Gegen sieben Uhr stehen wir langsam auf und nehmen ein leichtes Frühstück zu uns; man weiß ja nie, wie schaukelig die Überfahrt wird. Annette entschließt sich kurzfristig, doch in Isanga Bay zu bleiben und zusammen mit Joachim den Landy hardware- und sauberkeitstechnisch zu überholen. Jürg und ich ziehen los, sind pünktlich um acht Uhr am Anlegesteg, wo das wenig hübsche, aber sicher praktische Boot gerade vollgetankt und beladen wird. Kurz darauf tauchen Rene und der schweigsame Sean auf, der heute besonders finster dreinschaut. Grund für seine schlechte Laune ist nicht der bevorstehende Gerichtstermin in einer Angestelltensache, sondern die lange Hose nebst geschlossenen Schuhen, die er deswegen tragen muss. Sean ist, allein schon optisch, ein Naturbursche, wie er im Buche steht und wenn ich ihn mir so ansehe, kann ich sein Unwohlsein gut nachvollziehen. Wie Fremdkörper hängen die stadtfeinen Sachen an ihm und so, wie er im schmuddeligen Boot herumwütet, drängt sie mir fast die Vermutung auf, er hofft, sich derart gründlich einzusauen, dass er doch wieder in kurze, aber wenigstens saubere Hosen steigen darf. Das jedoch ist ihm nicht vergönnt.
Brummelig heißt er uns an Bord zu gehen. Dazu muss man zwei hohe Betonstufen hinabsteigen und noch über einen kleinen Absatz, um dann von einem unter Wasser stehenden Sockel über die hohe Bordwand zu klettern. Der Sockel ist derart glitschig, dass es mir einen Fuß wegzieht und ich beinahe samt Rucksack im Wasser lande. Gerade im letzten Moment kann ich mich noch abfangen. „Be careful, it’s fuckin’ slippery!“, brabbelt Sean in seinen Bart. Es sind die ersten Worte, die ich ihn sagen höre, wenngleich sie auch ein wenig zu spät gesprochen wurden. Aber immerhin… Als wir alle endlich in dem wackeligen Kahn sitzen, kann’s losgehen. Sean läßt den Außenbordmotor aufröhren und wir stechen zügig in See.
Vom Wasser aus hat man bald einen phantastischen Blick auf die Berge, die den Lake Tanganjika säumen und Rene zeigt uns, wo ungefähr die vorgestrige Höllenstraße entlangführt. Man sieht den sanften grünen Hügeln weder ihre 600 Meter Höhe an noch, dass sie eine derart heftige Piste beherbergen. Vor drei Jahren war die Strecke noch ganz in Ordnung, erzählt Rene, aber die beiden letzten Regenzeiten waren sehr heftig, haben der Straße schwer zugesetzt, dass sie jetzt eben in diesem Zustand sei. Sie hätte schon mit der zuständigen Community gesprochen, diese aber stelle keinerlei Gelder zur Reparatur zur Verfügung. Also bleibt alles, wie es ist. Sean, der die Strecke allmonatlich in eineinhalb Stunden nach oben heizt, hat damit offenbar keine Probleme, was ich unbesehen glaube. Für das Lodgegeschäft hingegen ist das nicht wirklich förderlich. Man hat zwar die Möglichkeit, seinen Wagen sicher in Mpulungu abzustellen und sich mit dem Boot nach Isanga Bay schippern zu lassen, aber auch das – wir haben gestern einen Blick ins Gästebuch geworfen – setzen nicht all zu viele Touristen in die Tat um. Rene, die ja Managerin der Lodge ist, scheint das wenig zu kümmern. Der Lodgebesitzer selbst ist ein deutlich älterer, reicher Herr, der in Australien wohnt, so gut wie nie in Isanga Bay gesehen ward und offenbar auch nicht auf schwarze Zahlen besteht. Die wenigen Gäste, die auf dem Landweg kommen, dürfen sich dann mit einer derartigen Zufahrt abquälen (ich erinnere: wir waren heuer das DRITTE Auto, das den Weg nach unten gefahren kam).
Dabei wäre es sicher kein Problem, ein paar arbeitswillige Dorfbewohner zu rekrutieren und mit deren Hilfe in einigen wenigen Tagen Arbeit die schlimmsten Rinnen und Gräben mit Felsbrocken einzuebnen. Doch Rene, so klingt immer wieder durch, ist wenig überzeugt von der Effizienz der einheimischen Arbeitskräfte – wenn ich das mal so geschönt ausdrücken darf. Auch heute bei Gericht geht es wohl um einen ehemaligen Angestellten, der Rene wegen zu niedriger und teilweise auch ausstehender Zahlungen verklagt hat: Ihrer Meinung nach hat er bekommen, was er verdient… Klar, ich kann die Angelegenheit in keinster Weise beurteilen, aber Renes gesamte Erzählungen hören sich schon sehr nach denen eines Afrikaandermädels alten Schlages an. Und Sean bläst ins selbe Horn, wenn ich sehe, wie er mit dem schwarzen Angestellten umspringt, der mitgekommen ist, um uns eventuell früher wieder zurückzufahren.
Eine gute halbe Stunde später laufen wir im Hafen von Mpulungu ein, das Boot wird routiniert am recht rustikal anmutenden Anlegesteg vertäut. Sean und unser schwarzer Begleiter entladen eilig den Kahn, während Rene noch gemütlich eine raucht. Der Boy bleibe beim Boot und wir könnten jederzeit mit ihm nach Isanga Bay zurückfahren, erklärt sie uns. „Gebt ihm halt ein paar Kwacha, damit er sich was zum Essen kaufen kann und habt ansonsten viel Vergnügen“. Als wir uns erkundigen, wie der Boy denn heiße, lacht sie uns verschmitzt an und sagt: Tight Ass! In Wahrheit sei sein Name Titus, „aber wir nennen ihn halt so“. Titus, der gerade wieder Kisten vom Boot nach oben hievt, tut so, als würde er nichts hören, aber sein Gesichtsausdruck spricht Bände.
Wir entschuldigen uns per Blick bei „Knackarsch“, der nur resigniert abwinkt, während Rene und Sean ihrem Gerichtstermin entgegen eilen. Jürg und ich verlassen nun auch, voller Vorfreude, das abgesperrte Hafengelände und stürzen uns ins Abenteuer „Mpulungu“. Im Reiseführer habe ich gelesen, dass hier jeden Freitag die MS Liemba anlegt und mit der Ankunft von unzähligen Passagieren und noch zahlreicheren Waren sich der Ort in einen riesigen Freiluftmarkt verwandeln solle. Heute haben wir Dienstag, also nix MS Liemba, aber schon beim Einlaufen in den Hafen haben wir ein üppiges Marktgewimmel erspäht, das wir uns nun näher ansehen. Es ist noch relativ früh am Tage, gerade mal 9 Uhr, und die Aufbauarbeiten sind in vollem Gange. Frauen schleppen körbeweise getrocknete Fische herbei und schütten diese, ordentlich angehäuft, in den Staub. Weiter hinten, bei den Holzbuden, werden Lkw-Planen und zusammengenähte Plastiksäcke hochgerollt, der Fundus an Klamotten, Töpfen, Pfannen, Schüsseln in voller Pracht nach draußen geräumt. Jürg und ich schlendern durch die Menschenmengen und beschließen, erst mal hoch zur wahrscheinlich einzigen Sehenswürdigkeit (im klassisch touristischen Sinne) Mpulungus zu gehen, um später das Markttreiben am Hafen nochmal in vollem Gange zu erleben.
Bei dieser Sehenswürdigkeit handelt es sich um die Niamkolokirche, deren gerade mal 15 Meter hohen Glockenturm man schon vom Hafen aus sehen kann. Sie wurde 1895 von der London Missionary Society erbaut, die bekehrten Schäflein sammelten sich zu Gottesdiensten im kleinen, aber kühlen, dickwandigen Kirchenschiff. Nach 12 Jahren gaben die Missionare auf, nicht, weil die Schäflein zu störrisch waren, sondern weil die Schlafkrankheit zu viele Opfer unter den frommen Brüdern forderte. Bald danach brach ein Feuer in der Kirche aus und das dicke Mauerwerk litt erheblich. Mitte der 60er-Jahre wurde die älteste Steinkirche Sambias notdürftig restauriert, jedoch nur die Wände; das Dach vergaß man. Nun steht es heute da, ein Kirchlein aus Steinen, aus dessen Ritzen dürre Gräser wuchern, vergessen und verfallend. Ich bin schon vor langen Jahren aus der Kirche ausgetreten und es hat nichts mit christlichen Sentimentalitäten zu tun, dass es mir einfach ein bisschen weh tut, zu sehen, wie da nun ein Gotteshaus ungenutzt vor sich hin gammelt und zudem noch aus allen Nischen verdächtig nach Urin riecht.
Nachdenklich gehen wir auf der staubigen Straße hinter der Kirche weiter; Mauern, gespickt mit zerschlagenen, einbetonierten Flaschen schirmen die angrenzenden Grundstücke vor unseren neugierigen Blicken ab. Doch nicht nur wir sind neugierig, auch die Menschen, die uns entgegenkommen, äugen uns unverhohlen an, grüßen uns aber nur höflich. Ein junger Moslem in brokatener Djellaba und dazu passender Kappe hingegen spricht uns an. Völlig wider die ortsüblichen Begrüßungsrituale stellt er sich nur kurz namentlich vor, geht aber dann sofort in medias res. Wir seinen ja Weiße und sicherlich in christlicher Mission hier. Er, Sharif würde die kurze Zeit, die wir zwischen unseren zahlreichen Terminen hätten, gerne nutzen und uns seine Ansichten und Bitten hinsichtlich christlich-muslimischer Zusammenarbeit erläutern. Wir bremsen ihn ein bisschen ein, indem wir ihn über den profan-touristischen Grund unseres Hierseins aufklären, was ihn aber nicht abhält, in höchst interessanter und differenzierter Weise seine Belange vorzutragen. Danach verabschiedet er sich, unter Rücksichtnahme auf unsere, seiner Meinung nach straffe Terminsituation, rasch, aber herzlich von uns und eilt von dannen. Natürlich hat er uns noch schnell seine Adresse notiert. Jürg und ich sehen uns ein wenig erstaunt an, freuen uns aber sehr, diesen intelligenten und aufgeschlossenen Mann kennengelernt zu haben – auch wir ihm nicht weiterhelfen können.
Auf jeden Fall verspricht das ein interessanter Tag zu werden! Hauptziel unserer heutigen Besichtigungstour ist das Marktviertel von Mpulungu Town. Jürg ist kaum noch zu bremsen, denn er möchte sich so gerne in das Gewimmel stürzen, mit Leuten in Kontakt kommen, reden, erfahren, sich austauschen. Für seine Erwartung ist der kommunikative Part mit Einheimischen in den vergangenen Wochen zu kurz gekommen, um so mehr freut er sich auf die folgenden Stunden. Kurz darauf erreichen wir das Marktgelände, das aus einem verwinkelten Gewirr von Holz- und Steinbuden besteht, in deren Mitte die eigentlichen Markthallen liegen. Hier sind nahezu alle Branchen, Produkte und Dienstleistungen vertreten: Friseure, Apotheken, Eisenwaren, Lebensmittel, Getränke, Gewürze, Videos, Musikkassetten, Elektrogeräte, Haushaltswaren, Bekleidung, Reparaturen, Schneidereien und vieles mehr. Was auffällt, wenn auch nicht verwundert, sind die häufigen Ladenbeschriftungen in Suaheli, wie z. B. „Duka la madawa“ für die Apotheke. Schließlich befinden wir uns ja ganz in der Nähe der Grenze zu Tansania, da schadet es nicht, im Handel sprachlich auf das Nachbarland einzugehen.
Bevor Jürg und ich in das Getümmel tauchen, wollen wir noch ein wenig nach-frühstücken und kehren zu diesem Behufe in einem Grocery-Store gleich am Rande des Marktgeländes ein. Freundlich werden wir von einem jungen Mann empfangen, der unserer deutschen Unterhaltung eine Weile höchst interessiert lauscht, um sich dann in unser Gespräch einzumischen – auf deutsch! Drei Jahre habe er in Deutschland studiert, dann aber doch den Gemischtwarenladen seines Vaters übernommen. Stolz präsentiert er uns, was er unternimmt, um die Sprache nicht zu vergessen: er besitzt zahlreiche Lernbücher, Lesestoff und Lern-Kassetten, die er zum Amüsement seiner Angestellten immer während der Arbeit hört, getreulich die vorgegebenen Texte nachspricht und Übungsfragen beantwortet. Er freut sich riesig, endlich mal wieder mit Native Speakers plaudern zu können und platzt fast vor Stolz, als wir ihm bescheinigen, dass er wirklich verdammt gut deutsch spricht. Jürgs Schweizer Akzent und mein Bayerisch bereiten ihm keinerlei Probleme, er scheint ein echtes Sprachtalent zu sein! Wir unterhalten uns ausgiebig mit ihm, bevor ihn der nächste Kunde in Beschlag nimmt und wir unser Frühstück, wegen der drängenden Enge im Laden, auf seiner Veranda weiterführen.
Endlich haben wir auch mal wieder Handyempfang und nutzen die Gelegenheit, unsere Lieben zuhause zu kontaktieren. Jürg läßt sich von seiner Frau ein Rezept für seinen ultimativen Lieblings-Zitronenkuchen schicken, den wir heute abend für Annettes morgigen Geburtstag nachbacken wollen. Die benötigten Zutaten kaufen wir gleich bei unserem neuen Freund ein, bevor wir weiter ziehen. Die Marktleute sind allesamt auffällig zurückhaltend; man grüßt uns zwar höflich, aber niemand versucht, uns in sein Geschäft zu zerren und von der überragenden Qualität seiner Waren zu überzeugen. Jürg, so scheint mir, ist darüber ein bisschen enttäuscht. Die Zurückhaltung aber ändert sich schlagartig, als wir die Markthallen betreten. Aufgeregt beginnen die Händlerinnen und Händler zu tuscheln, allenthalben werden wir am Ärmel gezupft und wortreich beschwallt. Die Gespräche gestalten sich ein wenig schwierig, denn hier spricht kaum jemand englisch, aber das tut der Kommunikation im Endeffekt wenig Abbruch, denn was mit Worten nicht gesagt werden kann, wird mit Händen und Füßen kompensiert. Die Leute amüsieren sich königlich über uns Weiße, wie wir bisweilen recht ratlos vor den angebotenen Waren stehen. Jürg kauft aus Neugier ein paar Cellophanpäckchen recht ominösen Inhalts; die Erklärungen des Händlers bringen uns in diesem Falle jedoch nicht wirklich weiter. Als Jürg fragt, ob er denn den Verkaufsort seiner Neuerwerbungen nebst Verkäufer fotografieren dürfe, tritt er eine Lawine los. Alle wollen sie auf’s Bild. Von den nebenliegenden Ständen, sogar von draußen strömen Leute herbei, die ebenfalls fotografiert werden möchten. Und natürlich will jeder einzelne das Ergebnis auf dem Display begutachten.
Mir wird das Ganze ein bisschen zu viel und ich ziehe mich beobachtend an den Rand des Geschehens zurück. Scheu macht mich eine Händlerin auf ihr Angebot aufmerksam – sie hat wunderschöne Zitronen, wie geschaffen für unseren Lemon Cake. Rasch nutze ich die Gelegenheit und winke Jürg, um Hilfe ersuchend, herbei, schließlich kann ich eine derartige Investition nicht allein entscheiden… Mit deutlicher Erleichterung entzieht er sich entschuldigend dem Gewimmel und gemeinsam tätigen wir den Kauf von vier Zitronen. Die Händlerin deutet schüchtern auf Jürgs Kamera und legt bittend ihren Kopf schief. Oh nein, nicht schon wieder! Doch Jürg hat schon abgedrückt. Erneut strömen Fotowillige herbei. Doch unsere Marktfrau macht die Fronten klar: jetzt ist sie dran. Nach einer Weile, höchst zufrieden mit den Ergebnissen des Shootings, bittet sie Jürg um Zusendung der fertigen Fotos. Klar, sagt der, wohin soll ich sie schicken?! Sie schreibt uns ihren Namen und die Adresse auf: D. M., Marktstand x, Mpulungu. Und das kommt an, erkundigen wir uns ungläubig. Ja, nickt sie ernst, ganz sicher. Mit dem festen Versprechen, ihr die Bilder zu schicken, verabschieden wir uns von ihr.
Lauthals wird Jürg noch in ein Gespräch verwickelt. Ein Shopbesitzer, direkt neben den Markthallen, hat den ganzen Fotoact beobachtet und macht Jürg nun bittere Vorwürfe. Er würde ja nur Bilder machen, um sie nachher gewinnbringend zu verkaufen und sich daran zu bereichern. Das wäre ungerecht. Wenn er denn schon Geld mit seinen Bilder mache, solle er diese Finanzen gefälligst hier, am Ort des Geschehens, investieren. Am besten bei ihm, dem Schimpfenden, persönlich. Geduldig versucht Jürg ihn von seiner Unschuld, dem Gegenteil zu überzeugen. Es fruchtet wenig, der Mann schimpft weiter, beharrlich sein eigenes Business anpreisend. Irgendwie verständlich, auch wenn er gar nicht abgelichtet wurde. Darüber ließe sich nun ewig referieren, philosophieren, diskutieren – das Recht bezüglich der Personenfotografie und anhängender Veröffentlichung in jedweder Form.
Wie oft schon wurde jeder von uns abgelichtet und nicht gefragt, ob ihm das recht sei. Solange das ganze in persönlichen Fotoalben nebst wohlgemeintem Kontext auftaucht, ist dagegen nichts einzuwenden. Auch ich klebe sicherlich schon in zahlreichen japanischen Fotoalben, ganz einfach, weil ich um 17.00 Uhr über den Münchner Marienplatz gelatscht bin. Jürg und ich versuchen, dem schimpfenden Knaben das klar zu machen. Wir haben Familie, Freunde, Menschen, die sich freuen das zu sehen; wo wir waren, wie die Menschen da waren, aussahen, welche Erlebnisse wir da hatten. Das sieht jetzt auch der Schimpfer ein und lässt uns einlenkend ziehen.
Wird schön langsam auch Zeit für uns, wieder runter zum Hafen zu gehen, schließlich ist es schon kurz vor 12 Uhr. Auch dort ist das Marktgeschehen mittlerweile in vollem Gange. Man weiß gar nicht, wohin man zuerst sehen soll; überall sind Menschen, bunt gekleidet, Waren, pittoresk aufgestapelt. Wir werden scheinbar wenig beachtet, aber umso deutlicher beobachtet. Normalerweise bin ich, wie gesagt, sehr zurückhaltend mit dem Fotografieren von Menschen, es sei denn, ich werde direkt dazu eingeladen. Auf unserer bisherigen Tour durch Sambia ist das erstaunlich oft geschehen: Hier bin ich, du hast eine Kamera, also bitte fotografier mich. Allein der daraus resultierende Menschenauflauf überfordert mich erfahrungsgemäß. Doch hier, am Hafenmarkt, präsentieren sich mir ideale Bedingungen. Es wimmelt, das Leben tobt, man nimmt mich mitsamt der Kamera einfach hin, man bittet um Fotos, man läßt mich beobachten. Und es gibt so verdammt viele kleine Szenen zu sehen. Eine Mutter mit ihrem Hosenscheißer, der nach Aufmerksamkeit verlangt, die liebevoll das Gesicht verzieht, als er ihr mit allen Fingern in die Augen tapst. Ein jugendlicher Eierverkäufer, der seine Ware vom Kopf nimmt, um sie auf Augenhöhe präsentieren zu können. Männer, die sich an Bord der Boote ausruhen, mit denen sie den Fang des Tages an Land gebracht haben. Säuglinge, die selig an Mamas Rücken schlafen oder kleine Kinder, die Mamas Brust zugunsten eines Cassava-Fladens verschmähen. Schwere, anständige Jungs, die sich voller Stolz auf der Enduro präsentieren. Jürg, der mit einem Brot in der Plastiktüte strahlend daneben steht. Was soll daran falsch sein?!
Wir reißen uns los von diesen Bildern, von diesem Geschehen, diesem farbenfrohen Leben, klopfen an das eiserne Hafentor und werden reingelassen. Titus bewacht brav das Boot, winkt uns entgegen. Wir folgen Renes Empfehlung bezüglich des Brotzeitgeldes und Titus entschwindet. Kurz darauf kommt er glücklich mampfend zurück, hat gerade hinunter geschluckt, als auch seine beiden Arbeitgeber einlaufen. Prozess noch nicht wirklich gewonnen, Nachverhandlung anberaumt, aber es sieht gut aus für Rene und Sean. Nichtsdestotrotz ist es wie bei uns: alles Rechtliche dauert, bis es endgültig entschieden ist. Sean steuert voller Vorfreude auf seine Schlappen und kurzen Hosen das Boot gen Isanga Bay, Rene und ich führen Mädls-Gespräche, Jürg hört alles mit, sagt aber nix dazu. Weiser Mann!
Gen Frühnachmittags sind wir wieder in Isanga Bay. Der Landy blitzt und strahlt, so sauber hat Annette ihn geputzt. Joachim hat sich um den technischen Teil gekümmert. Alles funkelt und funktioniert, Jürg und ich erzählen, Annette und Joachim berichten von den Geschehnissen des Tages. Bei wohltuenden Bädern im kühlen Lake Tanganyika, Geschmuse mit den Lodgehunden, Faullenzen, verbringen wir gemeinsam den verbleibenden Nachmittag. Rene taucht wieder auf, sie hat noch immer keine Nachrichten über die Escarpment Road, die Sonne neigt sich und wir fangen an, Annettes Geburtstagskuchen in Angriff zu nehmen. Jürgs Frau Elisabeth hat das Rezept ge-smst, Gramm für Gramm ist angegeben, mitsamt Backpulver, allein das Mehl fehlt. Nun bin ich keine passionierte Bäckerin, aber Rezepte, in denen Backtriebmittel angegeben werden, beinhalten normalerweise auch sowas wie Mehl. Mehl steht nicht in Lisas Rezept – also brauchen wir das auch nicht, sagt Jürg. Entzückender, vertrauensvoller kann kein anderer Liebesbeweis sein: Meine Frau sagt das, sie vergißt nie was – was sie sagt, ist so, ich liebe sie, sie ist vollkommen, ich vertraue ihr auf ganzer Linie! Was will man einer solchen Aussage entgegensetzen – nichts. Weil sie so spürbar von Herzen kommt, weil sie so schön ist! Wir backen den Kuchen ohne Mehl, in der Glut unseres Lagerfeuers, stilvoll mit einem Alubecher in der Kuchenmitte. Sieht ansehnlich aus, was da hochbäckt, ist aber nur süß, fett, schwer, gelb – mit Loch in der Mitte… Wir lassen das Gebilde auskühlen und bereiten uns gedanklich schon auf den morgigen Tag vor, Annettes Geburtstag und gleichzeitig eine ziemlich herausfordernde, ansehnliche Strecke.
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