12. Oktober 2014; Richtersveld NP, Kokerboomkloof > Goegap NR bei Springbok

Richtersveld, oh mein Richtersveld…

Wie kann es sein, dass bestimmte Tage wie im Flug vergehen, bestimmte Nächte mit einem Fingerschnippen vorüber sind, während sich andere wie Kaugummi ziehen und Minuten sich wie Stunden anfühlen? Tja, je schöner und interessanter etwas ist, desto mehr scheint sich die Zeit zu sputen, um sich in weniger angenehmen Lebenslagen dann umso mehr einzuspreizen. Zum Beweis dieser Theorie ist der heutige Tag übrigens wie gemacht…

Bergkette im Richtersveld
Aloe dichotoma
Aloe pillansii

Nach unserer letzten Nacht im Richtersveld krabbeln wir frühmorgens aus den Zelten und versuchen mit größtmöglicher Gemütlichkeit zu frühstücken. Danach beginnen die Aufräum- und Abbauarbeiten, die zwar rasch vonstatten gehen, aber dennoch aufwändiger sind als sonst. Die letzten zweieinhalb Tage und drei Nächte haben wir in aller Ruhe und Beschaulichkeit hier verbracht und uns, wie der Mensch halt so ist, entsprechend ausgebreitet. Schüsseln, Töpfe, Karten, Bücher, Wäsche, Wildkameras, Vogeltränke, Lampen, Klamotten und diverse, seltener gebrauchte Gegenstände haben wir praktisch und griffbereit überall im Camp verteilt. Und all das muss jetzt wieder eingesammelt und an seinem Platz verstaut werden, nichts darf zurückbleiben. Zwar zählt der Lagerabbau nicht zu unseren bevorzugten Tätigkeiten, aber trotzdem wünschten Heinz und ich uns heute, er möge nie ein Ende nehmen. Tut er aber und das auch noch recht zügig. Nachdem wir einen letzten Kontrollblick über die liebgewonnene Campsite, einen definitiven Sehnsuchtsort im Richtersveld,  haben schweifen lassen, steigen wir wehmütig seufzend in die Autos und verlassen diesen gar gastlichen Ort, der uns die letzten Tage mit allem, was er zu bieten hatte, verwöhnte, um uns anschließend Richtung Helskloof Gate aufzumachen. Eine letzte Galgenfrist, die es auszukosten gilt!

Aloe pillansii
Unser Exil-Gebiet
Wir nähern uns Helskloof

Natürlich meiden wir heute den Domorogh Pass und nehmen stattdessen den Weg über die stattliche Aloe pillansii, deren Anblick nun auch Annette noch genießen soll. Sie tun ihr Bestes, sowohl die Aloe als auch Annette, doch die Pillansii zieht den Kürzeren: Annette ist ziemlich nervös und ihre Gedanken haben fast ausschließlich Raum für die bevorstehende Abfahrt über den Helskloof Pass, der zugegebenermaßen ebenfalls nicht ganz ohne ist. Wir sind voller Verständnis und klettern deshalb nach einer kurzen Besichtigungspause erneut in die Autos, um es hinter uns zu bringen. Bald darauf passieren wir die Hügel unseres kurzen Botanik-Exils und Heinz und ich seufzen vernehmlich und unisono, denn wir könnten unseren Freunden so viele schöne Pflanzen zeigen, ganz schnell, jetzt, da wir genau wissen, wo sie wachsen. Doch das ist wohl der falsche Zeitpunkt, weswegen wir schweren Herzens auf die gestraffte Aasblumen- und Sukkulenten-Führung – und ein Wiedersehen mit den blühenden Bodenschätzen – verzichten. Stattdessen sind wir auf den nun folgenden, rund zehn Kilometern ob der angespannten Situation einfach still, halten uns nur an den Händen und kommunizieren per Fingerdruck und Kopfnicken, wenn wir etwas Besonderes sehen. Viel zu schnell, eine Bestätigung der eingangs genannten Theorie, erreichen wir dann das Plateau vor der Abzweigung zum Helskloof Pass, das allerdings so spektakuläre An- und Ausblicke bietet, dass unser Mini-Konvoi auch ohne Heinz’ und mein Zutun stoppt: zu unseren Füßen erstreckt sich das Oranje-Tal mit malerisch in Violett- und Blautöne getauchten Bergketten, die umliegenden Hügel hingegen sind über und über mit leuchtendroten Aloen überzogen und bilden damit einen sehr reizvollen Kontrast zum diesigen Himmel und den bunten Bergen am Horizont. Dieser Anblick begeistert uns alle. Dass es sich bei den in unzähligen Rotnuancen glühenden Aloen um eine weitere, hochendemische Pflanzenart handelt (Aloe pearsonii), erhöht aber wohl eher nur Heinz’ und meinen Herzschlag spürbar. Egal. An diesem Punkt nimmt jeder einzelne von uns seinen ganz persönlichen Abschied vom Richtersveld, bevor wir uns dann, von unterschiedlichen Gefühlen behaftet, in die Tiefen der Helskloof-Passage nach unten stürzen.

Wohin das Auge blickt:
rote Hänge!
Aloe pearsonii

Jochen, mit Heinz und mir an Bord, tastet sich gefühlvoll den steilen Pfad talwärts, Annette folgt uns mit Ute ohne sichtbares Zögern und bald erreichen wir alle sicher die Talsohle. Annettes Aufatmen ist beinahe hörbar, auch wenn wir erst eine halbe Stunde später, beim endgültigen Verlassen des Richterseld NPs anhalten. Hervorragend hat sie es gemeistert, ihr Debut am Pass! Wie ein Schwamm, zurecht, saugt sie unser Lob auf, doch der Moment der Entspannung und der Freude ihrerseits ist kurz, denn wir müssen weiter.

Was für ein Empfang!
Das „liebliche“ Port Nolloth
Port Nolloth

Phase Zwei unserer Theorie-Bestätigung tritt nun in Kraft und will, bis zu unserer Ankunft im Goegap Nature Reserve, auch nicht mehr enden: während die letzten Stunden wie im Fluge vergangen sind, beginnt nun eine Zeit des Kaugummis par excellence. Von unserem Ausgangspunkt am Fuße des Helskloof Passes bis Alexander Bay punktet noch die unschöne Landschaft, die aber immer wieder neue Entdeckungen oder besonders schwungvolle Kurven bereithält. Kaugummi-Faktor 3,5 auf der bis zwölf reichenden Wrigley-Skala! Alexander Bay nach Port Nolloth, 82 Kilometer, schnurgerade an der nebeligen Küste entlang: Kaugummi-Faktor 4,5. Einkaufen in Port Nolloth: Kaugummi-Faktor 5,0 – immer noch gibt es etwas zu sehen oder zu lästern. Erwerb des Mittagssnacks und das Warten auf Selbigen in Port Nolloth: ganz schrecklich! Annette will Zeit und Geld sparen, weswegen sie unseren Lunch in einem Fisch-Restaurant mit wunderbarer Terrasse ordert – nein, wir nix Terrasse, nur take away, to go, aber mit einer Wartezeit, die sich gewaschen hat. Nach einer heißen, sonnenglühenden Harrerei von über 30 Minuten ist unser Essen dann endlich fertig und wird uns kredenzt – in Styropor-Asietten, auf dem Parkplatz. Die Wrigley-Skala ist auf Anschlag – insbesondere angesichts des verlockenden Blicks auf die einladend schattige, bestuhlte Terrasse! Wir hingegen lassen uns nämlich stattdessen mit unseren kulinarischen „Leckerbissen“ auf zwei Parkbänken an der Uferpromenande nieder und sollen nun, schattenlos, mit Plastik-Spießen bewaffnet in unseren Asietten rumpicken. Super, Wrigley-Skala gesprengt! Doch kaum haben wir uns hingesetzt und unsere Styropor-Behälter geöffnet, sinkt der Kaugummi-Faktor auf Null: ein Riesen-Pulk unterschiedlichster Möwen scheint nur darauf gewartet zu haben, umkreist uns nun laut kreischend zu Luft und zu Boden und immer wieder starten einzelne Vögel einen mutigen Angriff, um ein paarer labberiger Fritten habhaft zu werden. Für Heinz und mich ist das ein großer Spaß; begeistert teilen wir unser Mahl mit den frechen Bettlern und freuen uns über jeden geschnabelten Zugriff. Doch nicht alle unserer Mitreisenden teilen unser Vergnügen. Dass Jochen in derartigen Situationen relativ emotionslos ist, wussten wir und auch, dass Annette gerne mal ängstlich auf Vögel reagiert, die größer als ein Spatz sind. Nun aber sehen wir, dass Ute ebenfalls alles andere als Begeisterung demonstriert. Mit eingezogenem Kopf und schützend hochgezogenen Schultern sitzt sie da, erwehrt sich angewidert der zudringlichen Vögel und gesteht uns, dass sie an Pterophobie leidet – sie ekelt sich vor Federn. Unglaublich, aber wahr! Die Liste möglicher Phobien ist tatsächlich unendlich lange und es gibt offenbar nichts, wovor man sich nicht fürchten kann – die absurdesten Dinge eingeschlossen. Ich hatte zum Beispiel mal eine Kollegin, die litt an einer hochgradigen Koumpounophobie und konnte deshalb nichts tragen oder anfassen, was mit Knöpfen bestückt war. Aufgrund dieser Erfahrung, die mich erstmals und sehr eindrücklich mit Phobien bekannt gemacht hatte, glaube ich Ute sofort, während die anderen etwas zweifelnd dreinschauen. Aber es ist, wie es ist. Heinz und ich stellen unsere Fütterung natürlich sofort ein, was allerdings die Sachlage nicht allzu maßgeblich beeinflusst. Die Möwen sind gierig und bleiben weiterhin extrem zudringlich. Doch bald erledigt sich das Problem von selbst; wir haben aufgegessen und können nun weiterfahren.

Port Nolloth, Steinkopf, 90 Kilometer, Kaugummi-Faktor 4,5. Steinkopf, Springbok, 42 Kilometer, Faktor 5,0. Dann, das Goegap Nature Reserve ist schon fast in greifbarer Nähe, wird die Skala beinahe abermals gesprengt: wir kurven nach Springbok Downtown rein, um erneut irgendetwas zu besorgen. Hallo, es ist Sonntag, es ist drei Uhr nachmittags, das ist Zeitverschwendung! Trotzdem nehmen wir den Umweg über die Einkaufsmeile Springboks, um natürlich festzustellen, dass alle Geschäfte geschlossen haben… Schön langsam entwickle auch ich eine Phobie, und zwar die vor sinnigen, besonders aber vor unsinnigen, weil aussichtslosen Einkäufen! Nach einer kleinen Rundfahrt durch Springboks Innenstadt sehen allerdings dann auch Annette und Jochen ein, dass hier nichts mehr zu holen ist und endlich nehmen wir die letzten 17 Kilometer in Angriff. Ich weiß, ich weiß, solche Fahrtage tun meiner Stimmung von Haus aus nicht gut, doch diese unbegreiflichen Zeitverschwendungen in Form einer Extrarunde zum erwartungsgemäß geschlossenen Getränkeladen oder eines minutenraubenden Erwerbs  überflüssigen Mittagessens treiben mich fast in den Wahnsinn! Heinz drückt beruhigend meinen Arm und ich komme langsam wieder von meiner Palme runter, um sie, am Gate von Goegap ankommend, gleich darauf erneut zu erklettern. Mittlerweile nämlich ist es 16.05 Uhr – und das Gate ist geschlossen – seit exakt fünf Minuten! Oh, heiliger Kaugummi, beschere mir Contenance! Doch die Situation rettet sich auf südafrikanische Weise: die Gate-Rangerin, die gerade, unsichtbar für uns, unter ihrem Bürotisch abgetaucht war, kommt wieder zum Vorschein und lässt sich tatsächlich erweichen, das Tor nochmals zu öffnen, die unabdingbare Papierkram-Schlacht auch nach Feierabend in Angriff zu nehmen und uns schließlich, um 16.30 Uhr, mit einem freundlichen Lächeln und guten Aufenthalts-Wünschen einzulassen. Danke, danke, du gute Gate-Fee, das vergess’ ich dir nicht!

Erleichtert und voller Dankbarkeit passieren wir das Gate, das sich laut quietschend hinter uns schließt und tuckern froh, einer unnötigen Übernachtung in Springbok gerade nochmal von der Schippe gehüpft zu sein, zur nahegelegenen Campsite. Bald darauf kommen wir dort an und springen dann jauchzend aus den Autos: wir sind endlich da, der Kaugummi hat ein Ende! Und unser Ankunfts-Jubel weitet sich sogar noch aus: bei einer Kurzinspektion des Platzes stellen wir nämlich fest, dass wir a) alleine sind, b) der Platz schön gelegen, gepflegt, großzügig geschnitten und mit Schattendächern ausgestattet ist und c) über ein riesiges, einladend sauberes Sanitärgebäude verfügt. Letzteres erscheint auf den ersten Blick fast überdimensioniert, doch wenn ich so an De Hoop und den urlaubenden Südafrikaner im Allgemeinen und, ganz besonders, im Speziellen zurückdenke, kann ein Ablution Block an begehrten Ausflugszielen gar nicht groß genug sein. Aber das kann uns ja grade mal so was von egal sein! Begeistert über die sich uns nun darbietende, sehr kommode Gesamtssituation, laden wir erst mal nur Tisch und Stühle vom Dach, öffnen den Kühlschrank, entnehmen ihm fünf verlockend kühle Bierdosen und feiern unsere Ankunft. Mit ausgestreckten Beinen in den Klappsesseln lümmelnd – als wären wir heute noch nicht genug gesessen – genießen wir unseren Sundowner mit der angebrachten Andacht und einer Gelassenheit, die man wohl nur nach einem derartigen Tag empfinden kann, bevor wieder etwas Tatendrang über uns kommt.

Schwitz-taktisch wohl überlegt, bauen wir erst unsere Zelt auf und richten uns häuslich ein, bevor wir dann das Waschgebäude stürmen und uns dort dem Luxus einer Dusche hingeben; ein Vergnügen, auf das wir seit De Hoop verzichten mussten. Und hier haben wir auch noch den ganz besonderen Luxus, dass wir alle gleichzeitig der Körperpflege nachgehen können. Na ja, zumindest theoretisch. In der Praxis allerdings gestaltet sich das schwieriger als erwartet, denn die Duschen funktionieren zwar, haben aber eine Art Heißwasser-Reihenschaltung und wenn nun die Person, die dem Boiler am nächsten ist, die Warmwasserzufuhr auch nur leicht drosselt, wird die nächste in der Reihe quasi schockartig gebrüht, während die dritte endlich auch etwas lauwarmes Wasser abbekommt. Mein Gott, es kann eben nicht alles völlig perfekt sein… Ein bisschen perfekt reicht ja auch schon! Und das ist es. Frisch gereinigt und froh, diesen Fahrtag so gut überstanden zu haben, finden wir uns erneut an unserem Tisch zusammen, lauschen dem Zirpen der Grillen, während wir unser Abendessen zubereiten und quatschen uns anschließend sattgegessen und entspannt in eine sternenblinkende Nacht. Wie gut, dass Springbok zwar die Drehscheibe des südafrikanischen Nordwestens ist, die Gehsteige dort aber so zügig nach oben geklappt werden, dass die Lichter der Stadt unser astrales Vergnügen in keinster Weise schmälern – und Verkehrslärm ist auch nicht zu hören. Fast wie im Richtersveld…

Weitere Impressionen des Tages:

Letzte Aussichten
im Richtersveld
Vor Helskloof
Vor Helskloof
Roter Jochen – rote Aloen
Aloe pearsonii
Aloe pearsonii
Aloen-Hänge
Tylecodon paniculatus
unter Aloen
Blick ins Oranjetal
Cotyledon orbiculata
Asteraceae
Drosanthemum sp.
Acanthopsis disperma
Acanthopsis disperma
Die Zeit des Kaugummis beginnt
Durchs Minengebiet
Abraumhalde größeren Ausmaßes
Hier wohnt man schön…
Sparrige Eukalyptusbäume
Einkaufszentrum
Sandverwehte Straße
Abraumhalde
Küstenstraße nach Port Nolloth
Aloe pearsonii

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