Gemächlich schälen wir uns aus unseren Schlafsäcken und beginnen den noch jungen Tag mit einem ausführlichen Frühstück. Unser bikender Mitcamper eilt etwas später atemlos an uns vorüber, so etwa beim zweiten Toast, und brabbelt irgendwas von Päckle und abhola und weisch. Viel Glück, mir moined des au so! Nachdem der letzte Bissen geschluckt ist, packen wir unsere Habseligkeiten, wühlen uns aus dem Sand der Campsite und starten los. Rauf nach Kigoma, durch die Stadt hindurch, zurück auf die Hauptstraße Richtung Mbeya und dann, endlich, endlich, dem Katavi entgegen! Auf dem ersten Teilstück ist die Straße noch geteert, wir kommen trotz zahlreicher Schlaglöcher rasch voran, dann aber endet der kommode Belag abrupt. Und zwar genau da, wo wir erneut den Malagarasi überqueren. Ruhig fließt der Fluss auf beachtlicher Breite unter uns dahin, zahlreiche Wasservögel vergnügen sich an seinen Ufern, das Schilf wogt, die Fluten gluckern sanft und wir genießen diesen Anblick, bevor wir die geteerte Brücke hinter uns lassen und in wenig befahrenes Buschland abbiegen. Heute ist wieder Kilometer-Schrubben angesagt, darauf sind wir alle gepolt und schalten deshalb auf Durchzug.
Zunächst also wird geschrubbt. Dann aber, irgendwann gen Mittag, durchqueren wir ein Gebiet, das Heinz und mich sofort aus dem Durchzugs-Modus reißt: es ist eine felsige Gegend, eine Landschaft, die ein wenig an die dicht gesäten Kopjies in Zimbabwe erinnert und die an sich schon einiges fürs Auge zu bieten hat. Doch hier, und das ist es, was Heinz und mich so erfreut, wachsen unzählige Sukkulenten. Bereits auf den ersten Kilometern sind wir hingerissen: riesige Euphorbien recken ihre stacheligen Arme gen Himmel. Und wo solche Pflanzen derart üppig gedeihen, sind auch andere ihrer Art zu finden! Stopp! Stopp, so rufen wir an einem besonders verheißungsvollen Hügel, nachdem wir uns schon eine ganze Weile vielsagend angesehen haben.
Folgsam bremst Jochen den Wagen ab und rangiert ihn an den Straßenrand. Annette parkt hinter uns ein und sieht uns verwundert an. „Was ist los? Pinkelpause?“ „Also, Annette, sieh dich doch mal um, dann weißt du sofort, warum wir hier halten!“ „Ach so, Pflanzen. Hätt ich mir ja denken können. Aber wir haben fei nicht viel Zeit, schließlich müssen wir heute noch nach Sitalike kommen!“ „Ach ja, wir werden das schon schaffen. Doch wir können hier beim besten Willen nicht einfach vorbeifahren, ohne uns näher umzusehen!“ Und schon sind Heinz und ich im felsigen Gelände verschwunden. Oh Mann, was hier alles wächst! Riesige Euphorbien und wundervolle Aloen bevölkern die steinigen Hügel, in jeder Ritze klammert sich ein sukkulenter Schatz fest und wir kommen aus dem Schauen und Erkunden gar nicht mehr raus. Wir klettern in den Felsen umher, die Zeit verfliegt und bald fordert uns Annettes ungeduldiges Rufen zum Abbruch unserer kleinen Exkursion auf. Eine Weile gelingt es uns, das Rufen auszublenden, dann aber geben wir ihm schweren Herzens nach und kehren zu den Autos zurück. „Na endlich! Ich hab doch gesagt, wir haben nicht ewig Zeit!“ Ja, sie hat ja recht, irgendwie, aber so tierisch beeilen müssen wir uns auch nicht! Etwas angesäuert klettern wir wieder in die Autos und tuckern weiter. Sehnsüchtig starren Heinz und ich auf den nächsten Kilometern in die Landschaft, die sich langsam, fast unmerklich, verändert. Das Gelände wird flacher, die Bäume weniger und die Vegetation noch interessanter. So interessant, dass wir es schließlich nicht mehr aushalten. „Jochen, egal, was Annette sagt, aber wir müssen hier nochmal raus!“ Jochen hat kein Problem mit einem weiteren Stopp und tritt in die Bremsen, was seine Gattin natürlich nicht gutheißt. Mit tadelndem Blick sieht sie uns an und schüttelt empört ihren Kopf. „Nicht schon wieder Pflanzen, oder? Nach Sitalike ist es noch ein Stück und in der Dunkelheit fahren wir nicht. Oder sollen wir gleich hier übernachten?“ Nein, natürlich nicht! „Gut, dann macht, was ihr wollt, wir fahren auf jeden Fall weiter. Ihr werdet uns dann schon irgendwann wieder einholen…“
Aloe sp. Aloe sp. Euphorbia sp Euphorbia sp. Euphorbia sp. Senecio sp. Euphorbia sp. Leider müssen wir weiter
Annette spricht’s und schwingt sich wieder in ihr Auto, während uns Jochen beruhigend zunickt. „Ne halbe Stunde geht schon. Reicht euch das?“ Wie die Pfeile flitzen wir los und delektieren uns im Eiltempo an dieser fantastischen Flora. Hier dominieren diverse Arten kleinerer Euphorbien, zierliche Aloen bezaubern uns mit ihren stachelgesäumten Blättern, sukkulente Korbblütler recken uns ihre apart gemusterten Triebe entgegen und wir könnten uns sicher mehrere Tage vergnügen, ohne dass uns langweilig würde. Doch die Pflicht ruft, eine Pflicht, die in diesem Falle ja auch nicht gerade unangenehm ist. Deshalb verlassen wir nach der abgemachten halben Stunde unser Sukkulentenparadies, zwar schweren Herzens, aber dennoch glücklich, es gesehen haben zu dürfen. Brav steigen Heinz und ich in den grünen Landy, seufzen schwermütig, dann gibt Jochen Gas und keine halbe Stunde später haben wir Annette wieder eingeholt. „Pinkelpause, oder wie?“, fragen wir süffisant. „Ja, muss eben auch mal sein!“ Na gut, dann entleeren auch wir unsere Blasen und anschließend kann es Non-Stop nach Sitalike weitergehen, versprochen!
Wir alle halten unser Versprechen und erreichen so tatsächlich am späten Nachmittag unser Ziel. Sitalike, ein winziges, staubiges Kaff im Westen Tansanias, das nichts Großartiges zu bieten hat. Es liegt direkt an der B8, schwere Lkws rumpeln durch den Ort, der aus ein paar Häuschen, ein paar Shops und einem Büro der Nationalparkverwaltung besteht. Sagte ich eben tatsächlich, es habe nichts Großartiges zu bieten? Falsch! Sitalike liegt an der nördlichen Grenze des Katavi Nationalparks – der, ich erinnere, einer meiner Lebensträume ist. Und der Katuma River, der den Katavi durchquert, fließt auch durch Sitalike. Momentan, wir haben Trockenzeit, fließt der Katuma nicht, er schlammt eher in feuchten Pfützen und trockenen Passagen vor sich hin. Den Nilpferden, die diesen Fluss bewohnen, ist die Nationalparkgrenze egal – nur die verbleibenden Pfützen sind wichtig – und einige davon befinden sich südlich der Brücke, auf der die Durchgangsstraße aus dem Ort herausführt. Und sie befinden sich direkt an den Campgrounds des Riverside Hotels, auf dessen Gelände wir heute übernachten werden. Wir fahren, nachdem wir im Ort noch ein paar Getränke besorgt haben, auf besagte Brücke und sofort ist alle Schwermut über die nur kurz besichtigten Sukkulenten bei mir vergessen: hier, direkt unter mir, liegt ein Flusslauf voll mit Nilpferden! Die grauen, massigen Leiber drängen sich dicht an dicht und ihre runden, glänzenden Rücken sehen aus wie eine regenfeuchte, kopfsteingepflasterte Straße. Herr Poliza, das ist DAS Bild das ich im Kopf hatte! Und nun bin ich noch nicht mal im Nationalpark drin, aber all meine Sehnsüchte haben sich bereits erfüllt! Ich bin völlig hingerissen, geplättet, begeistert, fasziniert, atemlos.
Nun, atemlos kann man hier aus zweierlei Gründen werden: erstens verströmen die unzähligen Hippos in ihren Pfützen einen unglaublich strengen Geruch, der einem das Luftholen ein wenig schwer macht. Das aber nehme ich in meiner Begeisterung gar nicht so wahr, denn es ist, zweitens, ein wirklich unfassbarer Anblick, der von einer noch unfassbareren Geräuschkulisse untermalt wird! Meine Freunde sind auch begeistert, doch bei mir reicht der Ausdruck „Begeisterung“ bei weitem nicht aus. Am liebsten würde ich sofort mein Zelt aufschlagen, hier, auf der Brücke! „Barbara, reiß dich los! Die Campsite ist auch direkt am Fluss und du wirst mehr Nilpferde kriegen, als dir vielleicht lieb ist.“ Nur zögerlich gebe ich Annettes und Jochens Worten statt. Doch sie müssen es ja wissen, schließlich waren sie schon mal hier. Also besteigen wir unsere Gefährte und kurven runter zum Camp, das ein paar kleine Bungalows und eine Campsite offeriert. Wir durchqueren eine Toreinfahrt, von der aus man auf ein paar winzige, recht heruntergekommene Gebäude und einen großzügigen Platz blicken kann, der mit spärlichen Grasbewuchs aufwartet und der, sehe ich da recht, von unzähligen Nilpferdhaufen übersät ist! Woah, die Dicken kommen hier raus? Ja! Erst, als wir den eigentlichen Campground erreichen, realisiere ich, wie nahe wir den Tieren heute Nacht sein werden: da ist ein Zaun, der den Namen eigentlich nicht verdient – er besteht aus windschiefen, verfallenen Brettern und ist nicht länger als sechs Meter –, fünf Meter neben diesem „Zaun“ fällt ein steiles Ufer zum Katuma River ab und auch in diesem Flussabschnitt liegen die Hippos Bauch an Bauch, Po an Po, Kopf an Kopf. Links vor uns, auch in greifbarer Nähe, plätschert etwas Wasser in einem tiefen Erdriss herab und dort grunzt es ebenfalls heftig. Ich kann mein Glück kaum fassen – wir sind quasi von Nilpferden umzingelt! „Wo wollen wir unsere Zelte aufbauen?“, fragt Annette. „Am liebsten da unten, neben dem sogenannten Zaun!“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen und sehe die anderen erwartungsvoll an. Denen ist es recht, und so lassen wir uns, nach kurzen Anmeldungsformalitäten, an meinem Wunschort nieder. Heinz und ich errichten unser Zelt direkt an diesem wackeligen Holzkonstrukt, Gabi, Annette und Jochen nehmen ein paar Meter Abstand und Erika sorgt sich ohnehin nicht übermäßig, denn sie nächtigt ja im Dachzelt. Perfekt, nun kann der Abend beginnen!
Unser Lager am Katuma Blick vom Zaun aus Der „Zaun“, direkt dahinter befindet sich der Fluss
Entspannt nehmen wir an unserem Tisch Platz und lassen uns erst mal einen Sundowner schmecken, bevor wir mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beginnen, die von erregtem Hippo-Gegrunze begleitet werden. Und deshalb bin ich heute auch nicht ganz bei der Sache. Ich schäle ein paar Zwiebeln, hüpfe aber immer wieder aufgeregt zu unserem Zelt, stütze mich auf den Zaun und beobachte die Hippos, die langsam aber sicher in Dämmerungs-Modus kommen – sie schicken sich an, den Fluss zu verlassen! Selig lächelnd liefere ich die geschälten Zwiebeln bei meinen Freunden ab und beteilige mich fortan – zum ersten Male überhaupt – nicht mehr an den Kocharbeiten. Schließlich muss ich ja kucken! Und es ist ein Anblick ohnegleichen! Ein Nilpferd nach dem anderen hievt sich aus den schlammigen Resttümpeln, grunzt und schnaubt, und stemmt sich anschließend mit kurzen Beinchen, aber erstaunlich gewandt, am gegenüberlegenden Steilufer nach oben, um im spärlichen Grün zu verschwinden. Dann geht die kurze Dämmerung rasch in absolute Dunkelheit über, das Essen ist fertig und wir können fortan nur noch lauschen, nicht aber mehr sehen. Trotz der anschwellenden Geräuschkulisse vergeht keinem von uns der Appetit, wir lassen uns ein würziges Gulasch schmecken, zubereitet mit vom deutschen Metzger eingedostem Fleisch und ungarischer Paprika-Paste und lauschen nebenbei genüsslich den vielsagenden Lauten einer extrem nahen Flusspferd-Population. Ich bin im siebenten Himmel!
Dann schreitet der Abend voran. Die leisen Schritte der Wasserdickhäuter und ihr lautstarkes Geschnorchle kommen plötzlich von mehreren Seiten. Vorsichtig leuchten wir in die Dunkelheit – nun sind sie auch aus der Rinne unterhalb der Campsite geklettert, verlassen den Fluss auf unserer Seite und ziehen rund um uns herum ihre nächtlichen Bahnen! Wie gebannt sitzen wir an unserem Tisch; Hippos hinter uns, vor uns, auf allen Seiten neben uns, es grunzt, es schnorchelt, es tapst, es rupft, es kaut. „Ich wäre ja jetzt müde!“, vermeldet Erika gähnend. „Ne, jetzt noch nicht, warte, bis der Weg frei ist!“ Und so sitzen wir inmitten der grasenden Flusspferde und harren der Dinge, so lange, bis wir uns, einer nach dem anderen, gefahrlos ins Zelt begeben können. Heinz und ich, die unser Zelt der Aufstiegszone der Nilpferde am nächsten aufgeschlagen haben, warten naturgemäß am längsten, bis auch wir uns endlich ins Bett verdrücken können, ohne auf dem Weg dorthin einem missgelaunten, hungrigen Hippo in die Quere zu kommen. Absolut irre – nicht ins Zelt zu kommen, weil eine Flusspferdautobahn vor deinem Schlafzimmer verläuft! Absolut irre…
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