Unsere Jungs kommen zu spät, doch bald sehen wir, warum
Der erste Morgen in Madagaskar, in Antananarivo – früh läutet der Wecker und wir schälen uns aus dem etwas durchgelegenen, aber gemütlichen Bett. Klo, Dusche, Frühstück. Auch jetzt gibt es keinen Reis, sondern Eier nach Wunsch, Baguette, Butter, Marmelade, Tee, Kaffee und Saft. Gut, die Saftauswahl ist ein wenig seltsam – Erdbeersaft und etwas, das sich Corasol nennt. Erdbeere ist uns zu süß, weshalb wir uns für den ominösen Corasol entscheiden, was immer das auch sein mag. Der Saft wird serviert. Es ist eine milchig-weiße Flüssigkeit, die recht träge im Glas schwappt und etwas fad und leicht säuerlich über die Geschmacksknospen flutet. Heinz schmeckt das Zeug, mir nicht so sehr; Bullensperma mit einem Spritzer Zitrone, sage ich, Sauersack, sagt Heinz – und er hat natürlich recht. Doch der Rest des Frühstücks ist schmackhaft und wir genießen es in vollen Zügen, bevor wir uns in unser Zimmer zurückbegeben, die wenigen ausgepackten Habseligkeiten wieder im Gepäck verstauen und anschließend die Rechnung für Nachtmahl und Frühstück begleichen.
So, Jungs, es ist fast halb neun, wir sind bereit! Doch wir müssen uns über eine dreiviertel Stunde gedulden, bevor unser „Personal“ aufkreuzt. Heinz und ich sehen uns schon wieder bedeutungsvoll an, als die beiden endlich auf dem Hotelparkplatz aufschlagen. „Sorry, aber der Verkehr ist fürchterlich“, entschuldigt sich Fitah-Fatih. Schon recht, denken wir uns, begrüßen die beiden, klettern ins Auto und reiten vom Hof, hinein ins morgendliche Tana, hinein in eine aberwitzige Verkehrssituation, die uns peu à peu klarmacht, dass die beiden tatsächlich nicht aus Säumigkeit zu spät gekommen sind. Tana ist ein Moloch aus verstopften Einfallstraßen, aus nicht minder verstopften Verbindungsstraßen und stockendem Verkehr an allen Ecken und Enden, durchmischt mit Fußgängern, Zebukarren und von Menschen gezogenen Transportgefährten. Fünf Kilometer können eine halbe Stunde in Anspruch nehmen oder auch drei.
Ich habe schon viele Großstädte in Asien und Afrika erlebt – Thiruvananthapuram, Colombo, Lusaka, Dar Es Salaam, Kampala, um nur einige zu nennen – aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen. Unfassbar, was hier auf den Straßen abgeht! Also, das Zuspätkommen unserer Jungs ist auf ganzer Linie entschuldigt, vor allen Dingen, als wir auf Nachfrage erfahren, wo die beiden herkommen. Mamy wohnt im Westen der Stadt, musste Fitah-Fatih abholen, der im Osten zuhause ist und dann zu uns chauffieren, die wir im Norden der Stadt residieren. Pah, da ist eine halbe Stunde Verspätung aber voll und ganz entschuldigt!
Langsam werden wir mit den beiden warm, indem wir uns nach den örtlichen Gegebenheiten erkundigen, sie nach den Umständen befragen, die zu der Konstellation mit uns führten, ihnen erzählen, was uns hierher geführt hat und wie sehr wir uns auf die Reise freuen. Und langsam verstehen Heinz und ich auch, in welcher Situation wir uns mit den beiden befinden: sie sind völlig unvorbereitet für Mika eingesprungen, Fitah-Fatih, der junge Kerl und der grummelig erscheinende Mamy. Fitah-Fatih scheint in seiner Position als unser Guide noch ein bisschen unsicher, doch Mamy rettet seinen jungen Kollegen aus dieser Situation, indem er väterlich-wohlwollend einspringt, wann immer wir eine Frage stellen, und sie entweder selbst beantwortet oder diskret auf Malagasy Input gibt. Heinz und ich sehen uns abermals vielsagend an – und erhalten ein verschwörerisches Zwinkern von Mamy über den Rückspiegel. Ah, so läuft der Hase!
„Sagt mal, wir hatten uns ja gestern nur ganz kurz kennengelernt, wir waren ziemlich fertig von der langen Anreise und eure, für unsere Ohren fremd klingenden Namen haben uns wohl etwas überfordert. Deshalb fragen wir nochmal nach. Mamy, du heißt Mamisoa, genannt Mamy, das haben wir verstanden. Aber du, heißt du Fitah oder Fatih?“ „Fitah.“ „Ach, schade! Wir hatten uns gestern so amüsiert, dass wir die nächsten drei Wochen mit Mamy und Fatih unterwegs sein werden. Im Deutschen sind das nämlich Mama und Papa.“ Die beiden starren uns ungläubig über den Rückspiegel an. Fitah ringt um Fassung, Mamy hingegen bricht vor Lachen fast zusammen. „Mamy, Fatih – Eltern! Leute, ich kann so nicht fahren!“ Er krümmt sich über dem Lenkrad zusammen, lacht Tränen und kriegt sich fast nicht mehr ein.
Seltsamer Geldtransfer
Fortan scheint das Eis gebrochen. Mamy outet sich als humorvoller, warmherziger, äußerst aufmerksamer und feinsinniger Mann, der uns, und wir ihn, ins Herz schließt. Und Fitah, nun, er ist noch etwas ratlos, doch auch er wird seine Position in den nächsten Tagen noch finden, so viel kann ich verraten. Lachend, erzählend und zunehmend zueinanderfindend steuern wir so durch unzählige Viertel Tanas, dessen krakenartige Ausdehnung wirklich beeindruckend ist und schier kein Ende nehmen will. Heinz und ich staunen und machen immer wieder Fotos durch die geöffneten Autofenster. Als wir mindestens schon eine Stunde gefahren sind, uns immer noch mitten in der Stadt befinden und uns offenbar auf einer Verbindungstrasse zwischen zwei Stadtteilen mit etwas flüssigerem Verkehr bewegen, bittet uns Mamy, die Fenster zu schließen, „Hier klauen sie euch die Kameras, das ist eine sehr kriminelle Gegend!“ Hui, so kriminell gleich, dass man im Fahren bediebt wird?! Folgsam schließen wir die Fenster bis auf einen kleinen Spalt, als sich uns eine Frage aufdrängt. Heinz und ich hatten bei unserer Ankunft noch einen nicht gerade geringen Betrag in Euro bar zu entrichten gehabt, die ausstehende Restzahlung, die einen guten Teil des gesamten Reisepreises ausmacht. Insgesamt nahezu 4000 Euro. Da uns Fitah aber gestern Abend keine Quittung geben konnte, erfolgte der Transfer erst heute Morgen. Nun haben wir die Quittung und so müsste das nicht mehr unser Problem sein. Dennoch interessiert es uns. „Ihr habt doch vorhin eine Menge Bargeld von uns bekommen. Wollt ihr das die ganze Reise über mit euch führen? Wenn uns die Kriminellen hier schon die Kameras aus dem fahrenden Auto raus klauen könnten, meint ihr nicht, dass die auch das Geld riechen? Und all die anderen, die da noch kommen mögen, ebenfalls?“ Mamy lacht vergnügt, Fitah hingegen informiert uns ernster Miene, dass das Geld in Bälde in sichere Hände übergeben würde. Gespannt harren Heinz und ich der Dinge. Wir verlassen die Verbindungstrasse, tauchen erneut in ein Stadtviertel voller Menschen, kleiner Gassen und undurchsichtiger Straßenführung ein. Ein kleiner Platz tut sich vor uns auf, gesäumt von winzigen Läden, frequentiert von aberwitzigem Verkehr und dichtem Fußgängergedränge. Auf der rechten Seite eine Tankstelle. Mamy lenkt das Auto an den Rand der Tankstelleneinfahrt, stoppt den Motor. „Hier übergeben wir das Geld“, sagt Fitah. Interessant! Minuten später taucht ein junges Mädchen auf, im Schlepptau einen kleinen Jungen, sie trägt einen zierlichen Taschenrucksack auf dem Rücken, Fitah winkt sie herbei, übergibt ihr den Umschlag mit dem Geld, das Mädchen verstaut ihn in ihrem Rucksack, winkt uns allen schüchtern lächelnd zum Abschied – und verschwindet im Gewimmel der Passanten. Mit einer Summe, die bei uns schon so manchen zum Täter hat werden lassen, hier aber auch für Besserverdienende mehr als ein Jahresgehalt darstellt. Ob das wirklich klug war? Aber gut, die Jungs werden schon wissen, was sie tun. Und wir haben ja eine Quittung. Also lehnen wir uns entspannt zurück und genießen die weitere Fahrt durch Tana.
Es geht über Land
Nach insgesamt zirka zwei Stunden haben wir es geschafft und erreichen die RN7, die in südwestlicher Richtung aus der Stadt herausführt. Der Unterschied zum Gewimmel in Tana ist eklatant: zwar ist auch das Land um die Hauptstadt herum dicht besiedelt, wir durchqueren ein Dorf nach dem anderen, und hier sind ebenfalls viele Menschen unterwegs, doch es wirkt trotzdem alles etwas luftiger, gesitteter und nicht ganz so hektisch. Interessiert schauen wir aus dem Fenster und lassen all die Eindrücke auf uns wirken. Eindrücke, die irgendwie vertraut und doch völlig neu sind. Es ist ein bisschen wie in Afrika, ein bisschen wie in Sri Lanka. Die Menschen, das sieht man, sind größtenteils sehr arm. Wenn man sie auf ihren Felder sieht, wähnt man sich stellenweise fast im Mittelalter – Reisbauern graben ihre winzigen Parzellen mit der Hand um oder ziehen primitive Eisenpflüge mit ihrer eigenen Körperkraft durch die lehmig-schwere Erde. Als Transportmittel fungieren grob gezimmerte Handkarren oder klobige Zebu-Fuhrwerke, von Menschen gezogene Rikschas oder welche mit vorgesetztem Fahrrad. Wie gesagt: Armut, wohin man auch blickt. Doch irgend etwas irritiert mich, irgend etwas passt hier nicht zusammen. Lange denke ich nach, was das sein könnte, bis ich schließlich darauf komme: der Eindruck der offensichtlichen Armut wird erheblich gemildert durch die Tatsache, dass hier fast jeder ein Haus aus Ziegeln besitzt. Die meisten der Häuser sind winzig, haben jedoch beinahe alle zwei Geschosse, und erscheinen, obwohl sie teilweise in erbärmlichen Zustand sind, doch irgendwie solide und gaukeln einen gewissen Wohlstand vor – zumindest meinen Augen. Das ist es, was auf mich so widersprüchlich wirkt!
Natürlich würde ich nun gerne mehr darüber wissen und wende mich deshalb an unsere Jungs. Doch hoppla, Fitah reagiert nicht, er ist eingeschlafen und schaukelt schlaff auf dem Beifahrersitz hin und her. Aber Mamy, der Gute, klärt mich gerne auf. Neben dem Reisanbau ist die Ziegelproduktion einer der größten Wirtschaftszweige in Madagaskar. In vielen Gegenden der Insel ist die Erde schwer und lehmig und somit hervorragend für Ziegel geeignet. Sie werden für gewerbliche Zwecke gebrannt, aber auch unzählige Privatleute stellen ihr Baumaterial selbst her, was einen Hausbau mit Ziegeln wesentlich günstiger macht, als sich eine Hütte aus Wellblech, alten Fässern, krummen Brettern oder Ähnlichem zusammenzuzimmern. Außerdem erlauben es die Ziegel, mehrstöckig zu bauen, was für die meisten Menschen in Madagaskar ein absolutes Muss ist – im Erdgeschoss nämlich hausen die Geister. Und die sollte man besser in Ruhe lassen, weshalb man sich zum Wohnen und Schlafen in den ersten Stock zurückzieht. Faszinierend – und schon wieder was gelernt!
Foie Gras zum Lunch?
Im Laufe der nächsten Kilometer werden die Dörfer nun weniger, wir kurven durch grasige, relativ öde Landschaft und unsere Energie erlahmt etwas. Auch Mamy scheint ähnliche Empfindungen zu haben, weiß aber sofort, was dagegen zu tun ist. „Es ist ja bald Mittag, da sollten wir alle einen Lunch einnehmen. Gleich sind wir in Behenjy, dort gibt es ein gutes Restaurant, das wir besuchen werden. Was haltet ihr davon?“ Wir? Uns ist eigentlich nicht nach Mittagessen, aber als wir die Enttäuschung auf Mamys Gesicht sehen, stimmen wir natürlich zu. Auch Fitah ist beim Wort „Essen“ sofort aus seinem babygleichen Tiefschlaf erwacht und rückt sich vorfreudig auf dem Beifahrersitz zurecht. Essen! Wenig später kommt der verheißene Fresstempel dann auch schon in unser Visier – ein wahrhaft befremdlicher Anblick! Mitten aus dem Nichts erwächst vor unseren Augen ein riesiges, für hiesige Verhältnisse vergleichsweise völlig überdimensioniertes Gebäude in leuchtendem Rot, das irgendwie an ein Luftkurhaus an der Ostsee erinnert. Was ist das denn?
Wir rangieren uns auf einem Parkplatz ein, auf dem schon zahlreiche Kleinbusse stehen. Hilfe, eine Touristenbude… Nicht gerade begeistert steigen wir aus und folgen unseren Jungs ins Innere des merkwürdigen Prachtbaus. Eine Riesenhalle tut sich vor uns auf, bestückt mit Plastikmobiliar und ein paar schwülstigen Sofas, besucht von lärmenden Reisegruppen, behuscht von emsigen Kellnern. Wir wähnen uns in einem Tanzpalast der für Senioren oder einem Schülerheim. Mamy, wo sind wir hier, was ist das für ein seltsames Etablissement? Mamy klärt uns auf: es ist das „Le Coin de Foie Gras de Behenjy“, eines von mehreren Upper-Class-Restaurants für Entenstopfleber-Produkte in Madagaskar. Foie Gras in Madagaskar? Das scheint ein Erbe der französischen Kolonialherren zu sein. Heinz und ich werfen uns mal wieder vielsagende Blicke zu und folgen unseren beiden Begleitern in den hinteren Bereich des Schwulst-Tempels, wo wir sofort von einem Kellner, der formvollendet ein weißes Tuch über dem Arm trägt, zu einem festlich gedeckten Tisch geleitet werden. Wir nehmen Platz, unsere Stühle werden uns unter dem Hintern zurechtgerückt, gleich darauf folgt die Speisekarte. Sie offeriert Entenstopfleber in allen nur erdenklichen Geschmacksrichtungen und Darreichungsformen, daneben ein paar wenige leberfreie Gerichte. Erstaunlicherweise haben Mamy und Fitah Karten, die inhaltlich stellenweise deutlich von den unsrigen abweichen und nahezu leberlos daherkommen, obwohl sie den gleichen Einband tragen. Wo, zum Teufel, sind wir hier gelandet? Ach ja, im Coin de Foie Gras in Behenjy, Madagaskar… Wah, ist das befremdlich!
Tapfer wählen Heinz und ich etwas aus unserer Touristenkarte, unsere Jungs ordern vom Einheimischen-Menü, dann warten wir – und schweigen. Bevor dieses Nicht-wissen-was-man-sagen-soll zu peinlich wird, stelle ich eine Frage, die die Gesamtsituation nicht besser macht: „Mamy, Fitah, was hat das mit der Foie Gras auf sich? Warum gibt es die hier mitten im Nichts? Wer stellt die her und wie? Wird da tatsächlich gestopft? Und warum habt ihr andere Karten, bestellt Reis und keine Leber?“ Wie immer antwortet Mamy, ganz der Profi, und versucht, meine Bedenken zu zertreuen. „In dieser Gegend wird traditionell Foie Gras hergestellt. Stopfen? Nein, das Geflügel bekommt einfach gutes Futter. Und wir essen Reis, weil wir Madagassen sind und früh, mittags und abends Reis essen. Das ist einfach so!“ Ich kenne ihn jetzt erst ein paar Stunden, aber ich sehe ihm an der Nasenspitze an, dass er schwindelt, professionell schwindelt, was die Produktion der Leber anbelangt. Er weiß um die Bedenken von uns Touristen, kann sie nicht ganz nachvollziehen, ist irgendwie stolz drauf, was sein Land uns reichen Ausländern bieten kann und versucht so, seinen und unseren Empfindungen gerecht zu werden. Und nur, weil ich das ganz deutlich spüre, gebe ich Ruhe, insistiere nicht weiter.
Schließlich wird das Essen serviert. Mamy und Fitah erhalten riesige Reisberge mit einem kleinen Schälchen, gefüllt mit einer Fleisch-Gemüse-Beilage, Heinz setzt man hingegen reichlich Fleisch und Gemüse vor, begleitet von einer eher kleinen Reisportion, ich werde mit einem zierlichen Tellerchen beglückt, das eine noch zierlichere Portion Leber enthält. Gut, ich hatte ja auch nur eine Vorspeise gewählt – Foie Gras in den Geschmacksrichtungen nature, grüner Pfeffer und Ananas. Die kleinen Scheibchen zergehen förmlich auf der Zunge, jede Würzvariante ist eine Geschmacksexplosion für sich. Fast könnte ich Fan von Stopfleber werden – aber eben nur fast, denn das schlechte Gewissen würde den Genuss überwiegen. Mamy und Fitah hingegen plagen sich nicht mit von schlechtem Gewissen begleiteten Geschmacksexplosionen herum, sie schaufeln einfach nur glücklich ihren Reis in sich rein, so, wie sie es jeden Tag mindestens drei Mal tun, und lecken sich zufrieden die Lippen.
Keine perfekten Reisfelder, dafür aber allerlei anderes
Gut, alle haben aufgegessen und neue Energie getankt, dann kann es jetzt weitergehen. Wohlig gefüllt klettern wir wieder ins Auto, kurven auf die Hauptstraße zurück und setzen unseren Weg Richtung Antsirabe, unserem heutigen Tagesziel fort. Leider ist es eine relativ eintönige Strecke, die Landschaft hat nicht viel fürs Auge zu bieten, die Sonne versteckt sich hinter diesigen Wolken, so dass Fotografieren in doppelter Hinsicht nicht besonders lohnt. Doch fast bin ich froh darum, denn ich hatte so sehr auf grüne Reisfelder gehofft, grafisch interessant in kleinen Terrassen angeordnet, mit Grüntönen, die einen förmlich anspringen, aber nur, wenn das Licht gut ist. Tja, Terrassen gäbe es genug, allein bepflanzt sind sie noch nicht – falsche Jahreszeit. Deshalb stimmt mich das diesige Licht nicht allzu traurig. Nichts hätte mich nämlich mehr geärgert, als die perfekten Reisterrassen im falschen Licht vorzufinden!
Trotz dieser für mich dennoch etwas bedauerlichen Umstände hat die Strecke von Tana nach Antsirabe aber einiges zu bieten: immer wieder weist uns Mamy auf sourvenirtechnische Besonderheiten hin. „Hier können wir auf dem Rückweg nach Andasibe halten, denn es gibt Flechtprodukte aus Raphia-Bast zu kaufen.“ „Ambatolampy werden wir in ein paar Tagen besuchen. Die Stadt ist berühmt für ihre Aluminium-Erzeugnisse.“ „Diese Leute verkaufen Spielzeug-Autos, gefertigt aus alten Getränkedosen. Wenn bei uns ein Junge beschnitten wird, bekommt er traditionell so ein Auto geschenkt. Die Freude darüber soll den Schmerz der Beschneidung lindern. Mittlerweile sind sie aber auch bei Touristen sehr beliebt.“ Jede Gegend hat offenbar ihre typischen Produkte, lokal ganz eng begrenzt, doch lange nicht alle sind touristische Verkaufsschlager. Das sieht wohl auch Mamy so. Als wir nämlich über Kilometer an kleinen, mit Heu gepolsterten Holzplattformen vorbeikommen, auf denen lebende Kaninchen feilgeboten werden, sagt er nichts. Und auch nicht bei den tonnenschweren, aus Beton gegossenen und grell bemalten Jesus- und Marienfiguren, bei dem Straßenmarkt mit Ständen voller Kohl und Karotten, bei den Händlern, die von einem Fluss rundgeschliffene Lavasteine zu Dekorationszwecken verkaufen. Komisch!
Mir wird allerdings trotzdem allmählich etwas mulmig. In diversen Reiseführern hatte ich im Vorfeld nämlich nachgelesen, was Madagaskar so an Souvenirs zu bieten hat und war sehr erleichtert, dass ich nichts davon besonders verlockend fand. Doch allein auf dieser kurzen Strecke nach Antsirabe – rund 120 Kilometer – habe ich nun schon Diverses entdeckt, was mich durchaus zum Kauf verführen könnte. Oje! Dieses „Oje“ wird fortan zum Signal für Mamy, dass ich wieder etwas erspäht habe. Und Mamy lacht! Nach diversen Ojes kommen wir schließlich am späten Nachmittag in Antsirabe an, ohne dass ich was gekauft hätte. Für Souvenirs haben wir ja auf dem Rückweg Zeit, sagt Mamy…
Och nö! Touristenprogramm …
Und wie um seine Worte Lügen zu strafen, chauffiert er uns, kaum sind wir in Antsirabe angekommen, schnurstracks zu einem kleinen Betrieb, der Zebuhorn verarbeitet. Schon beim Reinfahren in den Innenhof sehen wir, dass das Ganze voll auf Touristen ausgerichtet ist. Kleine Läden mit allen kunsthandwerklichen Produkten, die die nähere und fernere Umgebung hergibt, säumen den Innenhof, der Inhalt zweier Touristenbusse drängt sich dort herum und marktet kräftig ein, unter einem Dach gibt es eine Schau-Werkstatt, wo die Herstellung der Zebuprodukte vorgeführt wird, sobald neue Touristen auftauchen, und gleich daneben erspähen wir eine schwimmbadgroße Halle, in der die Hornschnitzereien verkauft werden. Oje! Diesmal aber ist es kein besorgt-freudiges Oje, sondern eher ein genervtes. Auf solche Veranstaltungen nämlich stehen Heinz und ich gar nicht. Aber nun sind wir schon mal hier, also lassen wir die Sache eben auch über uns ergehen. Nach einer handwerklichen Demonstration, die gar nicht so uninteressant, dafür aber umso gelangweilter rüberkommt (ich kann’s ja verstehen), spazieren wir kurz durch die Verkaufshalle. Viel Kitsch, aber auch einige erstaunlich hübsche Gegenstände werden hier feilgeboten und das auch noch, für unsere Verhältnisse, zu moderaten Preisen. Aber nein, nein, nein. Ich will nicht schon hier und jetzt etwas erwerben und die ganze Zeit mitschleppen. Außerdem ist heute unser erster Tag, wir haben noch keinen Überblick, werden zudem in ein paar Tagen wieder hier sein und, was das Ausschlaggebendste ist, ich bin anti! Touristenveranstaltung, nein, da verspüre ich einen starken Verweigerungszwang! „Ach Schneck, ich würde dir so gerne was schenken, und die Ketten sind doch wirklich schön.“ Nein, nein, nein! „Ach, komm, such dir doch was aus.“ Nein, nein, na gut. Ich wähle einen Anhänger in länglicher Blattform mit dazu passenden Ohrringen, die ich eigentlich gar nicht will, aber den Anhänger gibt es leider nur im Paket. Doch was soll’s, kostet ja nicht die Welt. Zum Schluss sind wir alle glücklich; Heinz, weil ich sein Geschenk angenommen, beziehungsweise meinen Widerborst überwunden habe, den er so gar nicht mag; ich, weil der Anhänger wirklich hübsch ist; und Mamy und Fitah, weil „ihre“ Touristen was gekauft haben.
Na gut, dann können wir ja jetzt zum Hotel, oder? Schnurstracks chauffiert uns Mamy dort hin. Es liegt relativ zentral und doch ruhig in einer kleinen Seitenstraße und nennt sich „Le Retrait“, was so viel wie Rückzug heißt. Wir steigen aus, Fitah regelt unseren Einzug an der Rezeption und ich überlege gerade, ob ich noch schnell meinen üblichen Türkenkoffer packen soll, der nur das Nötigste für die Nacht enthält. Doch schon ist Fitah wieder da und bevor wir uns versehen, haben sich die Jungs unsere Taschen geschnappt, jede wiegt knapp 20 Kilo, und schleppen diese in unser Zimmer, das im zweiten Stock liegt und nur über eine steile, schmale, geflieste Treppe zufänglich ist. Oh Gott, die Armen! Schnaufend und keuchend begleiten uns die beiden in unser Zimmer, testen Licht, Klospülung und Dusche und fragen dann, wann wir denn gerne dinieren würden. Allerdings hätte das Retrait kein eigenes Restaurant, weshalb wir uns in ein nahegelegenes Etablissement bemühen müssten, das aber zu Fuss erreichbar sei. Mhm, es ist jetzt halb sechs, wie wäre es mit halb acht? Mamys Kopf nickt, seine Mimik jedoch sagt etwas vollkommen anderes. Früher? Später? „Nein, wie ihr wollt, wir richten uns nach euch!“ „Mamy, kennst du die Geschichte von Pinocchio?” „Der, dessen Nase wächst, wenn er schwindelt?“ „Genau der. Und deine Nase ist jetzt gerade ein gutes Stück gewachsen. Also, wann wollt ihr wirklich gehen?“ „In einer Stunde?!“ „Okay, halb sieben, unten im Hof, kein Problem.“ Mamy kichert froh und macht begeistert meine, die wachsende Nase darstellende Geste nach – die flache Hand einen halben Meter vor meiner Nasenspitze. „Pinocchio, hihi, das ist gut, hihi. Also, bis später!“
Mittags Haute Cuisine, abends Pizza
Bis später! Für die verbleibende Stunde akkomodieren Heinz und ich uns in unserem Zimmer, das zwar einen recht herben Ostblock-Charme verströmt, aber durchaus geräumig und sauber ist. Eine Stunde später stehen wir wieder vor der Tür und marschieren mit den beiden Jungs los, die frisch gebügelt und geschniegelt auf uns warten. Aus der Seitengasse raus, rechts auf die Hauptstraße, ein paar hundert Meter Richtung Zentrum und wir sind da. Hui, eine Pizzeria! „Mamy, das ist eine Pizzeria. Was ist mit eurem täglichen Reis?“ Mamy lacht. „Die haben Reis. Aber auch richtig gute Pizza. Der Besitzer ist Madagasse, hat jedoch viele Jahre in Italien gelebt. Und auch wir mögen Pizza.“ Spricht’s und führt uns ins Lokal, das sehr gut besucht ist – von vielen Touristen. Natürlich ist ein Tisch für uns reserviert, ganz hinten in einer Nische. Wir lassen uns nieder und beschäftigen uns erst mal mit der Karte, wobei Mamy unserem Fitah eine Calzone wärmstens ans Herz legt. Wir ordern – Calzone für Fitah, Pizza und Pasta für den Rest – die Getränke kommen, das Essen wird serviert. Genüsslich lassen wir’s uns schmecken, allein Fitah kämpft mit seiner Calzone. „Ist sie nicht gut?“ „Doch, super!“, stöhnt Fitah und schiebt das Essen von einem Tellerrand zum anderen, kaut hochkant. „Haha, Pinocchio, hihi!“, kichert Mamy in sich rein. „Sie schmeckt ihm, sagt er, hihi.“ Er amüsiert sich königlich über seinen, mit dem ungewohnten Essen kämpfenden Kollegen. Heinz und ich schwanken zwischen Amüsement und Mitleid, wundern uns aber, dass ausgerechnet der jüngere unser beiden Begleiter „exotischem“ Essen gegenüber offensichtlich weniger aufgeschlossen ist. Wir hätten eher das Gegenteil erwartet. Schließlich aber hat Fitah seine Klapp-Pizza niedergekämpft und wir machen uns langsam auf den Weg zurück ins Hotel, wo uns Fitah, nach unauffälligem Betreiben von Mamy, für den morgigen Tag brieft. Dabei verwechselt er die Etappen unserer Route und teilt uns mit, dass wir früh los müssten, um pünktlich in unserem Hotel im Kirindy anzukommen. Was? Kirindy? Hotel? Mamy zischt Fitah ein deutliches „Morondava“ zu. Irritiert korrigiert sich Fitah – doch früh los müssen wir trotzdem. Das stört uns nicht, viel mehr die Anmerkung über das Hotel im Kirindy. „Was verstehst du unter Hotel im Kirindy? Wir hatten einen Bungalow gebucht.“ Jetzt zeigt auch Mamy eine gewisse Unsicherheit. Einen Bungalow? „Ja, und den wollen wir auch haben! Auf keinen Fall gehen wir in ein Hotel. Wo soll das denn überhaupt sein?“ Fitah zückt sein Handy und liest uns aus dem Tourplan vor. „Unterkunft“ steht da zu lesen. Die beiden Jungs sind ratlos, doch Mamy verspricht, sich des Problems anzunehmen. Wir bitten darum! Pfffht, Hotel im Kirindy, das geht ja gar nicht! Etwas besorgt entlassen wir die Zwei in die Nacht, wünschen ihnen einen guten Schlaf und begeben uns in unser Zimmer, wo wir in mehrerlei Hinsicht gespannt einem neuen Tag entgegenschlafen.
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