Aaah, herrlich! Früh am Morgen krabbeln wir aus den Zelten und werden bereits von unserem Katavi-Katuma-Elefantentrupp empfangen, der sich gestern schon im Camp herumtrieb. Und so entspannt, wie die Dickhäuter an ihren Bäumchen herumrupfen, knuspern auch wir unser Frühstück – trotz oder gerade wegen der Anwesenheit der Elefanten. Dann machen wir uns auf den Weg. Die Elis ziehen in den Busch hinter der Campsite, wir hingegen mäandern am Katuma entlang und nähern uns der Flussbiegung, an der die Lodge liegt. Golden fingert die Sonne über die dahinterliegende Ebene, kein Mensch, kein Fahrzeug ist weit und breit zu sehen. Ein paar Hornraben stapfen durchs Gras, eine Herde graziler Impalas blickt uns aus großen, braunen Augen an, fluffige Wasserböcke ziehen zum Fluss, Zebras wärmen sich in der aufgehenden Sonne, Vögel flirren in Schwaden aus den Ähren der in der Morgensonne golden wogenden Halme, es ist still, trotzdem aber bebt die Luft vor Lauten: wukkwukk – Zebras, wwwwhoooop – die typisch kehlig-wummernde Kommunikation von Hornraben vibriert durch unsere Körper, ssssrrrtffffrrrttt – Schwärme von Blutschnabelwebern steigen und sinken in hörbaren Choreografien durch die bodennahen Lüfte.
Wir schwelgen im überaus reichen Tierleben dieser frühen Morgenstunden, kurven durch kleine Wäldchen, zockeln am Fluss entlang und erreichen schließlich die weite Ebene westlich der Wildlife Lodge, Katisunga Plains genannt. Goldgelbes Gras wogt, ein strahlendblauer Himmel tut sich vor uns auf, Blutschnabelweber tanzen über die Grasähren und wir sind so hingerissen, dass wir beinahe etwas übersehen hätten: zwei männliche Löwen liegen unmittelbar vor uns auf dem Weg! Die beiden Großkatzen halten ihre üppig bemähnten Köpfe genüsslich in die wärmenden Strahlen der noch milden Morgensonne und nehmen uns nur sehr angelegentlich zur Kenntnis. Ah, Autos, Menschen, kennen wir, interessiert uns aber nicht! Uns hingegen erfreuen die Löwen umso mehr (diesmal auch Heinz und mich), denn sie sind extrem nahe und lassen sich von uns nicht aus der Ruhe bringen. Und auch, wenn sie, irgendwie löwentypisch, völlig untätig herumliegen, so ist diese Nähe doch sehr faszinierend. Annette stoppt den Wagen direkt neben dem blonderen der beiden Kater, der somit keine drei Meter von mir entfernt ist. Ich höre sein Atmen, ich höre das Schmatzen, wenn er nach dem Gähnen wohlig seinen Kiefer zurechtrückt, ich sehe den Wind durch jedes einzelne seiner Mähnenhaare streichen. Ab und zu wirft er uns einen Blick zu, schaut uns direkt in die Augen, um sich gleich darauf wieder abzuwenden und in die Ebene zu starren. Eine atemberaubende Situation! Normalerweise fühle ich mich ja in der Gegenwart von Wildtieren, denen man zu nahe auf die Pelle rückt, ziemlich unwohl. Ich will sie nicht belästigen, sie nicht stören – ich möchte sie einfach nur sehen. Und das aus jeder für die Tiere angenehmen Entfernung, egal, wie viele Meter der Distanz das auch immer bedeuten mag. Doch diese beiden Löwen, obwohl wir ihnen so nahe sind und das auch noch in einem Park, der von sehr wenigen Touristen besucht wird, zeigen keinerlei Anzeichen von Unwohlsein. Ihr Schwanz liegt ruhig neben dem Körper, das Rückenfell zuckt nur, wenn eine Fliege darauf landet und ein Kitzeln erzeugt. Einziges Zeichen, dass sie unsere Anwesenheit wahrnehmen und sich, wenn überhaupt, ansatzweise gestört fühlen, ist ein vereinzelter Kontrollblick in unsere Richtung.
Bei dieser Bewegung des Kopfes, des mächtigen, von einer wuscheligen Mähne gekrönten Schädels, der sich einem aus derartiger Nähe zuwendet, kann man die Größe eines ausgewachsenen Löwenmännchens schon ganz gut erahnen. Als unser Blondie sich allerdings kurz erhebt, um sich zu drehen und gleich darauf wieder laut atmend niederplumpsen lässt, kommt sein imposantes Gardemaß erst richtig zur Geltung. Puh, stünde das Kätzchen direkt neben mir, seine Augen wären wohl ziemlich genau auf meiner Brusthöhe! Somit könnte er auch locker mal einen Blick in unser Auto werfen, das mit geöffnetem Fenster neben ihm parkt. Wie gut, dass er so entspannt ist und nicht auf solche Ideen kommt!
Bevor er das aber vielleicht doch noch tut, verlassen wir die beiden Großkatzen und setzen unsere Morgenrunde fort, die uns erneut zu dem steilen Uferabbruch mit der darunterliegenden Hippopfütze führt. Dort herrscht das selbe dichte Treiben, das wir auch gestern schon beobachten konnten. Heute allerdings sind viel mehr Krokodile an Land. Wahrscheinlich liegt das an der noch recht frühen Tageszeit – die Reptilien wärmen sich in der Morgensonne, bevor sie sich zu Wasser lassen und ihrem Tagesgeschäft nachgehen. Auch die zahlreichen Storchenvögel scheinen zu wissen, dass die Croc ihre Betriebstemperatur noch nicht erreicht haben, denn sie staksen mit einer Sorglosigkeit zwischen den Panzerechsen umher, die uns fast den Angstschweiß auf die Stirne treibt. Doch alles bleibt ruhig und wir genießen diese Morgenidylle in vollen Zügen, bevor wir schließlich langsam weiterfahren.
Unser Weg führt uns abermals zur Brücke, dazwischen jedoch halten wir mehrmals an, denn wir haben einige interessante Pflanzen entdeckt. Die erste ist ein fast mannshoher Busch mit silbrig-grünen, glatten Blättern und hellvioletten Blüten. Erika hat solch ein Exemplar bereits auf einer anderen Tour vor einigen Jahren gesehen und erzählt uns, ihr damaliger Führer hätte gesagt, das Gewächs sei so giftig, dass man bereits erblinden könnte, ginge man zu nahe an die Pflanze heran. Das ist natürlich blanker Unsinn, doch ein Körnchen Wahrheit steckt ja bekanntlich in jeder Legende. Was wir hier sehen, ist eine Calotropis procera, auch Sodomsapfel, Satansbaum oder, viel harmloser, Kielkronen, genannt. Sie gehört zur Familie der Hundsgiftgewächse und sondert tatsächlich einen nicht gerade bekömmlichen Milchsaft ab. Reibt man sich diesen versehentlich in die Augen, kann es zu schweren Reizungen bis hin zur temporären Erblindung kommen, das bloße Hinsehen aber richtet keinen Schaden an. Wäre auch schade, denn die Pflanze ist sehr hübsch und ihre Blüten entfalten ihre wahre Schönheit erst, wenn man sie von nahem betrachtet. Da sind die Blüten unseres nächstes Gewächses, das wir ein Stück weiter, hoch oben in einem Baum entdecken, schon etwas plakativer: eine epiphytische Leoparden-Orchidee (Ansellia africana) hat sich hier niedergelassen und einen riesigen Horst gebildet, der gerade üppig blüht. Allerdings relativiert sich diese Pracht etwas, denn im lichten Schatten des Baumgeästs verschmelzen die prächtigen, sonnengelben Blüten mit ihren kastanienbraunen, streifigen Flecken fast mit ihrer Umgebung. Doch einige Bulben des Horsts sind abgebrochen und zu Boden gefallen, sodass wir diese Kunstwerke der Natur doch genauer und von Angesicht zu Angesicht betrachten können. Heinz, der nicht nur ein Faible für Sukkulenten, sondern auch für Orchideen hat, ist in seinem Element und sammelt sogleich einige Bruchstücke der Pflanze auf. „Die nehm’ ich mit auf unsere Campsite und pflanze sie dort aus. Wenn ihr mal wieder hierherkommen solltet, Annette, müsst ihr schauen, ob sie angewachsen sind!“
Hach, ich bin begeistert von unserem Morgenausflug – was wir in diesen wenigen Stunden schon wieder alles gesehen haben! Eine Tatsache jedoch verleidet mir die Freude an unserer Pirsch ein wenig: es sind vereinzelte Tsetse-Fliegen unterwegs und die haben es, wie sollte es anders sein, natürlich akkurat auf mich abgesehen. Gerade halte ich ein Stück der Orchidee ins Sonnenlicht, damit meine Reisegenossen die fantastischen Blüten fotografieren können, als mich eines dieser Biester ins linke Handgelenk beißt. Aua! Und noch eine, die sich eine dünnhäutige Stelle an meinem rechten kleinen Finger ausgesucht hat. „Können wir bitte weiterfahren?!? Hier hat’s Tsetses!“ Das alte Spiel beginnt von Neuem: „Barbara, wo sind hier Tsetses? Ich kann keine entdecken!“ Fluchend zerre ich meine Armbanduhr vom Handgelenk und halte selbiges, in Minutenschnelle auf den anderthalbfachen Umfang anschwellende, misshandelte Körperteil meinen Freunden unter die Nase. „Oh, shit, gibt’s ja nicht!“
Hurtig fliehen wir in die Autos und verlassen diesen tsetseträchtigen Ort Richtung Norden, wo wir noch einen kurzen Stopp auf der Brücke einlegen. Meine Freude am unter uns liegenden Hippopool allerdings hält sich momentan in Grenzen, denn mein linker Unterarm sieht mittlerweile aus wie eine prall gefüllte, unförmige Wurst und fühlt sich auch so an. Also beenden wir unsere Morgenrunde und streben dem Camp zu, wo ich bisher noch keine Stechliegen ausmachen konnte. Bevor wir allerdings ins traute Heim zurückkehren, machen wir noch einen raschen Schwenk zu den Sanitäranlagen hinter der Brücke. Hier gibt es Toiletten und einige wenige Duschgelegenheiten, die wir heute Nachmittag gerne in Anspruch nehmen würden, um uns den Staub der vergangenen Tage vom Körper und vor allen Dingen aus den Haaren zu waschen. Die Ablutions sehen gepflegt aus, sie sind nicht abgesperrt, doch es hat kein Wasser. Schade! Gerade wollen wir wieder von dannen fahren, als ein Caretaker wie aus dem Nichts auftaucht und uns nach unserem Begehr fragt. Ach, Wasser?! Ja, heute, am frühen Nachmittag, da käme ein Tankwagen und dann wäre alles wieder betriebsbereit.
Prima, das klingt gut! Erfreut kurven wir zurück ins Lager, stillen unseren Hunger mit einem kleinen Snack und freuen uns auf ein paar relaxte Stunden im Schatten unserer Camp-Bäume. Mit Lesen, Faullenzen und dem Beobachten der uns umgebenden Tierwelt verbringen wir die heißeste Zeit des Tages. Dieses sehr entspannende Wohlfühlprogramm unterbrechen wir lediglich für einen kleinen Ausflug zum Sanitärblock, der ja, zumindest laut Auskunft des Caretakers, mittlerweile wieder mit Wasser versorgt worden sein sollte. Den Tankwagen wenigstens haben wir bereits vor einer Stunde vorbeituckern hören. Bei den Ablutions angekommen, klettern wir wohlgemut aus den Autos und überprüfen die Situation an den Tanks – leer! Im selben Moment taucht der Caretaker etwas zögerlich hinter dichtem Gebüsch auf, winkt hektisch und brüllt: „Sorry, no water today!“. So schnell, wie er gekommen ist, verschwindet er auch wieder. Offenbar meidet er näheren Kontakt mit uns, denn er hat sein Versprechen nicht gehalten und scheint nun zu befürchten, dass es Ärger mit uns verwöhnten Touristen geben könnte. Doch da kennt er uns schlecht! Rasch checken wir den Füllstand der kleinen Wassertonnen vor den Toiletten, deren Inhalt eigentlich zum Spülen gedacht ist, und bedienen uns schließlich kurzerhand daraus, um wenigstens eine grobe Grundreinigung unserer Extremitäten zu vollziehen und den schlimmsten Staub aus den Haaren zu waschen. Ah, das tut gut! Nun sind wir zumindest partiell erfrischt und nicht mehr ganz so klebrig und staubig. Mit wohligem Gefühl und flauschig wehenden Locken kehren wir ins Camp zurück, um dort unseren faulen Nachmittag fortzusetzen.
Und kaum haben wir uns wieder in unsere Stühle gefläzt, erscheinen erneut die Elefanten. Es ist der selbe Trupp wie gestern und heute Morgen – unser Camp scheint eine feste, mehrmals täglich besuchte Station auf ihrer Suche nach Futter zu sein. Genüsslich rücken wir unsere Sitzgelegenheiten zurecht und delektieren uns am Nachmittagsprogramm des Katavi Bush TV, wie es spannender und anschaulicher nicht sein könnte. Wir lauschen dem Kommunikations-Grummeln der Dickhäuter, beobachten ihre gezielten Rüsselbewegungen, mit denen sie vorsichtig die saftigsten Blätter von den Bäumen pflücken und versuchen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu ergründen – aus einer Entfernung von weniger als zehn bis fünfzehn Metern. Hinter uns hüpfen derweil viele bunte Vögel durchs Gebüsch und eine kleine Meerkatzenhorde, die keinerlei diebische Anwandlungen zeigt, tobt über uns durch die Bäume. Wir verleben Momente, die absolut unvergleichlich und unbezahlbar sind, deren Zauber man niemandem erklären kann, der so etwas noch nicht selbst erlebt hat. Und allein für solche Momente hat sich die strapaziöse Fahrt hierher voll und ganz gelohnt – von den Nilpferden will ich gar nicht reden!
Gegen halb vier, die sengende Mittagshitze weicht allmählich erträglicheren Nachmittagstemperaturen, ziehen die Elefanten flussaufwärts von dannen und auch wir denken langsam darüber nach, welche Runde wir jetzt drehen könnten, um unseren letzten Tag im Katavi gebührlich zu begehen. Annette schlägt vor, zum Lake Chada zu fahren, der östlich unseres Camps liegt. „Ist schön da, aber auch nicht recht viel anders als hier. Und es hat viele Tsetses.“ Okay, dann ist der Fall für mich ja klar. Natürlich will ich meine Freunde nicht davon abhalten, andere Teile des Parks zu erkunden, aber noch mehr Tsetses brauche ich wirklich nicht! Mein malträtierter Arm ist, dank einer Antihistaminikumgabe und heftigen Kortisongeschmieres, gerade wieder auf Normalmaß abgeschwollen, und ich empfinde keinerlei Sehnsucht nach weiteren Tsetses. Und wenn die Runde zum Lake Chada sich ohnehin nicht großartig vom Camp-Loop unterscheidet, dann erst recht nicht. „Fahrt ihr ruhig, ich bin hier bestens aufgehoben. Und ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben, ich bin ganz gerne mal allein. Allein mit mir und meinem Katavi!“. Damit jedoch sind nicht alle meine Freunde einverstanden und eine Diskussion entbrennt. Jochen hat kein Problem, mich im Camp zurückzulassen, Annette ist nicht wohl dabei und Heinz will ohne mich sowieso nirgendwo hin. Hei, ist das schwierig…
Ich bin nahe dran, das Hin und Her kurzerhand zu beenden, indem ich mich bereit erkläre, die Chada-Runde doch mitzufahren, als mich ein heimliches Rühren in meinen Gedärmen der finalen Entscheidung enthebt. „Egal, was ihr beschließt, ich komm mit. Aber jetzt muss ich erst mal dringend aufs Klo. Sorry!“ Entschuldigend greife ich mir den Spaten, die Klorolle und mache mich, die Umgebung sichernd, auf den Weg. Mhm, die Elefanten sind flussaufwärts abgezogen, also gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Aufmerksam scanne ich die Umgebung, taste mich durchs Gelände und entdecke schließlich ein Plätzchen, das ideal für mein Vorhaben scheint: nicht weit vom Camp, offene Sicht über mehr als 180 Grad, kein Tier weit und breit. Sehr gut! Einen mächtigen Baum im Rücken, hebe ich ein Loch im sandigen Boden aus, hänge die Papierrolle auf einen abgebrochenen Ast und tue schließlich, weswegen ich diesen Ort aufgesucht habe. Lächelnd beende ich meine Verrichtung – auch das ist immer wieder ein ganz spezieller Moment, das Freiluftkacken im Busch – säubere mich und will gerade wieder in die Senkrechte gehen, als rechts von mir, keine drei Meter entfernt, ein Elefant auftaucht. Es ist die Leitkuh unserer Camptruppe, das erkenne ich an einem Riss in ihrem Ohr. Von rechts? Ihr seid doch nach links weggegangen, vor mehr als einer halben Stunde! Und ich habe so genau geschaut, ob ich hier auch wirklich allein bin. Wo kommt ihr plötzlich her? Die Leitkuh bedenkt mich mit einem kurzen Blick – ich seh dich sehr wohl – setzt ihren Weg aber völlig unbeeindruckt fort. Langsam schaukelt sie an mir vorüber, rupft hier ein paar Blättchen von einem Baum, zupft dort einige trockene Grashalme ab und rüsselt sich zwischendrin die Spitzen frischer Palmblätter ins Maul. Ihr folgt, natürlich, die ganze Familie. Auch sie, die Kleinen wie die Großen, rupfen, zupfen und rüsseln in aller Gemächlichkeit. Wir sehen dich! Wie zur Salzsäule erstarrt, verharre ich reglos hockend über meinem Loch. Solange ich mich nicht bewege, ist alles gut! Doch plötzlich weht ein Windstoß durchs Gebüsch, meine sorgsam auf einem Ast aufgehängte Klorolle beginnt sich, wie von Geisterhand bewegt, zu drehen und ein immer länger werdendes Stück Klopapier flattert fröhlich in der Brise. Im Zeitlupentempo wandert meine rechte Hand zur Rolle. Vorsichtig stoppen, noch vorsichtiger zurückrollen! Geschafft – die Elefanten haben nicht reagiert! Tja, und so kauere ich hier, mitten im Busch, in reichlich entwürdigender Pose, die rechte Hand an der flatterhaften Rolle, die linke hilfesuchend am Stiel des Spatens, Fliegen umsurren immer aufdringlicher meine entblößte Körpermitte, ich kann mich nicht wirklich dagegen wehren – und genieße die gesamte Situation, so abwegig das auch klingen mag, trotzdem in vollen Zügen.
„Barbara! Alles okay? Wo bleibst du?“, schallt es vernehmlich durchs Gestrüpp. Ich getraue mich nicht, eine hörbare Antwort zu geben, hoffe aber inständig, niemand möge sich auf die Suche nach mir machen… „Barbara!?!“ Minuten, die sich wie Stunden anfühlen, ziehen ins Land, ein paar Mal noch wird nach mir gerufen, dann verstummen die Nachfragen und die Elefanten verschwinden endlich im Gebüsch, entfernen sich aus meiner Sichtweite. Einen Sicherheitsaugenblick warte ich noch ab, dann bekleide ich mich möglichst geräuschlos, schaufle das Loch zu und begebe mich wieder zu meinen Freunden, die schon besorgt auf mich warten. „Gehts dir nicht gut? Du warst so lange weg!“ „Alles okay. Ich hatte nur Besuch auf’m Klo…“ „Besuch?“ „Ja, Elefanten.“ „Was? Wie weit warst du denn bitte weg? Wir haben hier nix gesehen.“ „Ich auch nicht, bis sie direkt vor mir standen…“. „Wie jetzt?“ Grinsend erzähle ich meinen Freunden von meinem Notdurft-Abenteuer, während sie sich vor Lachen ausschütten, gleichzeitig aber auch etwas erschrocken reagieren. „Wir haben nichts, aber auch gar nichts gesehen! Meine Güte, was da alles hätte passieren können! Doch da sieht man’s mal wieder: wir Menschen sind einfach blind…“ „Na ja, ist ja alles gut gegangen und spannend war’s zudem. Und was machen wir nun, jetzt, da ich alles erledigt habe?“ „Ach, wir haben beschlossen, die bewährte Camprunde zu drehen. Lake Chada ist doch ein bisschen weit weg und, wie gesagt, auch nicht recht viel anders als hier.“ Perfekt! Mit dieser Lösung können wir alle gut leben und ich, mit meiner Tsetseangst, bin wenigstens nicht schuld daran, dass wir von dem recht großen Park nun doch nur wenig gesehen haben werden. Aber wie sagt man so schön: warum denn in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah.
Und das Gute liegt, wie auch schon auf den vergangenen Ausflügen, natürlich wieder direkt vor den Toren unseres Camps. Zuerst fahren wir zur Brücke; die Hippos dümpeln wie gehabt in ihrer schlammigen Brühe, sind aber heute besonders aktiv – zumindest ein paar junge Bullen. Ständig geraten sie in Streit und gehen sich gegenseitig an, ohne Rücksicht auf die Artgenossen, die einfach nur gerne abhängen würden. Das bringt Unruhe in die gesamte Nilpferdschar, man grunzt, droht, schnappt und drängelt mit einer Vehemenz, die die kläglichen Wasserreste fast zum Kochen bringt. Dann schreiten die Bosse ein. Mit eindeutigen Drohgebärden und angedeuteten Attacken auf die streitsüchtigen Jungspunde sorgen sie ganz schnell für Ruhe und Ordnung: geht ans Ufer und kabbelt euch dort, oder gebt Frieden! Die jungen Bullen gehorchen erstaunlich schnell und lassen sich grummelnd ins Wasser sinken, wo sie brav verharren, ihre Kontrahenten jedoch nicht aus den Augen lassen. Zwei der angriffslustigen Jugendlichen aber wollen nicht von dem jeweils anderen ablassen und kämpfen fröhlich weiter. Erneut weist sie einer der Chefs in ihre Schranken: raus oder Ruhe, zefix! Brüllend und mit aufgerissenen Mäulern pflügen die Streithähne durch die Hippo-Gruppe und setzen ihr Kräftemessen tatsächlich am Ufer fort. Für uns ist das natürlich ein ganz besonderes Schauspiel: zwei Kolosse, sichtbar von der Ohrspitze bis zur Fußsohle, stemmen sich gegeneinander, verrichten erstaunlich schnelle Beinarbeit und verharren schließlich mit bedrohlich geöffneten Mäulern, Schnauze an Schnauze, und blasen sich gegenseitig den Odem ihrer Aggressionen in den Schlund. Toll!
Im Hippobecken ist derweil wieder gesittete Chill-Atmosphäre eingetreten, was sich ein kleiner Waran zunutze macht. Die Echse, die plötzlich auf der rechten Uferseite aufgetaucht ist, hat auf der linken Seite, also direkt zu unseren Füßen, einen toten Wels entdeckt. Und jetzt, da die Hippos endlich mit ihrem hibbeligen Geschwappe aufgehört haben, sieht das Reptil seine Chance gekommen. Mit vorsichtigen Schritten, aber dennoch sehr zielstrebig und rasch, überquert es den schlammigen Streifen am Rande der Brückenpfeiler und schnappt sich schließlich zufrieden seine Beute. Der Wels ist noch als solcher erkennbar, gerade noch, hat jedoch schon deutlich an Frische eingebüßt – er scheint schon eine ganze Weile zu liegen. Dem Waran ist das einerlei; mit einem genüsslichen Schnapper verbeißt er sich in den verrottenden Fisch und verspeist diverse Happen, bevor er mit seiner Beute unter der Brücke verschwindet.
Es ist doch immer wieder faszinierend, was man erleben kann, wenn man sich Zeit nimmt, länger an einem Ort zu verharren und nicht, auf der Jagd nach Action, von einem Platz zum anderen hetzt. Es verhält sich fast wie bei der Regentheorie: kriegt man mehr Tropfen ab und wird nässer, wenn man durch einen Schauer eilt, oder kann man durch Stehenbleiben die auftreffende Regenmenge minimieren? Wir jedenfalls sind an Ort und Stelle geblieben und ziemlich „nass“ geworden! Trotzdem ziehen wir jetzt weiter, zu unserem Steilabbruch auf der anderen Flussseite, um uns von den dortigen Hippos, Krokodilen und Vögeln gebührlich zu verabschieden. Wir genießen das friedliche Bild der Nilpferde, die hier in einer wesentlich kleineren Gruppe in tieferem Wasser Zuflucht vor der Trockenzeit gefunden haben, freuen uns über die teilweise stattlichen Panzerechsen und die zahlreichen Storchenvögel, die wieder in aller Seelenruhe zwischen den massigen Leibern der Hippos und den zahnbewehrten Kiefern der Crocs umherstaksen. Ewig könnte ich diesem vergleichsweise unspektakulären Schauspiel der Natur beiwohnen, denn es ist trotz allem spannend – und so beruhigend. Doch langsam senkt sich die Sonne gen Horizont und Annette möchte unseren letzten Sundowner im Katavi gerne in den Katisunga Plains zu sich nehmen, Sonnenuntergang, Weite und Rundumblick inklusive. Also machen wir uns auf den Weg. Bald jedoch müssen wir schon wieder anhalten, denn ein Löwenrudel liegt, direkt zu unserer Linken, dösend im Schatten. Zwei Kater (die von heute Morgen?), ein paar Damen und vier Heranwachsende rekeln sich wohlig im trockenen Gras, die Pfoten genüsslich gen Himmel gereckt. Eines der Männchen hebt sein Haupt und sieht uns aufmerksam an. Ob auch er nachdenkt, wer wir sind – die Menschen von heute Morgen? Eine Weile bleiben wir bei den Löwen, dann aber reißen wir uns los und tuckern raus auf die Ebene. Keinen Moment zu früh! Die Sonne schickt sich bereits an, am Horizont zu verschwinden, sendet noch ein paar letzte, güldene Strahlen über die Plains, bringt deren Gras zum Leuchten. Vögelschwärme steigen in großen Gruppen auf und streben ihren Schlafplätzen zu, die Geräusche eines vergehenden Tages umfangen uns, Annette hechtet zum Kühlschrank, um den Sundowner zu servieren und, mit den Dosen in der Hand, blinzeln wir alle träumerisch in den Sonnenuntergang, hängen unseren Gedanken nach und lassen, zumindest ich, diese Tour etwas wehmütig revue passieren.
Wir haben eine Menge gesehen und erlebt, schöne und weniger schöne Dinge, ich durfte zwei neue Länder, Uganda und Ruanda, kennenlernen, wir sind tausende von Kilometern gefahren, um schließlich, ganz zum Schluss, an einem meiner absoluten Lebenstraumziele anzukommen – dem Katavi Nationalpark. Und auch, wenn wir nur zwei Tage hier sein konnten, so hat es sich doch gelohnt. Ich fühle mich sagenhaft wohl in dieser fast menschenleeren Wildnis, so wohl, wie ich es im ganzen Urlaub nicht getan habe. Auch wenn es nicht so überfüllt war wie auf dem Rummelplatz oder in manchen Gegenden des Krüger Nationalparks, so waren wir doch bis vor Kurzem, bevor wir hier angekommen sind, ständig von Menschen umgeben. Und ich musste mal wieder feststellen, dass das etwas ist, was mir nicht wirklich behagt. Und noch etwas hat sich erneut gezeigt: ich bin ein Kind der Weite, der Trockenheit, der Wüsten; wird es grün, feucht und bergig, genieße ich zwar die Üppigkeit der Vegetation, kann dieser aber weniger abgewinnen als den pflanzlichen Überlebenskünstlern in ariden Regionen – und ich fühle mich durch die Berge irgendwie eingeengt. Damit will ich mitnichten sagen, dass mir diese Tour nicht gefallen hat, im Gegenteil, doch meine Sehnsüchte hat sie nicht befriedigt. Bis auf diese letzten Tage im Katavi, die in mir wahre Glücksgefühle erzeugt haben. Tja, so ist das nun mal… Verständlich also, dass ich mit einer gewissen Wehmut in diesen Sonnenuntergang starre und nur ungerne an morgen, den Tag unserer Abreise aus dem Katavi, denke. Doch ich lasse mir die Stimmung nicht verderben. Mit glänzenden Augen sauge ich die Bilder der Ebene, durch deren Grashalme gerade die letzten langen Strahlen der untergehenden Sonne fingern, in mich auf, und freue mich auf einen Abend und eine Nacht voller Natur-Geräusche, bevor uns der Lärm der Zivilisation wieder in seine Zangen nimmt.
Der gleißende Ball der Sonne verschwindet am Horizont, das diffuse Zwielicht ermahnt uns, zum Lager zurückzukehren und wir leisten diesem Ruf natürlich Folge. Bald darauf überqueren wir den Katuma an der Trockenfurt, werden dabei aufmerksam von ein paar Giraffen beobachtet, und wenig später erreichen wir unser Camp, aus dem sich soeben der letzte Elefant ins umliegende Gebüsch zurückzieht. Wohlig erlebnissatt beginnen wir mit den Vorbereitungen fürs Abendessen, entzünden ein knisterndes Feuer und genießen diesen letzten Abend in der Wildnis, der trotz aller Ruhe und Besinnlichkeit keine Langeweile aufkommen lässt. Schon während das Fleisch auf dem Grillrost brutzelt, geht die Action los: eine riesige Gottesanbeterin, die sich offenbar vom hellen Schein unserer Glut angezogen fühlt, fliegt immer wieder torkelnd Richtung Grillstelle. Heinz, der heute den Steakmeister gibt, fängt sie mehrmals ein, trägt sie, soweit es die Dunkelheit erlaubt, aus der Gefahrenzone, kann aber schließlich nur noch bedauernd die Schultern zucken, als das Insekt in einem unbemerkten Augenblick doch sein Ziel erreicht und mit einem lauten Knistergeräusch sein Leben aushaucht. Dann, wir essen gerade, setzen die Geräusche der Nacht ein: es raschelt im Gebüsch, man hört Löwen brüllen und ein wenig später gesellt sich auch das typische Huhuhen von Tüpfelhyänen dazu. Inmitten dieser Lautkulisse, die viel Spielraum für Träumereien und Fantasien lässt, verbringen wir einen gemütlichen Abend zwischen Lauschen und anregenden Gesprächen, bevor uns die Bettschwere übermannt. Einer nach dem anderen sucht sein Zelt auf, nur Heinz und ich können uns nicht losreißen – ein bisschen noch wollen wir am Feuer sitzenbleiben und in die Dunkelheit spähen – vielleicht bekommen wir ja doch noch eine Hyäne zu Gesicht, sie klingen so nah.
Bis weit nach Mitternacht verharren wir in unseren Stühlen, unterhalten uns flüsternd, schweigen und genießen diese letzte Nacht, die uns mit samtener Wärme und spannenden Lauten umfängt, bis auch wir unserer Müdigkeit nachgeben und uns in den Schlafsäcken einkuscheln. Eine Hyäne hat sich leider nicht mehr blicken lassen…
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