Ausgeruht und erholt erwachen wir am frühen Morgen und beginnen unser Tagwerk, indem wir uns mit einem ausgiebigem Frühstück stärken. Danach beseitigen wir das kochtechnische Schlachtfeld vom gestrigen Abend, nutzen die Gunst unseres hochzivilisierten Umfeldes, laden Akkus, reparieren ein paar Kleinigkeiten und trödeln ansonsten gemütlich vor uns hin. Annette und Jochen statten noch dem campeigenen Pool einen Besuch ab, während Heinz mit seiner Kamera loszieht und ich ein wenig Literatur wälze. Als unsere beiden Freunde vom Schwimmen zurückkehren, bricht plötzlich geschäftiger Aktionismus aus, von dem ich mich sofort anstecken lasse: ich eile zum Zelt und beginne mit dessen Abbau.
Heinz, der gerade in einem nahen Gebüsch auf offenbar erfolgreicher Vogeljagd ist, sieht mich werkeln und kommt leicht konsterniert herbei. „Was is’n jetzt los?“, fragt er mit erbostem Blick auf eine fieberhaft räumende Annette, einen auf dem Autodach herumkletternden Jochen und auf mich. „Da wird ewig rumgetrödelt und jetzt, wo ich mich mal in Ruhe umsehen möchte, da geht plötzlich die Hektik los! Das kapier ich einfach ned!“ Zornig pfeffert er seine Kamera auf den Tisch und kniet sich in den Rasen, um mir mit dem Zelt zu helfen. „Ach, Schneck, lass nur, ich mach das schon, geh du zu deinen Vögeln.“, versuche ich ihn zu besänftigen. „Nein, natürlich helf’ ich dir. Ich versteh’s bloß ned. Jeden Tag der selbe Scheiß, jeden Tag das Gesandel und dann plötzlich Stress. Das geht doch auch anders. Und meine Brillenvögel kann ich jetzt auch vergessen!“
Rohrspatzend schleppt er unsere Zelteinrichtung zum Auto. Ich kann ihm seinen Grant ein bisschen nachfühlen und muss ihm im Stillen recht geben. Wir wissen unsere Tageskilometer, wir wissen, dass wir immer lange brauchen, weil es so viel zu sehen gibt, wir wissen, dass der Tag nur 24 Stunden hat und trotzdem fahren wir meist auf den letzten Drücker los, kommen kurz vor Einbruch der Dunkelheit an. Das nervt manchmal und wir könnten es sicher anders koordinieren, straffen. „Aber dafür sind wir doch im Urlaub, Schneck, dass wir mal sandeln können.“, sage ich einlenkend, als Heinz wiederkommt, um die nächsten Sachen abzuholen. „Trotzdem. Scheiß Hetzerei da, jeden Tag!“, schimpft er im Weggehen. Naja, er wird sich schon wieder einkriegen bis heute Abend, wenn wir wie immer im letzten Tageslicht unser Zelt aufschlagen werden…
Und das wird sicher so sein, denn, als wir endlich abfahrbereit sind, ist es schon wieder fast halb elf und wir haben eine ziemlich stramme Strecke vor uns. Aber wenigstens ist der größte Teil davon geteert und sollte relativ rasch zu bewältigen sein. So also brausen wir los, hinaus auf die B1, die uns schnell und schlaglochfrei nach Noordoewer führt, wo sich die namibische Grenzstation befindet. Im Handumdrehen sind wir durch und steuern daraufhin Vioolsdrif an, um nach Südafrika zu einzureisen. Kaum dort angekommen, befiehlt uns ein finstergesichtiger Officer mit markiger Geste, sofort anzuhalten und verlangt nach den Autopapieren, mit denen er daraufhin gemessenen Schrittes den Wagen zu umrunden beginnt. Ohoooh! Doch plötzlich ertönt ein jauchzendes „Jiehaa!“ von hinten, der ehemals finstere Beamte strahlt jetzt über sein ganzes pummeliges Gesicht, gibt uns die Papiere zurück, meint grinsend „You guys love Africa, hmm?!“ und winkt uns einfach durch. Was war denn das jetzt? Ach, vielleicht haben ihn die zahlreichen Aufkleber auf der Hecktür so fröhlich gestimmt; die nämlich zeugen von vielen Afrikabesuchen in allen möglichen Ländern – das scheint ihm wohl ausnehmend gut gefallen und auch geschmeichelt zu haben. Gut für uns. Wenn jetzt seine formular-bearbeitenden Kollegen angesichts unserer unzähligen, afrikanischen Pass–Stempel auch so begeistert reagieren, steht unserer problemlosen Einreise nichts mehr im Wege. Und tatsächlich: 15 Minuten später ist alles erledigt und wir setzen unseren Weg rechtmäßig auf südafrikanischem Staatsgebiet fort. Ereignislose 70 Kilometer weiter südlich erreichen wir, nach eintöniger Fahrt auf schnurgerader Straße, das staubige Kaff Steinkopf und biegen dort in westlicher Richtung auf die R382 ab.
Langsam aber stetig führt uns nun das Teerband nach oben, hinauf in die Berge, die wie ein Bollwerk vor uns aufragen. Die Straße wird immer kurviger; gefühlte zirka hundert Serpentinen später kommen wir dann auf dem 916 Meter hohen Sattel des Anenous Passes an. Ein grandioser Blick ins flache Hardeveld tut sich vor uns auf und während wir im Fahren die Aussicht genießen, lässt Heinz seine Augen sehnsuchtsvoll in die umliegenden Felsen schweifen: Sukkulenten! Ein paar unidentifizierte, aber eindeutig sukkulente Pflanzen hat er mit bloßem Auge schon aus dem fahrenden Auto heraus erspäht, aber das Gelände sieht so verheißungsvoll aus, dass er am liebsten anhalten und zu Fuß losziehen würde. Dazu aber ist weder die Örtlichkeit geeignet, noch haben wir genügend Zeit für eine ausgedehnte botanische Exkursion – leider. Langsam also schlängeln wir uns die Passstraße wieder nach unten. Sie ist hervorragend ausgebaut und wirkt derartig neu, dass man sich kaum vorstellen kann, hier auf durchaus historischen Pfaden unterwegs zu sein: einst nämlich war diese Route ein viel frequentierter Weg für Eisenerztransporte. Aus den fernen Minen von Okiep und Concordia wurde das wertvolle Material auf Pferderücken in den noch ferneren Hafen von Port Nolloth geschafft, um von dort aus verschifft zu werden. Doch auch lange vor seiner kommerziellen Nutzung war dieser Pass schon als einzige Möglichkeit zur Überquerung des felsigen Höhenzuges bekannt: bereits die alten Khoikhoi kletterten hier herum und gaben dem Bergübergang auch seinen Namen. Das geklickte Khoisan-Wort „Nani=nus“ wurde zu Anenous und bedeutet nichts anderes als „the side of the mountain“.
Diese steile Barriere, die das Escarpment hier dem Reisenden in den Weg stellt, haben nun auch wir überwunden, wir lassen die Berge hinter uns und rollen hinab ins felsengespickte Hardeveld, das allmählich ins flache Sandveld übergeht und sich Meeresniveau nähert. Und jetzt hält Heinz es nicht länger aus: seit ewigen Kilometern schon ziehen Sukkulenten deutlich sichtbar an uns vorüber, doch vor einiger Zeit haben sich nun auch noch imposante Euphorbien-Horste dazu gesellt und die will sich Heinz jetzt unbedingt genauer anschauen. Da trifft es sich gut, dass wir alle gerne eine Pause gemacht hätten – pinkeln, rauchen, Füße vertreten – und auch dem Auto tut ein Stopp nicht schlecht, denn während der letzten 20 Kilometer ist die Kühlwasseranzeige immer höher gestiegen und steht nun kurz vor dem roten Bereich.
So also kurven wir kurzerhand in den sandigen Streifen links der Fahrbahn, springen aus dem Wagen und landen gewissermaßen im Paradies. In einem Paradies mit leichten Einschränkungen, denn hier liegt jede Menge Zivilisationsmüll herum. Doch zwischen den zahlreichen Glasscherben, Plastikfolien, Reifenfetzen und Metallteilen wächst eine unglaubliche Vielfalt von Sukkulenten. Da sind zum Beispiel fingerartige, ledrige und papillose Würstchenketten, filigrane Agglomerate winziger, dicht gedrängter Blättchen und steckerlförmige Euphorbien, das Schönste und Augenfälligste jedoch sind große, frischgrüne Blätter, die von einem tomatenroten Rand geziert werden. Es sind eindeutig Mittagsblumengewächse, da es uns aber leider nicht gelingt, ein blühendes Exemplar ausfindig zu machen, können wir die Pflanzen auch nicht genauer bestimmen. Egal! Wir sind so begeistert von der dargebotenen Sukkulentenpalette, dass uns dieses Identifikationsproblem keinen Kopf macht, sondern lediglich unsere Vorfreude auf den Richtersveld Nationalpark fast ins Unermessliche steigert.
Nachdem wir nun alle Pflanzen gebührend bestaunt, unsere Blasen erleichtert und das Auto gründlich gecheckt haben, setzen wir unseren Weg fort, um möglichst rasch unserem Traumziel näher zu kommen. Bereits eine halbe Stunde später laufen wir in Port Nolloth ein, einem Küstenort, wie er, in meinen Augen, trostloser nicht sein könnte: windverblasen, nebelgeplagt und voller unbewohnter Ferienbungalows im tristen Einheitslook. Nein, hier möchte ich nicht tot über dem Zaun hängen! Dazu aber besteht ja auch Gott sei Dank keine Notwendigkeit; das einzige, was wir vor Ort tun müssen, ist tanken und das geht schnell. Im Zentrum des Kaffs dann empfängt uns die ersehnte Tanke, die jetzt, mitten im April, immer noch die volle Weihnachtsdeko an den Fenstern kleben hat, was etwas befremdlich wirkt. Noch befremdlicher aber, zumindest für uns Deutschsprachige, ist der Name des Betreibers, der in großen Lettern über der Ladentür prangt. Der bedauernswerte Mann heißt doch tatsächlich und allen Ernstes Pieter Kotze! Nein, nicht Coetzee, sondern schlicht und ergreifend Kotze. Er kann ja beileibe nichts dafür und ahnt wahrscheinlich auch nichts von dem schalen Geschmack, den uns sein Familienname sofort auf die Zungen zaubert, nichtsdestotrotz beneide ich ihn nicht. Es ist schon eine recht unangenehme Sache, einen seltsamen Namen wie Katzenwadel, Backofen oder Dotterweich zu führen, auch ein anzüglicher wie Schlüpfer, Ficker oder Mösl ist nicht besser, aber ein derart unappetitlicher, selbst wenn er im eigenen Lande nicht in diesem Sinne verstanden wird?! Nein, Herr Kotze, das geht leider gar nicht! Auf jeden Fall hoffe ich inständig für dich, du mögest niemals auf die Idee kommen, ins deutschsprachige Ausland auszuwandern, denn da hättest du sicher wenig Spaß.
Während ich gerade sinniere, welchen Lauf mein bisheriges Leben wohl genommen hätte, wäre ich zum Beispiel in eine Familie namens Bröckerlhusten geboren worden (Barbara Bröckerlhusten, hihi!), kurvt ein weiteres Auto neben den Zapfsäulen vor. Dem bulligen Pick Up entsteigt ein noch bulligerer Südafrikaner, stilgerecht gewandet in kurze Hosen, weiße Tennissocken und Ledersandalen. Er drückt seinem begleitenden Schwarzen herrisch Geld in die Hand, weist ihn an, den Tank zu befüllen und kommt dann ohne jegliches Hallo neugierig auf uns zu. „Wo seid ihr denn her?“, fragt er auf Afrikaans, den Blick verwundert auf unser Nummernschild gerichtet. „Wir sind aus Deutschland.“, antworte ich formvollendet in seiner Landessprache. „Duitsland, Duitsland…?“, rätselt der Typ, tausend Fragezeichen im Gesicht tragend. Von diesem seltsamen Land hat er offensichtlich noch nie etwas gehört, doch statt weitere Fragen zu stellen, wie ich eigentlich erwartet hätte, dreht er sich nur erneut grußlos murmelnd um, greift in seine Hemdtasche – und zündet sich eine Zigarette an; völlig entspannt, direkt neben den Zapfsäulen. Na, Prost Mahlzeit!
Bevor wir hier nun noch alle in die Luft fliegen, beeilen wir uns, diesen gastlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen und folgen weiter der R382 in nördlicher Richtung. Kilometer um Kilometer fräst sich die Straße durch öde Landschaft, ab und zu erhaschen wir einen erquicklichen Blick aufs Meer, werden von einem entgegenkommenden Auto erfreut, ansonsten aber vergnügen wir uns damit, unsere Kühlwasseranzeige zu beobachten. Und die bietet uns bei weitem am meisten Action: unaufhörlich steigt die Nadel nach oben; wenn es bergauf geht, hält sie kurzfristig inne, doch kaum rollen wir bergab, klettert sie weiter. Diese Tatsache, ergänzt durch einen Blick auf Tacho und Thermometer, macht den Sachverhalt klar. Die Außentemperatur liegt nahe der Vierzig-Grad-Marke, wir fahren durchschnittlich 100 km/h, die Luft ist feucht und fast zum Schneiden – und das ist zu viel des Guten für das Kühlsystem unseres Land Rovers. So also halten wir unsere Geschwindigkeit, schalten aber testweise einen Gang zurück und beflügeln mit dieser hochtourigen Fahrweise die Kühlung. Es funktioniert! Die Nadel verharrt kurz unter Rot und wir erreichen ohne weitere Zwischenfälle Alexander Bay, ein Städtchen, das direkt an der Mündung des Oranje Rivers in den Atlantik liegt. Viel sehen wir von dem Ort allerdings nicht, denn die Abzweigung, die wir nehmen müssen, führt uns kurz vor der Stadtgrenze nach rechts, Richtung Osten.
Gleich nach dem Abbiegen geht der bis dato so kommode Teer abrupt in Gravel über, wir ziehen eine mächtige Staubwolke hinter uns her und bewegen uns, über steile Dünenkämme hinweg, durch eine recht trostlose Gegend. Nicht mal der Oranje, der uns eine ganze Weile zu unserer Linken begleitet, kann der Landschaft etwas Gefälliges verleihen; die wenigen, ziemlich sparrigen Eukalyptusbäume am Flussufer sind staubig und wirken leicht dehydriert, einige landwirtschaftliche Gebäude mit ihrem lieblosen und heruntergekommenen Äußeren verstärken den öden Gesamteindruck noch zusätzlich. Allmählich geht das Farmland dann in Minengebiet über, was die Sache aber nicht ansprechender macht, denn hier wurde das Unterste nach oben gekehrt, es dominieren riesige Abraumhalden und schweres Fördergerät. Der einzige Lichtblick sind drei Strauße, die plötzlich vor uns über die Straße sausen – doch selbst diese imposanten Laufvögel sehen irgendwie staubig und mitgenommen aus. Nach langen, langweiligen Kilometern, auf denen sich unsere Wagenkühlung weitestgehend wieder normalisiert hat, erreichen wir eine flache Senke, die offenbar gelegentlich von reißenden Wasserströmen geflutet wird.
Hier liegt jede Menge Schwemmholz herum und das können wir hervorragend für unser abendliches Lagerfeuer gebrauchen. So also nutzen wir die Gelegenheit, halten an und klettern aus dem Auto. Puh! Wie ein Faustschlag trifft uns die in der Senke stehende Hitze; bei satten 40 Grad Celsius und fehlendem Fahrtwind ist nun unser körpereigenes Kühlsystem an seiner Leistungsgrenze. Schwitzend und keuchend sammeln wir rasch die besten Brennholzstücke zusammen, packen sie hechelnd aufs Dach und sinken dann ermattet in unsere Sitze zurück, die lediglich etwas über Körpertemperatur erwärmt sind und sich somit fast kühl anfühlen. Trotzdem kommen wir auf unserem weiteren Weg nur langsam wieder auf Normalgrade herunter.
So langsam, dass unsere Schweißbäche gerade eben erst zu weißen Salzkrusten weggetrocknet sind und die Gesichter sich nur ansatzweise entrötet haben, als wir endlich doch das Hellskloof Gate erreichen. Einsam liegt es in einem weiten Tal und dürfte in der Regel nicht besonders häufig frequentiert sein. Und auch wenn jetzt, da die Fähre in Sendelingsdrif ihren Geist aufgegeben hat, etwas mehr los sein mag, so werden wir dennoch erfreut begrüßt, denn wir verheißen Abwechslung. Aufgrund des offenbar unterversorgten Kommunikationsbedürfnisses des Gate-Personals ziehen sich die Formalitäten verständlicherweise ein wenig in die Länge. Doch während Annette noch mit dem Mitteilungsdrang der Rangerin zu kämpfen hat, mache ich mich aus dem Staub und sehe mich in der näheren Umgebung um. Nach wenigen Metern jedoch bleibe ich bereits kleben: ein kleines Pölsterchen sukkulenter Blätter wächst da zu meinen Füßen, gekrönt von einigen fragilen, magentafarbenen Blüten. Eine Mittagsblume und das schon direkt am Eingang des Parks! Wenn das mal kein gutes Omen ist! Der herbeigerufene Heinz lächelt milde über meine Begeisterung, denn er, der Sukkulentenkenner und -liebhaber hat ganz andere, viel höhere Erwartungen an die Flora des Richtersveld Nationalparks, während mich schon eine „schnöde“ Mittagsblume in Entzücken versetzt.
Bis Heinz’ anspruchsvolle Vorfreude allerdings ihre Erfüllung findet, muss er sich noch ein wenig gedulden, denn erst mal führt uns unser Weg hinauf nach Sendelingsdrif. Ein Großteil dieser Strecke verläuft seltsamerweise außerhalb der Parkgrenzen, die man zwar an keinem Zaun oder einer sonstigen Markierung erkennt, dafür aber überdeutlich an den Wühlereien der Minengesellschaft, die alles pflanzliche Leben vernichtet haben. Hier wächst nichts, was von Interesse wäre. Und mit nichts meine ich auch nichts – alles ist kahl, steinig, staubig, tot. Allein derart gierigen Raubbau des Menschen an der Natur beobachten zu müssen, ist schon schlimm genug, aber hier, in unmittelbarer Nähe des Nationalparks, wirkt solches Tun noch viel bedrohlicher. Ich frage mich ernsthaft, wer wohl die Aufsicht über das Wirken der Minengesellschaft hat, und vor allen Dingen, wie kontrolliert wird, ob sich die kommerziell orientierten Gierschlünde auch tatsächlich an die unsichtbaren Grenzen halten und sie sich nicht doch unauffällig und meterweise tiefer in den Park vorarbeiten. Das wäre wirklich traurig, denn jeder Quadratmeter unberührten Landes ist kostbar, jeder Quadratmeter umgewühlten Landes hingegen ist auf Jahrzehnte hin verloren. Man glaubt gemeinhin nicht, wie empfindlich Wüstenvegetation ist, sind die Pflanzen, die unter solch unwirtlichen Bedingungen gedeihen, doch wahre Überlebenskünstler. Wenn der Mensch aber das Gleichgewicht durcheinander bringt, in welcher Form auch immer, dann ist es um die sonst so zähen, jedoch hoch spezialisierten Gewächse geschehen, dann sind sie chancenlos. Und es dauert sehr, sehr lange, bis sich der Boden regeneriert und wieder neues pflanzliches Leben gedeihen kann.
Apropos „dauern“: mittlerweile sind wir in Sendelingsdrif und somit auch bei der lahmgelegten Fähre angekommen. Traurig hängen die aufgespleißten Enden des gerissenen Führungsseils von den beiden Stahlkonstruktionen am Ufer, noch trauriger hängt die Fähre halb an Land, kein Mensch ist weit und breit zu sehen, geschweige denn ein neues Seil. Tja, das könnte noch recht lange dauern, bis das Malheur behoben und das Metallfloß wieder einsatzbereit ist… Doch uns kann es ja egal sein, schließlich sind wir unseren Umweg bereits gefahren und endlich da angekommen, wo wir schon so lange hin wollten – zurecht, denn unser Traumpark empfängt uns mit allem, was er zu bieten hat. Kaum haben wir uns wieder eingekriegt über den sagenhaft schönen Blick in die Berge – im Vordergrund der gluckernde Oranje, dekoriert von zartgrünen, leise im Wind rauschenden Weiden, im Hintergrund bläulich schimmernde Felsenkämme – tauchen wir ein in die reiche Pflanzenwelt des Richtersvelds. Als erstes begrüßt uns, gleich nach der zweiten Kurve, ein riesiges, rotes Blütenkissen. Vollbremsung, aussteigen, bewundern, bestimmen! Hermannia stricta, ein Busch aus der Familie der Sterculiaceae, eine der attraktivsten Spezies Namibias mit hohem gartenbaulichen Potential, sagt der Pflanzenführer. Damit hat er unbestritten recht: auch uns erfreut das rote Blütenmeer inmitten der steinig-sandigen Landschaft zutiefst und das sogar, obwohl die gute Hermannia weit entfernt von jeglicher Sukkulenz ist.
Eine Viertelstunde später allerdings, wir sind schon wieder on the road, erfüllt sich auch dieser Wunsch. Wir durchqueren gerade eine flache Senke, die von zahlreichen Schwemmbetten durchzogen ist, als Heinz einen aufgeregten Quiekser ausstößt. Da steht doch glatt eine riesige Hoodia (gordonii) direkt neben der Pad und man kann ihre kaktusähnlichen Stachelwürste kaum erkennen, denn sie sind über und über mit handtellergroßen, rosaroten Blüten bedeckt. Heinz ist restlos begeistert. Mal um Mal umrundet er ungläubig den lachsfarbenen Blumenturm, krabbelt auf allen Vieren über den Boden und schnuppert entzückt an den Blütenkelchen. „Mmhmmm, so schlimm riechen die gar nicht, Schneck, komm mal!“ Uih, ja, stimmt! Nur ein Hauch von Verwesungsduft dringt in meine Nase und ich bin fast ein wenig enttäuscht, denn von einer ausgewachsenen Aasblume hätte ich eigentlich heftigeren Gestank erwartet. Doch offenbar scheint dieses schwache Gerüchlein auszureichen, der Fortpflanzungsstrategie des stacheligen Gewächses Genüge zu tun: ein paar dicke Fliegen tummeln sich erregt brummend auf den Blüten, kriechen surrend in die engen Kelchöffnungen und bestäuben so die Pflanze.
Das jedoch ist nicht das einzig Spannende an der Hoodia: sie sichert ihren Fortbestand zwar durch ihr unappetitliches Blütenodeur, gefährdet ihn aber gleichzeitig durch einen ihrer Inhaltsstoffe. Nein, nicht sie, die Pflanze selbst, ist daran schuld, der Mensch hat es mal wieder zu verantworten. Die Hoodia nämlich enthält ein Stereoidglykosid namens P57AS3, welches dem (menschlichen) Gehirn einen Sättigungszustand vortäuscht, sobald es dem Körper in kleinen Mengen zugeführt wird. Die Khoisan wußten seit Jahrhunderten um die hunger- und durststillende Wirkung der Hoodia und nutzten diese in Notzeiten und auf langen Jagdausflügen in nachhaltiger Art und Weise. In den 60er-Jahren aber kamen die appetitzügelnden Eigenschaften dieser Aasblumenspezies der verfetteten westlichen Welt zu Ohren und schon begann der Run auf das natürliche Schlankheitsmittel, was die Pflanze im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer stärker in ihrem Bestand gefährdete.
Immerhin ging der Ernte-Raubbau zunächst noch relativ langsam vonstatten, da das diätetische Wundermittel zwar bekannt, nicht aber der breiten Öffentlichkeit zugänglich war. 1996 jedoch rückte der Appetithemmer in der Fokus weltweiten Interesses: Wissenschaftlern gelang es, den Wirkstoffkomplex der Hoodia zu isolieren, ein Jahr später griffen die gierigen Klauen des englischen Pharmakonzerns Phytopharm nach der Lizenz für die globale Vermarktung der Schlankheitsdroge, 2001 gingen die Lizenzrechte hierfür an die amerikanische Firma Pfizer – für 32 Millionen US-Dollar. Als es allerdings im Jahre 2002 den San gelang, einen (wenn auch minimalen) Gewinnanteil an den Netto-Verkaufserlösen einzuklagen, gab Pfizer die gerade erworbenen Rechte postwendend an Phytopharm zurück, die sich 2004 ihrerseits mit der niederländischen Unilever zusammentat, um Vermarktung und Erforschung der Hoodia weiter voranzutreiben. Dieses Hin und Her, dieses übergroße Interesse der Pharmariesen an der verheißungsvollen Droge, entging natürlich nicht den wachsamen Augen hoffnungsvoller Erste-Welt-Dickerles, die sich eine bequeme Traumfigur herbeisehnten. Auf diese Weise, unterstützt vom mittlerweile omnipräsenten Internet, wuchs die Nachfrage nach Hoodia-Produkten ins Unermessliche und bedrohte die Bestände der langsam wachsenden Wüstenpflanze immer mehr. Da half es auch nur wenig, dass die ganze Gattung Hoodia im Jahre 2004 unter internationalen Artenschutz gestellt wurde. Um den Markt zu befriedigen, wurde und wird leider nach wie vor illegal in der Natur „geerntet“ – der kommerzielle, wuchsforcierte Anbau nämlich geht auf Kosten der Wirkstoffkonzentration – und somit ist die Hoodia gordonii heute eine gefährdete Art.
In Anbetracht dieser Sachlage dürfen wir uns umso glücklicher schätzen, nun vor so einem Prachtexemplar zu stehen, es erleben zu können – aber das tun wir ohnehin… Heinz kann sein Glück kaum fassen, eine blühende Hoodia dieser Größe an ihrem natürlichen Standort zu sehen und auch wir anderen sind schwer begeistert von der prachtvollen Sukkulente. Doch das Richtersveld hält noch viel mehr Unglaubliches für uns bereit. Kaum haben wir die Mega-Aasblume schweren Herzens hinter uns gelassen, schraubt sich der Fahrweg in steilen, steinigen Kurven nach oben und, je höher wir kommen, desto üppiger wird die sukkulente Vegetation. Wir schauen rechts, wir schauen links, wir renken uns beinahe den Hals aus, leider aber bleibt es zunächst beim Fern-Staunen, denn die Strecke ist recht anspruchsvoll und bietet kaum Gelegenheit, mal anzuhalten.
Doch schließlich haben wir den Anstieg hinter uns gebracht, den höchsten Punkt des Akkedis-Passes erreicht, wir stellen unser Auto auf einem ebenen Wegstück ab und klettern atemlos vor Spannung in die Botanik. Und wieder fliegen unsere Köpfe hin und her, unsere Augen, unsere Sinne sind völlig überfordert von dem, was sich uns darbietet. Wie angepflanzt wachsen hier die wundervollsten Sukkulenten, wie im Lehrbuch, wie im botanischen Garten, wie in einem Schaukasten. Schau mal, eine Cheiridopsis denticulata, bah, eine Aloe ramosissima, uih, eine Ceraria namaquensis, Schneck, komm schnell, hier ist ein kleines Pachypodium namaquanum! Und was ist das? Eine Crassula, ein Mesemb, ein Cotyledon, ein Tylecodon, eine Euphorbie und dort noch ein Sarcocaulon! Es ist Wahnsinn, unglaublich, fast unwirklich. Doch warum muss ich ausgerechnet jetzt an Prof. Dr. Hans-Dieter Ihlenfeldt denken? Vielleicht, weil der Sukkulenten-Spezialist der Universität Hamburg sicher genau hätte bestimmen können, was wir erst mal eher so Pi mal Daumen zuordnen, vielleicht aber auch, weil es ihm exakt wie uns erging, als er vor 50 Jahren auf seiner ersten Reise im Richtersveld war: ein von Menschenhand geschaffener Steingarten – das war die Empfindung, die seine Sukkulentenkundler-Seele durchflutete, als er dieses Paradieses ansichtig wurde. Es haute ihn damals förmlich um, genau so, wie es auch uns heute fast aus den Pantinen kippt.
Ein von Menschenhand geschaffener Steingarten – das trifft die Sache ziemlich genau, leider, denn es zeigt, dass man eine solche Üppigkeit, eine derartige Vielfalt in der Natur kaum noch antrifft, und wenn doch, sofort dazu neigt, es einem Homo horticulturalis zuzuschreiben! Doch hier ist nichts angelegt, es ist einfach so, wie es überall sein könnte, gäbe es nur uns Menschen nicht… Aber es gibt uns nun mal und umso wichtiger ist es, dass sich trotz allem einige Exemplare unserer Spezies dem Schutz der Natur verschrieben haben; Professor Ihlenfeldt zum Beispiel. Dieser Mann ist einer derjenigen, dem es das Richtersveld zu verdanken hat, heute Nationalpark zu sein und zudem auf der Liste der Weltnaturerbe-Orte zu stehen. Dazu aber später; denn hier und jetzt wollen wir nur genießen, brauchen all unsere Sinne, das Dargebotene aufzunehmen und zu verarbeiten. Lange klettern wir in diesem prall gefüllten Mini-Universum umher, entdecken minütlich Neues, fotografieren, staunen, bestimmen und spüren vor lauter Faszination kaum, wie drückend die Hitze ist, merken fast nicht, wie die Zeit vergeht.
Irgendwann aber verschwindet die Sonne hinter den Bergen, taucht den Botanik-Traum in diffuses Licht und erinnert uns daran, dass wir aufbrechen sollten, wollen wir heute noch bei Tageslicht unser Camp erreichen. Seufzend beugen wir uns den Gegebenheiten, schlichten uns wieder ins Auto und trennen uns schwerer Herzen von diesem phantastischen Ort. Unser Weg führt uns nun hinab in Oranjetal – je tiefer wir kommen, desto spärlicher wird die Vegetation, die Luftfeuchtigkeit hingegen steigt stetig. Im letzten Sonnenlicht schließlich, wie heute Vormittag bereits prophezeit und befürchtet, erreichen wir De Hoop, unser Camp direkt am Fluss. Bei immer noch über 40 Grad bauen wir rasch und schwitzend unsere Zelte auf, entfachen ein loderndes Lagerfeuer, werfen Kartoffeln in die Glut und Steaks auf den Grillrost, bevor wir uns ermattet bei einem kühlen Bier in unsere Klappstühle sinken lassen. Während wir schweigend und genießend unsere Sundowner-Getränke schlürfen, schweifen unsere Gedanken zurück auf den Akkedis-Pass, wir lassen diesen ereignisreichen Tag revue passieren, die untergehende Sonne hüllt uns und den Oranje in violettes Licht, ein paar Frankolins begleiten uns leise pickend und gackernd in die Nacht. Mit Appetit, aber auch ziemlich ausgepumpt, verzehren wir noch unser Dinner – und schweigen weiter, völlig platt, kaputt und voller umwerfender, neuer Eindrücke. Wollen wir schlafen gehen? Ja!!! Gute Nacht – so gut eine schweißtreibende, windstille, sandige Nacht bei knapp unter 40 Grad eben sein kann…
Nachtrag:
Wir haben uns nach bestem Wissen und Gewissen Mühe gegeben, die ungeheure Palette der gesehenen Pflanzen zu bestimmen. Nicht immer ganz einfach, vor allen Dingen ohne Blüten. Und der ein oder andere Irrtum wird uns sicher unterlaufen sein. Umso dankbarer wären wir für fachmännische Korrekturen… Ach ja, noch etwas: in diesem Beitrag sind Pflanzen als Tylecodon, andere als Cotyledon beschriftet. Das ist kein Schreibfehler, sondern Ersteres ist ein Anagram des Letzteren, weil da mal wieder von irgendwelchen Botanikern umgegattet wurde und man auf keine blödere Idee kam, als „einfach“ die Wechsstaben zu buchseln und Leute wie mich vollends damit zu verwirren!
Die Unbekannte des Tages:
Schreibe den ersten Kommentar