rufen, tief unter mir, reißt mich rüde aus meinen Träumereien, meine mäandernden Gedanken verschwinden so schnell in meinem Hinterkopf, als wären sie mit einer Hochsee-Angel eingeholt worden und ich bin wieder im unverklärten Dasein angekommen. „Barbara, Heinz, wo seid ihr? Wir wollen langsam mal….!“ Aaah, willkommen zurück in der Welt des Termindrucks! Doch hier und heute habe ich echt keine Lust auf sowas und überhöre Annettes Suchanfrage deshalb geflissentlich. Pah, wenn es EINEN Tag gibt, an dem uns nichts, aber auch gar nichts drängt oder verpflichtet, dann ist das heute! Obwohl mich das Gerufe aus meiner ganz persönlichen, kontemplativen Ruhe gerissen hat, die in dieser Situation auch gewiss nicht wiederkehren wird, verweigere ich eine rasche Rückkehr gen Tal, denn ich weiß, dass Heinz (der das Geschrei sicher ebenfalls vernommen hat) noch weniger Lust auf Stress hat. Und wenn er da oben so ausdauernd zugange ist, dann hat bestimmt etwas Interessantes entdeckt. Also stelle ich auf Durchzug, bleibe noch eine ganze Weile sitzen und bewege mich erst dann ganz, ganz langsam nach unten. Hier noch ein schöner Ausblick, dort eine Felsenratte, da drüben eine unbekannte Pflanze… „Barbara, wo wart denn – und wo ist Heinz?“ Vage deute ich nach oben. „Ausgebüxt. Warum, was ist los?“. „Ach, wir sind ja nun lang genug hier, dachten wir, und wollten jetzt langsam wieder zurück“. „Er wird schon kommen, aber was drängt uns denn jetzt so sehr? Hab ich was verpasst?“ „Ne, aber so interessant ist es hier auch nicht und außerdem habt ihr doch bestimmt alle Hunger!“ „Nicht wirklich, aber ich gehe ihn trotzdem mal suchen.“ Dankbar für den Aufschub, drehe ich mich um, verschwinde erneut zwischen den Felsen und klettere Heinz entgegen – denn natürlich weiß ich so ungefähr, wo er ist… Bald darauf treffen wir tatsächlich aufeinander, er strahlt, runzelt aber gleichzeitig die Stirn. „Wollen die scho wieder fahren, oder was soll das G’schrei?“ „Ich hab nix gehört, Schneck!“, zwinkere ich. „Aber was bringt dich so zum Strahlen?“ „Ich hab was gefunden, da oben, bei einer kleinen Höhle!“ Aufgeregt zückt er seine Kamera, wir lassen uns auf einem Felsen nieder und sehen uns gemeinsam seine Bilder an.

Conophytum quaesitum
ssp. quaesitum var. rostratum
Auch kopfüber…
…oder auf ebener Fläche

Nun ist die Vegetation des Tatasbergs nicht gerade reichhaltig, aber Heinz ist es gelungen, einen besonderen Schatz ausfindig zu machen: mehrere Conophyten-Polster, die an einer relativ eng begrenzten Stelle üppig wucherten – und zwar beinahe alle kopfüber in mehr oder weniger waagerechten Felsüberhängen! Ein toller Fund, so toll, dass ich fast nochmal losgehen möchte, um die Pflanzen mit eigenen Augen sehen zu können, aber das wollen wir unseren Freunden dann doch nicht zumuten. Stattdessen machen wir uns langsam, ganz langsam auf den Weg nach unten, natürlich nicht ohne noch hier und da ausgiebig innezuhalten. Eine dreiviertel Stunde kommen wir mit unschuldiger Miene bei unseren Freunden an, die schon voller Ungeduld auf uns warten. „Wo wart ihr denn so lange?“ „Mei, ich hab den Heinz einfach ned gefunden. Aber jetzt sind wir ja da.“ Erleichtert dirigieren uns unsere Reisegenossen zu den Autos – offenbar haben sie Angst, wir könnten noch etwas endecken – und dann treten wir den Rückweg zum Camp an.

Wieder „daheim“: Die Toon
Felsenformation
Der Kokerboomkloof

Dort angekommen, wird erst mal der (von manch einem) ersehnte Lunch eingenommen, bevor sich allgemeine Lethargie breitmacht. Heinz und mich hält es allerdings nicht lange im angenehmen Schatten der Campsite, weshalb wir uns bald schon wieder auf die Pirsch machen. Erst erkunden wir die nähere Umgebung unseres Camps, die durchaus einiges an Blümchen zu bieten hat, dann besuchen wir erneut die Köcherbäume im Kloof, checken unsere Wildkameras, die leider nur ein paar Mal augelöst haben, danach spazieren wir ganz gemächlich zu unserer Site zurück. Mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen: Sundowner einpacken und los zum Felsplateau oberhalb der Campsite, um dort in trauter Zweisamkeit gebührlich den bevorstehenden Abschied vom Richtersveld zu begehen. Gesagt, getan. Mit zwei kühlen Bieren im Gepäck schrauben wir uns gleich darauf wieder nach oben. Zwei Klippspringer beäugen uns neugierig dabei, zeigen keinerlei Scheu und machen nicht mal einen Fluchtversuch, als wir ein paar Meter unter ihnen stehenbleiben, um sie zu fotografieren. Erfreut winken wir den beiden Tieren zu – auch das schreckt sie nicht -, verlassen dann den Fahrweg und kraxeln in die Felsen, um zu unserem Plateau zu gelangen. Oben angelangt, suchen wir uns den Platz mit der schönsten Aussicht, setzen uns nieder und lassen unsere Augen über den Kloof schweifen, dessen Farben in der späten Nachmittagssonne in den schönsten Nuancen zu leuchten beginnen. „Morgen um die Zeit sind wir scho weit weg von hier..“ „Jooo, ich mag ned…“ „Ich a ned! Aber wir kommen ja wieder…“ „Gaaaanz bestimmt!“

Klappspringer-Pärchen
Steinerner Dackel
Riesenmurmeln am Kloof

Wehmütig und zugleich schon wieder voller Vorfreude kuscheln wir uns aneinander und genießen den unvergleichlichen Anblick dieses ebenfalls unvergleichlichen Fleckchens Erde. Als der Sonnenuntergang (viel zu schnell) naht, öffnen wir unsere Bierdosen – unter den irritierten Blicken der Schwalbe, für die wir seit gestern wohl schon zum geräuschlosen Inventar des Plateaus gehört hatten – und prosten uns zu. “Auf nächstes Mal!” “Versprochen!” Dieses Versprechen macht den Abschied tatsächlich leichter, ein wenig zumindest. Trotzdem leert sich das Bier unnötig rasch, viel zu schnell senken sich die Schatten der Dämmerung auf den Kloof und wir sehen uns genötigt, den Rückweg anzutreten. Langsam winden wir uns wieder nach unten – traurig, dass wir uns verabschieden müssen, dankbar, dass wir hier sein durften, aber auch vorfreudig auf unsere letzte Nacht in dieser magischen Umgebung. Sicherlich werden wir den einzigartigen Sternenhimmel nicht die ganze Nacht beobachten und die Stunden der einlullendsten Stille ohnehin verschlafen, aber wir sind immerhin noch hier!

Unsere Reisegenossen haben den Nachmittag mit deutlich weniger pathetischen Gefühlen verbracht, so entnehmen wir zumindest ihren knappen Berichten. Annette hat gewaschen, gelesen und gedöst, Jochen ein ausgedehntes Nickerchen absolviert und Ute vergnügte sich ebenfalls in dem Felsmassiv oberhalb der Campsite. Es ist wohl jeder dem nachgegangen, was für ihn am wichtigsten war – und so verbringen wir einen letzten und sehr entspannten Abend im Richtersveld, bevor uns morgen die Wirklichkeit des vorerst endgültigen Abschiednehmens einholen wird und wir weiterziehen müssen.

Weitere Impressionen des Tages:

Am Tatasberg
Am Tatasberg
Höhle am Tatasberg
Conophytum quaesitum
ssp. quaesitum var. rostratum
Conophytum quaesitum
ssp. quaesitum var. rostratum
Conophytum quaesitum
ssp. quaesitum var. rostratum
Crassula muscosa var. muscosa
Crassula namaquensis
Crassula sp.
Ornithogalum hispidum
Dyerophytum africanum
Pelargonium sp.
Jamesbrittenia glutinosa
Adenolobus gariepensis
Sisyndithe spartea
Felsenratte
Klippspringer
Conophytum quaesitum
ssp. quaesitum var. rostratum

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2 Kommentare

  1. Alex Dreyer
    28. September 2016
    Antworten

    Plant identified as Nymania capensis on page "12. Oktober 2014; Richtersveld NP, Kokerboomkloof > Goegap NR bei Springbok" is actually Adenolobus garipensis.

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