Es war eine „geschäftige“ Nacht für Heinz; ich habe davon nichts mitbekommen, obwohl ich ihn gebeten hatte, mich im Bedarfsfall zu wecken. Denn – trotz Campsite – wir befinden uns mitten in der Wildnis und vier Augen sehen mehr als zwei, noch dazu, wenn man von drängender Eile getrieben durch die Dunkelheit stapft. Doch Heinz ist unversehrt, fühlt sich sogar ein bisschen besser, verzichtet aber trotzdem auf ein Frühstück, ganz im Gegensatz zu uns. Nach selbigem begeben wir uns auf Morgenpirsch, vorbei an der Lodge, durch den tiefen Schlammgraben nahe der Lodge, der heuer noch tiefer ist als sonst, hinüber Richtung Dead Tree Island. Heinz vergißt seine noch vorhandenen Bauchschmerzen fast beim Anblick einer Rotnasen-Grüntaube (Treron calva) und von Giraffen, die wir in diesem Urlaub erstmals aus nächster Nähe und bei vollem Tageslicht sehen. Besonders angetan haben es ihm auch die Madenhacker, die buchstäblich auf jeder Körperöffnung der Giraffen sitzen und ihr nicht immer angenehmes Werk verrichten. Kurz nach Nkwe Crossing, direkt an der randvollen Lagune, werden wir Zeugen eines Ereignisses, das jeden von uns völlig in seinen Bann zieht. Aus einiger Entfernung schon hallen uns Geräusche entgegen, die sich anhören, als wären wir mitten im Set von Jurassic Park gelandet. Ein hallendes Brüllen, röhrende Schreie, die sich jeglicher Beschreibung und auch Zuordnung entziehen. Als wir endlich Sicht auf die Ursache der Akustikkulisse bekommen, sind wir gefesselt: es sind zwei Nilpferdbullen, die unermüdlich aufeinander losgehen. Man kennt die Kolosse ja, wenn sie sich innerhalb der Herde kurz in die Schranken weisen, immer wieder drohend das Maul aufreißen, sich lauthals angrunzen. Aber das hier ist etwas völlig anderes! Ein Bulle mitsamt seiner kleinen Herde wird von einem Fremden, einem Eindringling herausgefordert.
Hier geht es nicht um das Zurechtrücken bestehender interner Hierarchien, sondern um die Existenz als „Familienvater“, vielleicht sogar um Leben und Tod. Jedenfalls kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Einige der Kühe äugen vorsichtig, fast besorgt in gebührlichem Abstand zum Zentrum des Geschehens aus dem Wasser, auch die Kälber sind neugierig, werden aber von den übrigen Herdenmitgliedern vehement aus der Gefahrenzone gehalten. Der Revierbulle und der Eindringling mustern sich abschätzend, verwedeln Kot, brüllen drohend, prallen mit voller Wucht aufeinander, immer und immer wieder. Schlamm- und Wasserfontänen spritzen bei jedem Zusammenprall hoch in die Luft, die Lagune wogt. Die beiden Kampfhähne produzieren Geräusche, die so machtvoll, so dröhnend, so urtümlich sind, dass es fast unwirklich erscheint. Die immense Lautstärke lässt die Luft erzittern und das umliegende Leben vor Ehrfurcht erstarren. Uns geht es nicht anders – wir sind völlig im Banne dieses gewaltigen Schauspiels. So sehr, dass wir etwas anderes beinahe nicht mitbekommen: nicht weit vom Hauptgeschehen schnappt sich ein mächtiges Krokodil eine trinkende Lechwe und zieht sie mit rollenden Bewegungen unter Wasser. Bevor wir richtig realisieren, was hier auf dem anderen „Sender“ abgeht, ist das Croc mit seiner Beute bereits untergetaucht, nur ein leichtes Kräuseln der Wasseroberfläche zeigt, dass wir nicht halluziniert haben. Wir können es zwar nicht beweisen, denn keiner von uns halt schnell genug reagiert und den Kill fotografisch festgehalten, dafür aber geht der Hippokampf weiter und füllt unsere Speicherkarten.
Nach etwa einer Stunde endet die Auseinandersetzung recht plötzlich. Die ganze Zeit präsentierte sich der Revierbulle als der eher Schwächere, nach Punkten Unterlegene, aber das müssen wir wohl falsch interpretiert haben. Denn nach einem letzten, in unseren Augen unentschiedenen Aufprall macht sich der Eindringling eilig von dannen, begleitet von einem finalen Schrei des Siegers. Zwei Minuten später liegt die kleine Hippoherde im Wasser, als wäre nichts geschehen. Die Passagiere eines Lodgefahrzeuges, die erst kurz vorher am Ort des Geschehens eingetroffen sind, sind dennoch hellauf begeistert vom Erlebten, ohne jedoch zu wissen, was ihnen entgangen ist. Aber so ist das auf Gamedrive – man genießt, was man zu sehen kriegt und kann nur selten ahnen, was man hätte sehen können, wäre man früher an Ort und Stelle gewesen. Auch wir haben den Kampf nicht von Anfang an mitbekommen, aber es ist definitiv unser Highlight des heutigen Tages. Allerdings, so witzeln wir, wird es eine satte Beschwerde an die Parkverwaltung geben: man kann nicht allen Ernstes einen derartigen Kampf und diesen Krokodilkill gleichzeitig auf den Plan setzen, da kommt doch kein Mensch mehr mit!
Vielleicht aber sehen wir auch von einer Beschwerde ab, denn der Tag, der Park beschert uns weitere Highlights, die zwar vielleicht weniger monumental, aber nicht minder schön sind. So tummeln sich seit geraumer Zeit einige Meerkatzen direkt neben unseren Autos, die sich durch unsere abgelenkte Aufmerksamkeit so sicher fühlen, dass sie immer näher gekommen sind. Eine der Affendamen ist so versunken in den Anblick meiner Rückseite, dass sie fast der Schlag trifft, als ich mich umdrehe und ein formatfüllendes Portrait von ihr mache. Laut schimpfend eilt sie in die Büsche, aber ich habe das Gefühl, einen Blick in ihre Seele erhascht zu haben. Und wenn ich mir, lange nach diesem magischen Moment, das Foto ansehe, versinke ich immer wieder in ihren Augen, ihrem fragenden und zugleich wissenden Blick.
Ein Stündchen noch fahren wir am Ufer der Lagune entlang, beobachten einen Graufischer (Ceryle rudis) auf der Jagd, wie er scheinbar mühelos Position über der Wasseroberfläche hält, bevor er hinabstößt in das glitzernde Nass eintaucht. Sekunden später ist er wieder in der Luft und späht erneut nach Beute. Ein paar Graulärmvögel (Corythaixoides concolor) mit ihren nöligen Rufen begleiten unseren weiteren Weg, bis wir plötzlich durch einen nicht unerheblichen, zweiarmigen Wassergraben gestoppt werden. Mhm, sollen wir da wirklich durchfahren? Wir bleiben erst mal stehen, genießen das üppige Leben rund um den Tümpel: Mohrenklaffschnäbel (Anastomus lamelligerus), Wollhalsstörche (Ciconia episcopus) und Sattelstörche (Ephippiorhynchus senegalensis), Waffenkibitze (Vanellus armatus), Libellen. Unsere Idylle wird rüde durch ein Lodgeauto gestört, das sich von der anderen Wasserseite nähert und, ohne zu halten, in einer schwungvollen S-Route durch das nasse Hindernis kurvt. In Jochen erwacht der Geländefahrer zum Leben und – nachdem wir nun ja wissen, wie man fahren muss – machen auch wir uns an die Durchquerung, just for fun. Unsere Landys triefen, die „Meerkat“ kann kaum noch aus den Augen sehen, so randvoll mit Wasser sind ihre Frontscheinwerfer, aber unseren Jungs hat es Spaß gemacht. Am anderen Ufer pausieren wir erneut, Sven baut eine Sandburg, wir beobachten die selben Vögel und Insekten aus unserer jetzigen Position, genießen den geänderten Lichteinfall und das schlichte Verweilen.
Der Sonnenstand, es ist schon Mittag, dirigiert uns dann auch wieder zurück Richtung Camp. Auf diesem Weg kommmen wir an einer HATAB-Site vorbei, malerisch gelegen, aus der verführerische Kochdüfte in unsere Nasen dringen. Ach, so ein bisschen was essen und anschließend einen geruhsamen Nachmittag im Camp verbringen, das können wir uns jetzt auch gut vorstellen, erlebnissatt wie wir sind. Auf den letzten Kilometern verlieren wir beinahe noch die Orientierung, aber Heinz hat den Überblick, erkennt zweifelsfrei einen markanten Termitenhügel wieder, weist uns sicher die richtige Richtung und schon sind wir wieder auf unserer Campsite.
Oh weia, hier ist Chaos angesagt, Pavian-Chaos! Wir hatten alle Utensilien verpackt, verstaut, verräumt, aber eine unserer drei vermeintlich unknackbaren Vorratskisten wurde trotzdem geöffnet und von geschwinden Affenhänden ausgeräumt. Nun liegen aufgeschraubte Marmeladen- und Erdnussbuttergläser über den Platz verstreut, außer ein paar klebrigen, versandeten Resten ist nichts mehr vom einstigen Inhalt übrig. Naja, was soll’s, unsere Zelte stehen ja immerhin noch, auf die paar Leckereien können wir verzichten und haben zudem wieder neue Erkenntnisse über die Lernfähigkeit und Fingerfertigkeit unserer Verwandten gewonnen.
Schnell ist das Chaos bereinigt und ein kleiner Lunch auf den Tisch gebracht. Danach ergehen wir uns in einer ruhigen Siesta; jeder tut, wonach ihm gerade ist. Tommi, Annette, Patricia und Sven waschen ein paar gründlich vollgedreckte Kleidungsstücke, Jürg lässt sich genüsslich in seine mitgebrachte Luxus-Hängematte plumsen, Jochen schläft eine Runde im Sitzen, ich lege nach dem Duschen meine Beine bei einem Tee hoch – während Heinz’ Augen schon wieder auf Entdeckungsreise sind. Ein paar Baumhörnchen haben sich genähert und inspizieren ohne Scheu unser Lager. Sie sammeln Brösel vom Boden, eilen geschäftig zwischen den Tischbeinen hin und her, bis sie schließlich auf unsere gemauerte Wasserstelle klettern. Dort steht, noch recht nass, unser faltbares Spülbecken, unter dem eine kleine Ameisenstraße verschwindet. Dieses Gekrabbel hat bereits das Interesse einiger Braundrosslinge (Turdoides jardineii) erregt, die, nachdem die leicht zu fangende Beute weggepickt ist, angestrengt unter das Spülbecken spähen. Die Hörnchen hingegen turnen am tröpfelnden Wasserhahn herum, stillen ihren Durst und versuchen vergeblich, den Deckel des zum Trocknen aufgestellten Potijes zu lupfen, neben dem ein Skink hervorspäht und abwechselnd seine Beinchen in die Luft hält. Nachdem auch die letzte Ameise vertilgt ist, verlagern die Drosslinge ihre Nahrungssuche auf unseren Tisch, unter dem sich bereits eine kleine Rotschnabel-Frankolinfamilie (Pternistes adspersus) versammelt hat. Heinz ist hochentzückt über die 3 Küken, die flauschfedrig unter den wachsamen Blicken ihrer Eltern erste Erfahrungen mit Toastbröseln und ähnlichen Hinterlassenschaften unsererseits sammeln. Der Frankolinpapa wagt sich sogar auf den Tisch und pickt interessiert an seinem recht undeutlichen Spiegelbild in der Thermoskanne herum. Im Baum über uns hat sich eine Grautokodame (Tockus nasutus) niedergelassen und eruiert die Lage – ob hier wohl noch etwas zu holen ist?
In diesem Urlaub haben wir bis jetzt kaum Tokos zu Gesicht bekommen – Vögel, die sonst immer als erste zur Stelle sind, wenn Essen auf den Tisch kommt. Dafür aber können wir sie umso öfter hören. Ihr „Kawagga-wagga-wagga“ schallt aus allen Bäumen und Büschen und signalisiert, dass sie Wichtigeres zu tun haben, als Touristen zu belauern und sich diesen als Fotomotiv zur Verfügung zu stellen: es ist Balz- und Brutzeit. Allein unser einsames Tokomädl scheint noch keine amourösen Flausen im Kopf zu haben oder sie hat den Richtigen noch nicht gefunden…
Über all diesen Beobachtungen verstreicht ein gemütlicher Nachmittag, Stunden des Müßiggangs, die gut tun, in denen die Seele baumeln und Erlebtes verarbeitet werden kann. Doch schon ist es wieder 16 Uhr und Zeit für einen Evening Drive, auf den wir diesmal vorsichtshalber unsere drei Kisten mitnehmen. Bereits auf dem Weg hinaus aus dem Campgelände kommen wir an einer Impala-Herde vorbei, die einen ganzen Kindergarten mit sich führt. Fürsorglich und wachsam umgeben von den älteren Tieren, staksen die Kleinen auf teilweise noch sehr ungelenken Beinen durch das hohe Gras. Wenn der Regen kommt beginnt eine Zeit des Überflusses, auch für die Impalas – das Gras sprießt schnell und saftig-grün und bietet reichlich Nahrung; es ist die Zeit, in der der Nachwuchs geboren wird. Und so, wie es aussieht, sind wir mitten in der Phase der Geburten, denn fast alle Impala-Herden, die wir zu Gesicht, haben so einen Kindergarten in ihrer Mitte.
Wenig später passieren wir einen Teich, an dessen Ufer gerade ein paar Hippos in der sanften Nachmittagssonne grasen und dort, wo der Teich in einem seichten Arm in Schilf endet, tummeln sich unzählige Vögel: Wollnackenstörche, Löffler, Klaffschnäbel, Sattelstörche, Waffenkibitze, Heilige Ibisse, Nilgänse, Nimmersatte, Graureiher. Sie alle sind emsig auf Nahrungssuche, jeder auf seine ihm eigene Art, spielen aber allesamt ein riskantes Spiel, denn im Wasser liegen auch eine ganze Menge von Krokodilen, die ihrerseits auf Beute lauern. Immer wieder schnellt eines der Reptilien aus dem Wasser und schnappt nach dem sorglosen Federvieh. So richtig ernst scheinen sie ihre Attacken nicht zu betreiben, dennoch entgeht ein Mittelreiher nur mit knapper Not dem aufgerissenen Rachen, flattert völlig verschreckt hoch, um sich ein paar Meter weiter wieder niederzulassen – in der Nähe eines anderen Krokodils. Lange stehen wir hier und beobachten das Treiben, doch die sinkende Sonne lässt die Bäume bereits wieder lange Schatten werfen, die uns wie erhobene Zeigefinger zur Weiterfahrt mahnen.
Nach ein paar Kilometern überqueren wir eine große, baumfreie Fläche, über der hunderte von Scharlachspinten und Schwalben ihre Runden fliegen – es scheint reichlich Beute in der Luft zu sein. Mit in den Nacken gelegten Köpfen beobachten wir das rege Treiben am Himmel, leider aber ist das Licht schon zu schlecht, die Vögel zu schnell und unsere Objektive zu klein, um noch vernünftige Fotos von den farbenprächtigen Bienenfressern machen zu können. Außerdem scheint der Luftraum über uns nicht sonderlich beliebt, die Tiere halten deutlich Abstand zu uns Guck-in-die-Lufts. Höfliche Störenfriede, die wir sind, setzen wir unseren Weg bald fort und erfreuen uns an dem wundervollen Licht, das die Landschaft sehr plastisch und noch besonderer macht. Golden leuchtet das trockene Gras, intensiv grün das Schilf und die Bäume, tintenblau der Himmel. Wir kurven einen malerischen Weg entlang, der aber bald im unbefahrbaren Nichts endet. Das Wenden gestaltet sich in diesem schilfigen Gelände etwas schwierig, deshalb steigen wir kurz aus, um die Bodenbeschaffenheit auszukundschaften. Gerade als wir wieder in die Autos klettern, kracht und raschelt es vernehmlich in einem nahen Wäldchen – das klingt verdächtig nach Elefanten! Rasch wenden wir die Autos und fahren vorsichtig, im Schritttempo, den Weg zurück. Und wie gut, dass wir vorgewarnt waren, denn direkt hinter der nächsten Biegung stehen ein paar Kühe mit ihren Kälbern mitten auf dem Weg und tröten uns warnend an. Motoren aus! Die Kühe überzeugen sich eine Weile von unserer Harmlosigkeit, dann lenken sie ihren Nachwuchs in unmittelbarer Nähe unserer Autos an uns vorbei. Wir scheinen sogar so unbedenklich zu sein, dass sämtliche Büsche neben uns noch gründlich und in aller Seelenruhe benascht werden. Es dauert lange, bis auch der letzte Elefant so weit von uns entfernt ist, dass wir bedenkenlos die Motoren wieder anwerfen können.
Die Sonne steht schon tief am Horizont und wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit unser Lager erreichen wollen, müssen wir uns ein bisschen sputen. So also drücken wir auf die Tube, soweit das in dieser Umgebung eben möglich und erlaubt ist, können den Sonnenuntergang nur am Rande würdigen und kommen tatsächlich im letzten Licht im Camp an. Es ist manchmal wirklich unglaublich: wir sind im Urlaub, ohne Termindruck, haben täglich knapp 13 helle Stunden zur Verfügung, kommen aber fast jeden Abend in Zeitnöte. Zuhause würde mich das wahnsinnig nerven, aber hier sind die Gründe für unsere abendlichen Hetzereien so interessant, so schön, dass ich das Geeile gerne hinnehme. Lästig ist nur, dass man sich dann nicht an einen gedeckten Tisch setzen kann, sondern erst mal anfängt, das Abendessen vorzubereiten und wartet, bis es fertig ist – und das mit deutlich Hunger in der Bauchgegend. Heute gibt es Kartoffel-Ananas-Auflauf, ein kulinarisches Experiment, das nicht ganz nach jedermanns Geschmack ist, aber das Betthupferbier spült’s schon runter. Gegen 22 Uhr begeben wir uns in die Zelte und schlummern, begleitet vom Schnorcheln der Hippos und dem Quaken der Frösche einem neuen Tag entgegen, der sicher wieder vieles zu bieten haben wird.
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