SCHWABENBLUT – EIN DIECKMANN-REVIVAL

Mein Opa väterlicherseits hatte Schwabenblut in seinen Adern. Er war ein klassischer Schwabe, so, wie man ihn sich vorstellt! Frag hundert Leute nach der hervorstechendsten Eigenschaft eines Bilderbuch-Schwaben und mindestens achtundneunzig davon werden dir antworten: Sparsamkeit. Mein Opa war auch sparsam. Das lag aber wohl eher an den Umständen der Zeit, als an seinen Spätzle-Genen.

Eines jedoch war auffällig: mein Opa, obwohl durch seine Sparsamkeit Ende der Sechziger, als ich auf die Welt kam, schon eine ganze Weile nicht mehr dazu verdammt war, den Wohlstandsmüll anderer Leute für eigene Zwecke nutzen zu müssen, hielt hartnäckig an dieser Gepflogenheit fest. In meinen Kinderjahren war es noch üblich, ungeliebte Möbel und anderen Kram einmal im Monat legalerweise am Straßenrand zu deponieren und das Zeug von der Städtischen Einmal-im-Monat-nach-dem-Rechten-schau-Einheit sorgen- und kostenfrei abholen zu lassen.

Dieser Sperrmülltag war Opas monatliches Highlight. Er setzte sich auf sein sperriges Rad, an dessen Rahmen er eigenhändig eine kleine Anhängerkupplung festgeschweißt hatte, und entschwand mitsamt Anhänger in den Tiefen des jeweiligen Sperrmüll-Leerungs-Viertels.

Leider kann ich mich partout an keinen konkreten Gegenstand erinnern, den er von diesen Ausflügen mit nachhause brachte. Doch im Laufe meines Kinderlebens tauchten immer wieder mir unbekannte, noch nie gesehene Dinge mit einer zeitlichen Plötzlichkeit auf, dass ich mir sicher war – das hat der Opa vor dem Tod gerettet! Der Opa hingegen benutzte dafür einen anderen Ausdruck: kraudern.

Dieses Wort hatte ich noch nie zuvor gehört. Rasch aber prägte sich mir dessen Bedeutung ein: mein Großvater klappert anderer Leute Müllhaufen ab, kramt raus, was ihm noch brauchbar erscheint und bringt das “Graffl” (Zeug, das zu nichts nutze ist) nachhause. Oma zeigte sich darob stets wenig amused, wollte partout nichts mit dem “Graffl” zu tun haben. Allerdings musste sie sich damit arrangieren, ja sogar anfreunden, wollte sie weiterhin als sparsame Hausfrau glänzen. Eine Eigenschaft, die zur damaligen Zeit für konservative Männer mit zu den wichtigsten Vorzügen einer Ehefrau zählten.

Mir missfiel übrigens ebenfalls fast alles an dieser Sachlage. Nie wurde mir zugestanden, die erkrauderten Gegenstände gründlich in Augenschein zu nehmen. Das ist nix für dich, sagte Opa. Pfui, bäh, das ist dreckiges Graffl, sagte Oma. Die dergestalt praktizierte Beschneidung meiner angeborenen Neugier war schon schlimm genug, dass sie aber auch noch im Beiklang dieses onomatopoetischen Super-GAUs vom zammkrauderten Graffl stattfand und, gleich noch schrecklicher, nie etwas Schönes aus dem zammkrauderten Graffl entstand, ließ mich eine Distanz des Unwohlseins entwickeln.

Doch das Interesse an solchem Graffl hab ich nie verloren. Im Gegensatz zu meinen Großeltern aber verspüre ich stets den fast unbezähmbaren Wunsch, dem Graffl neues Leben einzuhauchen. Anfangs, als ich endlich konnte, wie ich wollte, kam ich solchen Gefühlen nur zögerlich und zurückhaltend nach – ganz einfach deswegen, weil ich handwerklich so gar keine Erfahrung und somit auch kein Selbstvertrauen hatte. Seit Corona aber schrecke ich vor nichts mehr zurück!

Mann, ist der Dieckmann!

So kam es auch zu dieser Stuhlrettung … Mama empfand die Platzverhältnisse im Gartenhaus als nicht mehr zumutbar und beschloss, die hölzerne Hütte nach verzichtbarem Graffl zu durchforsten. Bei dieser Aktion fiel ihr besagter Stuhl in die Hände: ein hübscher Holzsessel mit Armlehnen, bespannt mit Dänischer Schnur. Diese allerdings hatte ihre besten Zeiten schon gesehen, präsentierte sich ausgebleicht, morsch, marode und unsäglich verdreckt. Eindeutig Graffl! Doch bevor Mama das Möbel endgültig dem Wertstoffhof überantwortete, ließ sich mich von dessen Existenz wissen. Eine Inspektion meinerseits und der Graffl-Status hatte sich erledigt!

Den wollte ich restaurieren! Denn obwohl es nur ein simpler Holzstuhl von erstaunlicher Stabilität war, hatte er eine ganz besondere Ausstrahlung. So luftig, so beschwingt, irgendwie klassisch, designermäßig, nordisch-kühl und trotzdem sympathisch. Ich war mir sicher – den hatte der Opa erkraudert und da steckt noch mehr dahinter.

Eine Recherche im Internet brachte es ans Tageslicht: solche Sessel wurden nach einem Entwurf von Erich Dieckmann gefertigt, einem zu unrecht nicht gar so bekannten Bauhaus-Designer! Eine nähere Begutachtung des Sessels überzeugte mich zwar davon, dass das kein echter Dieckmann sein konnte – zu hanebüchen war die Bespannung angebracht –, doch immerhin verdankte er seine erstaunlich charmante Ausstrahlung einem wahrhaftigen Designer! Opa, du hast es sicher nicht mal geahnt, aber das hast du richtig gut gemacht! Von wegen Graffl!

Zuerst machte ich mich kundig, womit der Stuhl wohl bespannt sein könnte. Ah, Dänische Schnur! Oh, ist die teuer! Ungefähr 120 bis 150 Euro würde mich das benötigte Material kosten. Das erschien mir dann doch etwas gewagt, so einen Batzen zu investieren für etwas, was ich noch nie gemacht hatte und was darob auch voll in die Hose gehen könnte. Ein günstigeres Alternativmaterial musste her!

Nach einiger Recherche lande ich bei Sisalschnur. Die gibt es in verschiedenen Farben und Stärken, sie gefällt mir von der Struktur her und ist ein reines Naturprodukt. Die Fasern werden aus den Blättern einer Agave gewonnen, die unter anderem in Tansania und Madagaskar angebaut wird – so habe ich auch wieder mal meinen Afrikabezug. Und der Preis stimmt auch: ich kann eine Rolle mit 1,2 Kilometern naturfarbener, 2 Millimeter starker Schnur im Supersonderangebot für rund 25 Euro erstehen. Da hält sich der Verlust in Grenzen, sollte das Projekt nicht gelingen …

Die Prozedur beginnt

Abgeschliffen hatte ich den Stuhl, gleich nachdem Mama ihn den Tiefen des Gartenhäuschen entrissen hatte – dann kam der Winter und die Kälte hielt im Werkkeller Einzug. Also verlegte ich die Erneuerung des Geflechts auf eine wärmere Jahreszeit. Jetzt, im Sommer 2022, war es so weit! Voller Enthusiasmus fotografierte das Originalgeflecht (zur Sicherheit), mit noch größerem Enthusiasmus entfernte ich zunächst die alte Lehne.

Bah, was für ein Staub und Dreck! Und die Befestigung fand ich auch äußerst seltsam. Irgendwie war die Schnur um windige Steckerl gewickelt worden und diese hatte man dann am Korpus festgenagelt. So etwas hatte ich in den ganzen Tutorials, die ich mir im Vorfeld schon einverleibt hatte, noch nie gesehen…

Doch entgegen aller Lehrfilme wollte ich die Lehne nicht mit Hilfe von Hakennägeln bespannen, was bedeutet hätte, sie hinten offen zu lassen, sondern sie sollte rundum bewebt werden. Oje, wenn ich geahnt hätte, auf was ich mich da einließ! Ich sag nur: ein Bündel von 8 Schnüren mit einer Länge von 15 Metern müssen durchs Grundgeflecht – parallel und knotenfrei. Mir war diverse Male danach, das Fenster zu öffnen und alles auszuwerfen!

Natürlich reichen 15 Meter nicht aus, um die ganze Lehne in der Quere zu bespannen. Nein, die Prozedur musste zweimal durchgestanden werden. Und natürlich passierten mir auch Fehler. Fehler, die im Nachhinein nicht mehr zu korrigieren sind, mich aber ewig ärgern würden. Also blieb nichts anderes, als bis zur Fehlerstelle wieder aufzulösen und nochmal beginnen.

Es war zum Mäusemelken und eine echte Geduldsprobe. Aber, endlich fertig, war ich dann doch sehr angetan vom Ergebnis. Gut, ein paar Unsauberkeiten konnte ich leider immer noch entdecken, aber die, so hoffte ich, würden sich auch jetzt noch korrigieren beziehungsweise kaschieren lassen. Und, ja, so war es auch!

Mit deutlich mehr Selbstvertrauen machte ich mich nun an die Sitzfläche. Die würde ja, dank der einseitigen Bespannung und des Nagelkranzes, einfacher zu bewerkstelligen sein. Zunächst nur eine Hoffnung, doch eine, die sich, dem Himmel sei Dank, auch bewahrheitete. Und Dank sei auch all den Personen, die das beruflich machen oder zumindest besser können als ich und ihr Wissen bereitwillig und ausführlich im Internet teilen! Ohne diese Tutorials hätte ich das wahrscheinlich nicht hinbekommen!

Zuerst bohrte ich die Löcher für die Hakennägel vor. Diese sind gut 2 Millimeter stark und lassen sich sicher nur schwer ins Buchenholz treiben, wenn nicht bereits ein kleines Loch vorgegeben ist. Damit die Bespannung symmetrisch wird und man die Auffüllung zwischen den Strängen von der Mitte aus anlegen kann, braucht man jeweils eine ungerade Anzahl von Nägeln.

Den benötigten Abstand muss man sich vorher genau ausrechnen. In diesem Falle hatte ich den unschlagbaren Vorteil, dass ich an der Lehne genau abmessen konnte, wieviel Platz 4 beziehungsweise 8 Stränge einnehmen. Mein Ergebnis: je 15 Nägel für die achtstrangige Querbespannung und 27 für die vierstrangige Längsbespannung, jeweils aufzufüllen mit 3 bis 4 Wicklungen.

Anders als bei der Lehne begann ich hier mit den breiten Achtersträngen und, was soll ich sagen, es waŕ schon wesentlich komfortabler, mit einer Schlinge von der Rolle zu arbeiten, als mit 8 Schnüren gleichzeitig. Und es ging auch nicht wesentlich langsamer voran…

Danach folgte die Längsbespannung mit je 4 Schnüren, das Auffüllen der Zwischenräume, das Vernähen loser Enden und ganz zum Schluss noch ein paar Schönheitskorrekturen wie das Zurechtrücken der einzelnen Reihen und Ordnen ausgebüxter Schnüre, die nicht ganz parallel lagen.

Das Fazit: ca. 50 Arbeitsstunden investiert , rund einen halber Kilometer Schnur verbraucht , ein paar Mal ordentlich geärgert und viel Neues dazugelernt. Und ein neues Liebingsmöbel, das jetzt im Schlafzimmer steht. Übrigens: einen weiteren Stuhl selber Bauart habe ich bereits günstig erworben – weil es einfach Spaß gemacht hat!

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