Es passiert selten, dass ich nachts wach werde, aber heute gegen drei Uhr dringt ein Geräusch in meine Träume, das ich lieber nicht hören möchte: prasselnder Regen, gepeitscht von heftigem Wind trommelt auf unsere Zeltplane hernieder. Nein, nein und nochmal nein! Gestern beim Zubettgehen hatte ich zufrieden die fast trockene Wäsche befühlt und beschlossen, sie über Nacht hängen zu lassen. Shit, das war die falsche Entscheidung. Eigentlich müsste ich jetzt raus, aber will ich das wirklich? Vielleicht regnet es ja schon länger und die Sachen triefen wieder, dann würde ich umsonst aus dem Zelt krabbeln. Ach, wurst, egal, wegfliegen kann das Zeug ja nicht und irgendwann wird es schon mal trocken werden. Irgendwann, murmle ich und kuschle mich zurück in meinen warmen, weichen, trockenen Schlafsack.
Im Morgengrauen erwache ich dann erneut, unser Zelt hängt schwer im Gestänge, die Wäsche klatschnass auf der Leine. Es nieselt, es windet, alles ist Bäh und ich bin niedergeschlagen. Nicht nur, weil ich es extrem ungemütlich finde, sondern vor allen Dingen wegen Heinz. Er war vor über 20 Jahren ein paar wenige Male beim Zelten und jedes einzelne Mal hatte es geregnet. Im Vorfeld dieser Tour versicherte er mir, er hätte kein Problem mit Camping – außer es würde wieder nass… Und es ist nass, so richtig!
In Regenjacken nehmen wir ein kurzes Frühstück im Stehen, im Schutze unserer Plane und während wir kauend versuchen, unseren Optimismus aufrecht zu erhalten, hört der Regen tatsächlich auf. Dann folgt Business as usual – wir packen. Jeder kämpft freudlos mit den sandig-klammen Ausrüstungsgegenständen, auch Jürg, der ganz abseits hinter ein paar Büschen logiert. Plötzlich ertönen aufgeregte Rufe aus dieser Richtung und Jürgs lange Arme winken uns über die Buschspitzen hinweg herbei. Beim Zusammenrollen seines Zeltes kam auf einmal ein Skorpion zum Vorschein, der es sich zwischen Zeltboden und Plane wohlig trocken eingerichtet hatte. Jetzt fühlt er sich verständlicherweise sehr gestört, richtet immer wieder seinen Stachel auf, huscht ein paar Schritte vorwärts, bis er sich erneut zusammenklappt. Der hübsche kleine Kerl ist eine willkommene Abwechslung in der Packroutine und hebt unsere Laune deutlich. Nach ein paar Fotos allerdings verkrümelt sich das Spinnentier, wir packen fertig und verkrümeln uns auch.
Langsam tuckern wir am Rande des Deception Valley entlang und schütteln ungläubig die Köpfe: alles steht unter Wasser, der ungemütliche Wind läßt Pfützen aussehen, als wären sie Fließgewässer, die kleinen Salzpfannen sind Teiche mit spiegelnder Wasseroberfläche. Am Himmel fliegen laut schimpfend ein paar verwaschene Schildraben, am Boden putzen sich verstrubbelte Borstenhörnchen, deren Schwänze nassen Weihwasserbürsten ähneln, Oryxe und Springböcke stehen mit zwischen den Schultern eingezogenen Köpfen bedröppelt in der Gegend herum. Wenn wir nicht genau wüßten, wo wir sind, wir würden es nicht glauben. Doch trotz aller Tristesse und Ungemütlichkeit ist auch das ein besonderes Erlebnis, das uns sicher in Erinnerung bleiben wird. Aber wenn es schon so nass ist, dürfte auch mal etwas blühen, denke ich mir. Ein paar Kilometer später erfüllt mir die Kalahari meinen Wunsch und etwas Rotes leuchtet da aus dem nassen Sand neben der Straße. Es ist eine Karoo-Lilie (Ammocharis coranica) – wie schon unsere Moremi-Scadoxus gehört auch sie zu den Amaryllis-Gewächsen, ist voller heilsam-giftiger Alkaloide und voller Schönheit. Aus einer dicken, unterirdischen Knolle, die einem in der Trockenzeit gar nicht auffallen würde, sprießt nicht nur ein Stängel mit üppigen, weinroten Blüten, sondern auch ein Blattfächer, der in seiner Symmetrie aus der Nähe betrachtet optisch unglaublich reizvoll ist. Der vorangegangene Regen hat dicke, gewölbte und ganz scharf abgegrenzte Wassertropfen auf den Blättern hinterlassen, in denen sich jetzt die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages fangen. Jürg wirft sich flach auf den Boden, um dieses Bild in allen Einzelheiten fotografisch festzuhalten, Heinz hingegen würde die Knolle am liebsten ausgraben und mit nach Hause nehmen. So erfreut sich jeder auf seine Weise an dieser zauberhaften Pflanze, deren Entdeckung wie ein Wendepunkt des Tages erscheint.
Unaufhaltsam kämpft sich die Sonne durch den wolkenverhangenen Himmel, gewinnt peu à peu die Oberhand und taucht alles Weitere, was wir sehen, in freundliches Licht, das die Farben leuchten läßt. So auch die beiden Roten Stachelagamen (Agama aculeata), die eine Weile später im Kampf über den Sand tanzen. Von intensivem Blau-Türkis sind ihre Köpfe bis hinab zu den Schultern, eine typische Ausfärbung in der Paarungszeit, die allerdings zunehmend verblasst, je länger sich die beiden von uns beobachtet fühlen. Wir lassen die beiden Kontrahenten alleine und fahren weiter; die Sonne spiegelt sich in den babypo-glatten Pfützen, auch in einer besonders großen, die da gerade vor uns erscheint. Doch deren Wasseroberfläche ist leicht wellig; Wellen, die konzentrisch von etwas ausgehen, das auf der Pfütze treibt. Wir trauen unseren Augen nicht, als wir näher kommen und erkennen, wodurch diese Wellen verursacht werden: es ist ein Pärchen von Rotschnabelenten (Anas erythrorhyncha), der wohl individuenstärksten Entenart Afrikas. Also keine Seltenheit, dass man sie zu Gesicht bekommt, doch Enten sind in der Regel „hydrophile“ Wesen, bevorzugen Feuchtgebiete, Seen, dauernassen Lebensraum. Hallo, wo sind wir gleich nochmal? Man könnte es glatt vergessen: in der Kalahari, die uns weiterhin mit wechselhaftem Wetter verwöhnt. Immer wieder klatschen dicke Tropfen auf unsere Scheiben, gleich darauf lichten sich die schweren Wolken und die Sonne hinterleuchtet weiße Cumulus-Gebilde in Schäfchenform an einem schier unendlich scheinenden Himmel, der sich über goldgelbe Grasebenen und vegetationslose Salzpfannen spannt.
Das ist die Weite, nach der sich mein Blick, mein Gemüt so gesehnt haben. So weit das Auge reicht – Ebenen, Wolken, Raum, Grenzenlosigkeit – das dominierende Afrikabild meines innersten Empfindens, das, was mich jedes Jahr auf’s neue hierher zieht. Zwischendurch, gerade an den Pfannenrändern, sind natürlich auch Tiere zu sehen: Schakale, Oryxe, Springböcke. Doch komisch, so nahe sie auch sein mögen, empfinde ich sie eher nur als schmückendes Beiwerk in einer grandiosen Landschaft, die mich völlig anders, tiefer berührt, als zum Beispiel das überbordende Paradies am Khwai. Vielleicht gibt mir diese Umgebung Kraft, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, vielleicht ist sie in ihrer Kargheit Balsam auf die Wunden meiner von einer Erfolgsgesellschaft gestressten Seele, vielleicht auch Spiegelbild meines Sehnens nach Ehrlichkeit, schnörkelloser Wahrheit und Klarheit des Seins. Zuhause, in meiner üblichen Welt, muss ich permanent auf allen Kanälen, mit sämtlichen Antennen auf Empfang stehen, sehe mich in der Pflicht, auf Zwischentöne, verwinkelte Schachzüge anderer zu achten, Konsequenzen im voraus zu bedenken, muss ständig wechselnde Eindrücke zuordnen und richtig einschätzen. Hier kann ich Augen und Geist schweifen lassen, ohne anzuecken, werde aufgesogen von schonungsloser Ewigkeit und faszinierender Purheit. Diese Umgebung entrückt, beflügelt, befreit mich; zumindest phasenweise, denn natürlich kann ich meinen Background nicht völlig tilgen und mich meinen erlernten Bewertungsschemata auf Dauer entziehen. Da hinten zum Beispiel stehen Gnus, ein paar wenige nur, wie hingemalt am Pfannengrund – ein Tier exakt im Goldenen Schnitt unter dem perfekten Schirmdach einer Akazie. Meine Augen nehmen das wahr, mein Geist genießt, mein zivilisationsgeschultes Kritikbedürfnis vermeldet: Baumsituation unbefriedigend. Warum? Weil sich weder Gnu noch Akazie aufgrund des dahinterliegenden, leicht erhöhten Pfannenrandes frei gegen den Himmel abheben. Es ist schlicht und einfach unmöglich, sich ganz von Erlerntem zu befreien, aber allein diese Erkenntnis hat schon was für sich!
Und nicht jede Baumsituation läßt Wünsche offen, stellen wir ein paar Kilometer weiter fest. Wir benötigen nämlich noch Brennholz und ein kleines Waldinselchen neben dem Weg offeriert uns dicke abgestorbene Äste und brennfreudige Zweiglein in Hülle und Fülle. Begeistert sammeln wir, so viel die Arme und Autodächer fassen, bevor wir weiter Richtung Piper Pan fahren. Annette klaubt unterwegs noch einen Gnuschädel auf, den sie freudestrahlend auf dem Reserverad vor der Windschutzscheibe befestigt. Das Ding macht sich gut da, ich allerdings bin weniger angetan, denn bei Fotos aus der Rückbankposition heraus nach vorne, sind immer störende, unscharfe Hörner im Bild. Doch im Moment ist das egal, denn bald darauf kommen wir an unserem heutigen Tagesziel an: Piper’s Pan, CKP2, ein wundervoller Platz direkt am Rande der Pfanne mit perfekter Sicht. Rund um unsere Site – und nur um diese – stehen Pflanzen, die Heinz sofort in Extase versetzen. Meterhoch erheben sich gnubbelige Stämme mit papyrusartig abblätternder Rinde und winzigen Blättern gegen den Horizont. Das sind Sukkulenten, eindeutig! Nur welche, wie heißen sie? Bevor wir das genau bestimmen, errichten wir unser Lager, spannen sicherheitshalber auch die Regenplane, denn es dräuen schon wieder Gewitterwolken.
Mit unerschütterlicher Zuversicht hänge ich abermals unsere nassen Klamotten zwischen zwei Bäumen auf, während Heinz sich schon ungeduldig durch unsere Pflanzenbücher wühlt. Und die Bordbibliothek ist unschlagbar: wir haben es hier mit Sesambäumen (Sesamothamnus lugardii) zu tun, einer von zwei im südlichen Afrika heimischen, stammsukkulenten Pedaliaceae (Sesamgewächse) mit sehr begrenztem Verbreitungsgebiet. Diese Schätzchen werden bis zu 5 Meter hoch, haben – so das Buch – keinerlei medizinischen Wert, nicht mal das weiche, faserige Holz ist zu etwas zu gebrauchen, aber das ist uns herzlich egal. Heinz ist hin und weg, endlich etwas ihm bis dato Unbekanntes, Sukkulentes entdeckt zu haben und ich als alter Pachypodienfan fühle mich sehr angezogen von den caudiciformen Gnubbelstämmen, den cremeweißen, extrem langkelchigen Blüten und den leicht behaarten, prallen Schoten. Die gelbgrüne Rinde, die mintgrünen Blättchen bilden einen reizvollen Kontrast zum gewitterschweren Himmel, die Blüten sind einzigartige Kunstwerke und verströmen einen zarten Duft. Ich schnuppere begeistert, Heinz hingegen kann dem gegenwärtigen Zustand der Sesamothamnusse im wahrsten Sinne des Wortes nicht ganz so viel „abgewinnen“ – er hat es in erster Linie auf keimfähige Samen abgesehen. Mit Adlerblick umrundet er einen Sesambaum nach dem anderen, sucht Boden und Geäst nach geeignetem Material ab, aber die Schoten der letzten Vegetationsperiode sind alle aufgeplatzt und leer, die neuen Samenkapseln noch grün und unreif. Schade!
Langsam senkt sich die Sonne, Heinz verschiebt die weitere Samensuche auf morgen und wir machen uns in unwirklich schönem Licht auf den Weg zum Sundowner. Besser gesagt, wir würden gerne losfahren, nur leider springt der grüne Landy nicht an. Heute Morgen hatte er auch schon gezickt und wir schrieben die Probleme der nassen Nacht zu; jetzt allerdings hört sich das vergebliche Startgeorgel eher nach schlappschwänziger Batterie an. Kurzerhand schieben wir mit vereinten Kräften an, der Motor tuckert los und wir umrunden die Pan östlicherseits, direkt hinein in einen Sonnenuntergang, der seinesgleichen sucht. Der Himmel ist wolkig und das Gewölk ändert minütlich seine Farben; von maisgelb über lachs, orange, hellrot, blutrot, pink, lavendel, violett und purpur bis hin zu nachtblau; die Wolkenränder immer einen Tick leuchtender als die Wolke selbst. In jedem einzelnen Moment denkt man, es könne nicht noch intensiver werden, um das Sekunden später wieder zu revidieren. Phantastisch! Allein die Baumsituation, mal so nebenbei angemerkt, ist wieder ziemlich unbefriedigend… Aber das tut diesem traumhaften Sonnenuntergang keinen Abbruch, auch nicht, dass wir das Auto zum Starten schon wieder anschieben müssen. Darum kümmern wir uns morgen, jetzt fahren wir erst mal ins Camp und machen uns dort einen gemütlichen Abend. Gesagt, getan. Doch beim Kochen, es ist bereits völlig dunkel, erhebt sich plötzlich heftiger Wind. Annette sucht mit dem Gaskocher verzweifelt nach Windschatten, wir errichten einen Paravent, aber es bläst immer heftiger aus allen Richtungen. Sandböen wirbeln in die Kochtöpfe, in unsere Augen und während des zwischen den Zähnen knirschenden Abendessens beginnt es erneut zu tröpfeln. Die letzten sandigen Bissen schluckend, wünschen wir uns gute Nacht, werfen alles Geschirr ungespült in die Autos und ziehen uns in unsere Zelte zurück. Trotzig lasse ich die Wäsche hängen, kuschle mich lieber an Heinz und lausche mit ihm dem Gepladder auf unserer Zeltplane, das so heimelig einschläfernd klingt…
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