21. September 2015; Entebbe > Kampala > Murchison Falls NP; Campsite oberhalb der Fälle

Ab heute weht ein anderer Wind! Trotz Urlaub ist’s nix mit ausschlafen, im Gegenteil. Und wie jedes Mal bin ich, normalerweise Langschläferin vor dem Herrn, aufs Neue erstaunt, wie leicht ich aufwache und aus den Federn komme, sobald ich in Afrika bin. Gegen halb sieben Uhr morgens, undenkbar in Deutschland, erwachen wir alle von selbst, krabbeln aus den Zelten, frühstücken (zuhause, um diese Uhrzeit, ist auch das unvorstellbar), packen zügig zusammen und machen uns auf den langen Weg zum Murchison Falls Nationalpark.

Ufer des Viktoriasees
Wird das ein Märchenschloss?
Begehrtes Neubaugebiet

Wir verlassen das lauschige Entebbe in nördlicher Richtung, erhaschen dabei ein paar wenige Blicke auf den Viktoriasee, über dem noch leichter Morgennebel liegt und delektieren uns an der Landschaft, die in üppigem Grün erstrahlt. Doch mit jedem Kilometer, den wir vorankommen, wird das Grün weniger, der Verkehr heftiger und die Luft rauchiger. Das liegt zum Teil sicher an den Abgasen, aber auch die morgendlichen Kochfeuer der immer dichter werdenden Siedlungen tragen ihren Teil dazu bei – Vorboten der ugandischen Hauptstadt Kampala. Wie ein Krake scheint die Metropole mit ihren rund 1,5 Millionen Einwohnern ihre Arme ins Umland auszustrecken. Die einspurige Verbindungsstraße von Entebbe nach Kampala wird bald zweispurig, der Verkehr wechselt wie von Zauberhand von spärlich über dicht bis hin zu stockend und Stau. Rechts und links der Fahrbahn wuchern Gebäude, die Geschäfte und kleine Restaurants beherbergen, anfangs noch vorhandene Gärten weichen geteerten Flächen und unfertigen Neubauten, und es sind immer mehr Menschen unterwegs. Per Auto, per Fahrrad, die meisten aber sind zu Fuß. Und gelegentlich wagt einer dieser Fußgänger sogar das Abenteuer der Straßenüberquerung – bei dem Verkehr ein fast selbstmörderisches Unterfangen. Wir, die wir sicher in unseren bulligen Autos sitzen, beobachten fasziniert das geschäftige Treiben, drücken den Straßenüberquerern die Daumen, empfinden tiefes Mitgefühl mit den Brigaden von Straßenreinigern, die, an die Leitplanken gequetscht, scheinbar ihr Leben riskieren, um Müll von den Seitenstreifen zu klauben, bewundern die Kreativität der hiesigen „Schaufenstergestalter“ und erfreuen uns der einfallsreichen Namensgebung so mancher Shop- und Barbesitzer. Dazu haben wir ja ausgiebig Zeit, denn wir kommen immer langsamer voran…

Kurz nach Entebbe
Die Verkehrsdichte steigt
Straßenreinigerin
Klamotten-Boutique
Bodas: Motorradtaxis
Der Octo Pub 😉

Bald aber vergeht uns die Freude, denn wir erreichen die, wenn auch fließende, Stadtgrenze Kampalas; und ab da ist die Hölle los! Ich war schon in einigen afrikanischen Großstädten unterwegs, doch so etwas habe ich noch nie erlebt: mehrspurige Zubringerstraßen, riesige Kreisverkehre, alle hoffnungslos verstopft. Ein heilloses Chaos aus Pkws, Lkws, Minitaxis, Radfahrern, Fußgängern und Eselskarren, es wuselt, kreiselt, hupt, schreit und klingelt. Ineinander verkeilte Fahrzeuge, suizidale Radler und mutige Mopedfahrer auf röhrenden Kleinstkrafträdern versuchen, in dieser unübersichtlichen Blechlawine zu überleben und gleichzeitig voranzukommen, nebenbei bieten zahlreiche Straßenhändler ihre Waren feil und quetschen sich dabei durch sich ständig verändernde Lücken, nicht breiter als einen halben Meter. Richtig gefährlich wird das, wenn zwei Außenspiegel aneinander vorbei schrappen…  Diese Menschen- und Fahrzeuglawine bewegt sich wie ein bockender Fluss, eingesperrt, kanalisiert durch ein merkwürdiges Konglomerat an Gebäuden: handgezimmerte Buden, winzige, gemauerte Läden und niedrige Bauwerke zweifelhaften Zustands schmiegen sich selbstbewusst an hochgereckte Bürotürme, die ihre besten Zeiten ebenfalls hinter sich haben. Dazwischen überall Menschen: sie sitzen am Straßenrand, die Beine gefährlich nah am Verkehr, sie hasten die schmalen Bürgersteige mit den halsbrecherisch hohen Bordsteinen entlang, sie tragen Businessoutfits, Schuluniformen, zerschlissene Hosen und T-Shirts oder farbenfrohe afrikanische Kleider, sie rennen, schlendern, schreien, telefonieren, träumen planlos, sausen zielgerichtet, brüllen aufgeregt. Alles in allem präsentiert sich uns ein unvorstellbares Durcheinander, das Annette und Jochen, die die Autos steuern, ein Höchstmaß an Konzentration abfordert, in uns Mitfahrern eine Mischung aus atemlosen Staunen und Respekt für die Fahrer erzeugt – und uns summa summarum fast zwei Stunden kostet.

Kampala aus dem Auto
Bürogebäude in Kampala
Fahrrad-Chaos

Zwei Stunden für die Durchquerung dieser unsäglich chaotischen Stadt, zwei Stunden, in denen wir aus dem Schauen und Wundern gar nicht mehr rauskommen, zwei Stunden, in denen unsere Nasen die absonderlichsten Gerüche erschnuppern und unsere Lungen sich mit Abgasen füllen. Doch langsam lichtet sich das Tohuwabohu und fast von einem Moment auf den anderen – die nördliche Stadtgrenze ist weit weniger diffus als die südliche – hat uns die einspurige Straße wieder. Dort bietet sich uns das typische Bild einer ostafrikanischen Fahrstrecke im ländlichen Bereich dar: wenig Verkehr, einige windschiefe, völlig überladene Lkws, die bei jeder auch noch so kleinen Steigung fast zum Stehen kommen, Frauen, die Brennholz oder Kanister auf ihren Köpfen balancieren, Männer, unter schattigen Bäumen sitzen und „wichtige“ Gespräche führen, Kinder, die uns aufgeregt zuwinken. Die Gegend, die wir auf unserem Weg nach Norden durchfahren, ist vergleichsweise spärlich besiedelt, trotzdem aber reiht sich ein Dorf ans andere, wie Perlen auf einer sehr lose geknüpften Kette. Kawempe, Bombo, Kalule, Wobulenzi, Luwero, Kakinzi, Kakoge, Katugo, Nakasongola, Kigumba, Mpobo, Karuma – und wie sie nicht alle heißen. Zügig rollen wir dahin, saugen die vorbeiziehenden Eindrücke in uns auf und freuen uns auf unseren ersten Nationalpark dieses Urlaubs.

Da stimmt was nicht!
Wir harren der Dinge
Na, Fehler gefunden?

Alles ist prima. Bis plötzlich, irgendwo zwischen Wobulenzi und Luwero, das Walkie-Talkie zu rauschen beginnt und Annette uns mit von der Technik abgehackter Stimme signalisiert, dass ihr Auto komische Geräusche von sich gäbe. Den Rest verstehen wir nicht, weswegen wir erst mal am Straßenrand stehenbleiben und warten, ob sie nachkommt. Tut sie aber nicht. Also kehren wir um und finden schließlich den weißen Landy nebst seiner Besatzung ein paar Kilometer hinter uns, ebenfalls am Straßenrand parkend. Wir rangieren uns davor, steigen aus und versuchen gemeinsam, das Problem einzugrenzen. Rasch ist etwas sehr Unerfreuliches klar: es ist die Lichtmaschine. Ach du Kacke! Doch Jochen, unser Mechaniker-Fels in der Brandung, ahnt sofort, woran es liegt, als er  das komplexe Bauteil wie in einer Sektion freilegt – der indische Werkstattmensch, der vor einigen Wochen die Lichtmaschine überholte, hat wohl einen falschen, nicht passenden Freilauf in die Riemenscheibe gesetzt. Der Freilauf hat zu viel Spiel, läuft unrund, was sich auf den Lichtmaschinenanker überträgt, und das erzeugt nun diese schlagenden Geräusche, die Annette gehört hatte – ein Totalausfall droht. Und ohne Lichtmaschine ist leider nix mit Fahren. Doch wie sollen wir das jetzt, hier im Norden Ugandas, ohne große Zeitverluste, wieder in den Griff bekommen? Jochen geht im Geist seine Werkzeugkiste nebst Appenix durch – und hat eine zündende Idee: selbstaushärtender Knetstahl! Gedacht, rausgekramt und schon kann die Reparatur beginnen. Jochen und Heinz, unsere beiden Männer, vergraben sich bis zu den Ellbogen in den Eingeweiden des schwächelnden Autos, wir Damen hingegen werden nur hin und wieder zu einer kleineren Handreichung herangezogen, ansonsten aber haben wir genügend Zeit zum Beobachten unserer Umgebung  – oder sollte ich besser sagen: beobachtet zu werden…

In Afrika, besonders in ländlichen Gegenden, ist man als Weißer ja gerne mal eine Attraktion, erst recht, wenn man ein offensichtliches Problem hat. Die Art und Weise, wie einem Aufmerksamkeit zuteil wird, differiert jedoch von Land zu Land, von Gegend zu Gegend – vom verstohlenen Beobachten bis hin zum neugierigen Volksauflauf, Anfassen inklusive, ist alles möglich. Hier in diesem Ort, an dessen Namen ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann, bewegen sich die Interesseäußerungen in etwa im ersten Drittel der genannten Bandbreite: unter einem Baum versammeln sich immer mehr Männer gesetzten Alters in einem Halbkreis, den sie in unsere Richtung offenlassen. Jede unserer Handbewegungen wird mit Argusaugen verfolgt und sicher auch ausgiebig kommentiert, doch sobald einer von uns zu den Männern hinübersieht, schielen diese sehr angelegentlich in eine andere Richtung. Nicht weniger angelegentlich postiert sich eine Phalanx jüngerer Männer am gegenüberliegenden Straßenrand, gerade so, als würden sie das jeden Tag um diese Uhrzeit tun – und sie alle tragen Sonnenbrillen. Nein, wir fühlen uns nicht angestarrt… Die Frauen sind ein wenig schüchterner, dabei aber nicht minder neugierig – und viel kreativer; es ist sicher kein Zufall, dass akkurat in unmittelbarer Nähe unserer Autos ständig Tücher neu um die Hüfte gewickelt und Lasten auf dem Kopf re-arragiert werden müssen, Tomaten zu Boden fallen und nur schwer wieder aufzufinden sind, obwohl sie wie ein Ampellicht leuchten oder zahlreiche Handys tonlos läuten, woraufhin man minutenlang und ohne Worte dem angeblichen Anrufer lauschen muss. Wir amüsieren uns königlich! Wer sich weniger amüsiert, das sind die Kinder. Die Kleinen nämlich zerreißt es fast vor Neugierde, doch scheint es nicht den örtlichen Erziehungsgrundsätzen zu entsprechen, diese Neugierde offen auszuleben und sich den fremden Weißen nähern zu dürfen, schon gar nicht ohne die Begleitung eines Erwachsenen. Die aber haben ja allesamt ihre eigenen Mittel und Wege, uns im Auge zu behalten. Alles in allem kann man unsere Begegnung mit der lokalen Bevölkerung also als recht distanziert bezeichnen, obwohl wir ständig freundlich in die Runde grüßen.

Diese Zurückhaltung löst sich erst ein wenig, zumindest partiell, als wir, die weißen Frauen, ein recht dringendes menschliches Bedürfnis verspüren, das wir in diesem Umfeld nicht ohne Hilfe zu lösen in der Lage sind – wir müssen pinkeln. Also grüßen wir die nächste Frau, der eine Tomate in unserer Nähe zu Boden fällt, besonders leutselig und fragen sie dann, nachdem sie verschämt zurückgegrüßt hat, afrikanisch umständlich, ob sie nicht eine Lösung für unser Problem parat hätte. Man sieht sie förmlich erröten (obwohl das bei der dunklen Haut eher nur zu erahnen ist), sie kichert verschämt, deutet dann auf ein paar niedrige Häuschen zu unserer Linken, nickt nachdrücklich, kichert nochmal und macht sich rasch aus dem Staub, um unser weiteres Vorgehen aus der Entfernung zu beobachten. Mhm, jetzt sind wir verunsichert. Da hinten. Das hatte die junge Frau uns zu verstehen gegeben. Da hinten aber sind nur kleine, Wand an Wand gebaute Wohn-Zimmerchen zu sehen, die, verbunden durch eine durchgehende, betonierte Veranda und bestückt mit trocknender Wäsche, kümmerlichen Topfpflanzen und vereinzelten Drahtstühlen, einen sehr privaten Eindruck machen. Und da sollen wir jetzt aufs Klo gehen? Aber klar! Keines dieser winzigen Appartements beherbergt eine En-Suite-Toilette, die Bewohner nutzen vielmehr eine gemeinsame Sanitäranlage inmitten des Wohnkomplexes, und genau da hat uns die Dame auch hingeschickt. Nicht ganz das, was man unter öffentlicher Toilette versteht, aber fast. Nacheinander suchen wir die vor Blicken geschützte und recht gepflegte Örtlichkeit auf, obwohl wir das auch gleichzeitig hätten tun können, denn es stehen mehrere Klos und sogar ein paar Duschen zur Verfügung, und kehren nunmehr erleichtert zu unseren Männern zurück, die immer noch am Auto zugange sind. „Es wird!“, schnauft Jochen unter der Motorhaube auf unsere Fortschritts-Nachfrage hin hervor, und schon sind wir wieder vergessen. Nicht vergessen allerdings haben uns die Dorfbewohner, denen wir nun offenbar „nahbarer “ erscheinen, nachdem wir menschliche Bedürfnisse zugegeben und auch befriedigt haben. Den Damen fallen keine Tomaten mehr zu Boden, die Tücher sitzen mit einem Mal perfekt, wir werden gegrüßt und schüchtern angelächelt. Und eine junge Frau wagt es sogar, sich uns zu nähern – allerdings nur auf heftiges Betreiben ihres etwa vierjährigen Sprösslings. Er muss nämlich unbedingt ein paar Dinge erledigen: uns die Hand schütteln und uns mitteilen, dass er sich, wenn er mal groß ist, kein Auto, sondern ein Flugzeug kaufen wird. Punkt. Befriedigt gibt er uns allen nochmal die Hand, quietscht vorfreudig auf und saust zu einer Gruppe Gleichaltriger, wahrscheinlich um ihnen von seinem Abenteuer mit den Weißen mit dem kaputten Auto zu berichten. Die Mutter zuckt entschuldigend die Schultern, lächelt liebevoll und entfernt sich ebenfalls.

Schmunzelnd blicken wir den beiden hinterher. Die Sache mit dem Flugzeug können wir allerdings nicht so mir nichts, dir nichts, auf uns sitzen lassen, weshalb wir uns nun eingehender nach den Reparaturfortschritten unseres Transportmittels erkundigen – schließlich müssen wir unser Gesicht wahren und hier wieder wegkommen… Und tatsächlich: Jochen und Heinz finalisieren soeben ihre Bemühungen, schrauben diverse Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammen, schließen befriedigt die Motorhaube und reinigen sich dann ihre kohlrabenschwarz verschmierten Hände. Alles wieder gut? Probestarten? „Nee, noch nicht!“, sagt Jochen, „Erst muss der Knetstahl aushärten. Normalerweise über Nacht…. Aber jetzt machen wir erst mal gemütlich Lunch und dann könnte es vielleicht gehen.“ Jochens Worte in Gottes Gehörgänge beamend, zerren wir hoffnungsfroh die Geschirrkisten aus dem Auto und pfeifen uns, unter den wachsamen Augen der Dorfbewohner, einen Mittagssnack ein, kauen ausgiebig, trinken noch was, verstauen die Kisten wieder und dann, nach einer Dreiviertelstunde, wird es spannend. Annette, Erika und Gabi besteigen unser Sorgenkind, starten die Kiste – klingt gut – und fahren testhalber los. Nach einigen Minuten rauscht Annettes Stimme aus dem Walkie-Talkie: „Jungs, das habt ihr gut gemacht! Scheint zu funktionieren. Ihr könnt nachkommen.“ Erneut penetrieren wir Gottes Ohren, packen das restliche Werkzeug zusammen und folgen dann, vorsichtig erleichtert, aber noch nicht zur Gänze überzeugt, dem weißen Land Rover. Einige Dorfbewohner winken uns hinterher und halten ihre Daumen nach oben. Mögen ihre Zuversicht und die guten Wünsche uns Glück bringen!

Über Land
Es wird noch ländlicher
Ankunft am Gate

Und das tun sie. Um den Ereignissen vorzugreifen: der nicht vollständig ausgehärtete Knetstahl tut genau zwei Wochen lang seine Dienste, stabil und zuverlässig, dann tritt das Problem jedoch erneut und umso heftiger auf. Dazu aber später. Jetzt, im Moment, ist erst mal alles, wie es sein soll, wir kommen rasch voran und erreichen nachmittags das östliche Gate des Murchison Falls Nationalparks. Annette kümmert sich dort um die nötigen Formalitäten, während wir anderen uns ein wenig umsehen. Interessiert lesen wir diverse Schautafeln, spähen in die Botanik, beobachten erste Vögel, besuchen das örtliche Klo und entdecken dann einen Souvenir-Laden. Uih! Wie der Pfeil verschwinden Heinz und ich in dem kleinen Laden, der ein überraschend attraktives und gar nicht sooo teures Sortiment für uns bereithält. Neben Schmuck aus Perlen und Pflanzensamen, diversen Batikarbeiten und T-Shirts, gibt es hier auch einen unglaublichen Fundus an Holzschnitzereien, die so ganz nach unserem Geschmack sind: ashanti-artige Holzfiguren von beachtlicher Größe und zahlreiche andere Skulpturen, die uns ebenfalls durch ihre sympathisch rudimentäre, prägnante, ausdrucksstarke Formgebung sofort ins Auge stechen. Heinz und ich sind Feuer und Flamme. Lange mäandern wir durch den Shop, grenzen unser Begehren ein, fixieren uns auf bestimmte Stücke und fällen dann die finale Entscheidung. Der Shop-Betreiber, der uns nicht aus den Augen, aber in Ruhe gelassen hatte, sieht uns das wohl instinktiv an und eilt sofort herbei.

„Ah, Madam, you are interested in this!?!“ Strahlend pflückt er mit erstaunlicher Gewandtheit zwei, von anderem Tand fast völlig zugehängte Figuren von der Wand, ohne dass dabei irgendwas zu Bruch geht. Formvollendet, beinahe wie bei einem TV-Shopping-Kanal, bekomme ich nun die beiden Skulpturen zum finalen Kaufentscheid interessanterzählt. Es handle sich hierbei um typische Luba-Schnitzereien, ein Pärchen, bestehend aus Mann und Frau (grinsend weist er mich auf die geschlechtsspezifischen Merkmale hin), antike Fruchtbarkeitspuppen mit Jahrtausende alter Tradition, und es würde und es wäre und überhaupt. Scheinbar beeindruckt lausche ich seinen Ausführungen, um dann, ganz nebenbei, einzuwerfen: „Uh, really?! But Luba? This remarkably reminds me of Ghanaan Akuaba, Ashanti dolls…“ „Mhm – maybe not really Luba, yes, but – very nice, Madam?“. Wir lächeln einander abschätzend an; die Verhandlungen sind eingeleitet… „And you, Sir, very good choice this!“, wendet er sich ablenkend an Heinz, der die Schnitzerei seines Begehrens gerade aus dem Regal gefummelt hat. Es ist eine seegurkenförmige Holzwurst mit winzigen Ärmchen und Beinchen und einem putzig ungestalten Kopf. Heinz sieht den Verkäufer fragend an und möchte nun auch seinerseits eine Herkunftsstory ans Ohr gelabert bekommen. Da aber muss sogar unser geschäftstüchtiger Shopbetreiber passen: „Typical African, but quite unusual!“, ist alles, was er dazu zu sagen hat. Schade, keine neue Geschichte – aber wo der Verkäufer recht hat, da hat er recht: es sind, auch in unseren Augen, entzückende und ungewöhnliche Stücke, und, egal, woher sie stammen oder was sie bedeuten – wir wollen sie haben. Nach weiterem, unvermeidlichem Preis-Geplänkel gehen Heinz und ich schließlich aus dem Shop; mit der bebeinten Seegurke beziehungsweise der weiblichen Version der angeblich antiken Luba-Ashanti-Fruchtbarkeitspuppe unter den Armen. Wir alle strahlen: Heinz, ich – und der Shopmann. Wir Touris mit unserer heruntergehandelten Wunschbeute und er, weil er einen zufriedenstellenden Gewinn gemacht hat. Was will man mehr?

Beglückt verstauen Heinz und ich unsere Souvenir-Trophäen im Auto, scharf beobachtet von Annette, der offenbar Fürchterliches schwant: wenn wir jetzt, quasi am ersten Tag, schon so zuschlagen, was kommt da wohl im Laufe der nächsten Wochen noch dazu – und wo soll es hin? Das wissen wir natürlich auch nicht, doch der Packlast ist ohnehin eine natürliche Grenze gesetzt, denn schließlich müssen wir das Zeug in drei Wochen mit dem Flieger heimtransportieren. Und da haben immer nur die anderen unzulässige Handgepäckmengen mit an Bord. Also keine Sorge, liebste Annette!

Durch den dichten Wald
Geweihfarn
Schmetterlinge

Sodala, Souvenirs verräumt, Formalitäten erledigt, wir alle versammelt – es kann weitergehen. Wir klettern in die Autos und tuckern los, Richtung unserer ersten avisierten Campsite, die keinen Namen hat, sich dafür aber in nahezu perfekter Lage direkt oberhalb der Murchison Falls befinden soll. Der Weg dorthin führt uns zunächst über eine rote Staubstraße, die in keinster Weise staubt, denn sie wird von dichten Baumkronen, aus denen reichlich Feuchtigkeit herabregnet, beschattet. Immer wieder passieren wir flache Pfützen, in denen sich Scharen buntester Schmetterlinge tummeln, im Geäst der Bäume haben zahlreiche Spinnen ihre riesigen Netze errichtet, Geweihfarne krallen sich an Stämme und Äste, Vogelgezwitscher übertönt sogar das Wummern unserer Diesel-Motoren, und es gäbe genügend weitere Gründe, mal anzuhalten und die Blicke schweifen zu lassen. Doch aufgrund unserer Lichtmaschinen-Panne sind wir leider in Eile, sodass wir erst, als Jochen größere Affen in den Baumkronen erspäht, einen kurzen Stopp einlegen. Nur wenige Blicke sind uns vergönnt, so wenige, dass wir lediglich erahnen können, um welche Affen es sich handelt. Schwarz-weiß, also wahrscheinlich Colobus; mehr sehen wir davon nicht. Während Annette und Jochen noch den entschwundenen Langarm-Primaten hinterherstarren, sind wir anderen jedoch schon längst wieder ausgebüxt und erfreuen uns der anderen Schönheiten des Waldes, an denen wir vorher nur bedauernd vorbeigedüst waren. Ach, diese Schmetterlinge, wie groß und bunt sie sind, und wie sie schillern! Ich kniee an einer dieser Pfützen nieder und versuche, die Flattermänner mit dem Salz meines Schweißes auf die Hand zu locken, Gabi harrt meines Erfolges, um ein paar gute Nahaufnahmen zu schießen, Erika schlendert verzückt am Straßenrand entlang und Heinz absolviert eine inbrünstige Andachtszeit bei den Geweihfarnen. Es ist so schön hier!

Der Tag aber neigt sich bereits seinem unvermeidlichen Ende zu und wir müssen unsere Campsite vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Nur zögernd verabschieden wir uns von diesem facettenreichen Wald, sind jedoch einsichtig, was die Eile anbelangt. Wieder im Auto und in Fahrt, schweifen unsere Blicke umso mehr durch die vorbeiziehende Dschungel-Landschaft, bis sie, relativ abrupt, ein Ende nimmt und in eine Art Gebüschsavanne übergeht. Hier ist Artenvielfalt nun nicht mehr so deutlich auf den ersten Blick zu sehen, weshalb wir uns nunmehr entspannt zurücklehnen und uns auf einen gemütlichen Abend auf unserer Campsite freuen, die jetzt nicht mehr fern sein kann. Ich seufze gerade wohlig und halte mein Gesicht in den samtig-warmen Fahrtwind, als ich etwas erblicke, was mir sehr bekannt vorkommt. Plötzlich nämlich befinden sich Unmengen bremsenähnlicher Insekten im Auto – Tsetses!?! Zuerst will ich es gar nicht glauben, bin auch ob der zierlichen Gestalt der Fliegenmonster am Zweifeln, ob es sich wirklich um Tsetses handelt, doch der erste Biss, direkt in die weiche Haut zwischen meinem Daumen und Zeigefinger belehrt mich eines Besseren. Es SIND Tsetses! „Nee, komm, Schneck, das sind nur Fliegen.“, beruhigt mich Heinz. „Ganz bestimmt nicht, das sind gottverdammte Tsetses!“ Zum Beweis halte ich ihm die himbeerartige Blase unter die Nase, die soeben an der ersten Bissstelle zu blühen beginnt. Heinz staunt, während mich weitere Tsetses aufs Übelste traktieren. Warum immer mich? Ich glaube, man könnte mich mit hundert anderen Menschen in einen großen Raum sperren, einen Schwarm Tsetses auf uns loslassen und die einzige, die gebissen würde, wäre ich. Na ja, vielleicht gäbe es auch noch drei oder vier andere Opfer, doch niemand würde so oft gebissen und zugleich derart heftig drauf reagieren. Beängstigend! Natürlich (meine Großmutter war hochgradige Bienenallergikerin) habe ich mich dahingehend untersuchen lassen, als dieses Reaktions-Phänomen zum ersten Mal in Erscheinung trat, anno 2006 in Tansania – vorher nämlich reagierte ich normal bis unterdurchschnittlich auf Glossina-Bisse und wurde von den Ungeheuern auch nur durchschnittlich mit durchschlagenden Besuchen bedacht. Die Untersuchungen jedoch ergaben – nichts. Keine Ketosen oder sonstige Stoffwechselerkrankungen, die durch ihre typischen Körperausdünstungen anziehend auf jedwedes Insektenwesen wirken könnten, keine als allergisch oder gar pathologisch einzustufende Reaktionen auf Insektengifte. „Sie sind dahingehend völlig unauffällig, Frau Schneider, müssen sich also keinerlei Sorgen machen. Sie haben halt, wie soll ich sagen, reaktionstechnisch gesehen, die Arschkarte gezogen, sowas kommt vor. Tut mir echt leid. Aber dagegen kann man nix machen…“, beschied mir der untersuchende Arzt vom Tropeninstitut, was mir der Kollege aus der allergologischen Fraktion, den ich daraufhin, nicht glauben wollend, besuchte, mit ähnlichen, wenn auch gewählteren Worten nochmals bestätigte.

Nun ja, damit muss ich wohl leben. Ich hatte ja auch durchaus mit Tsetses gerechnet, nur eben noch nicht zu einem so frühen Zeitpunkt – aber was soll ich dagegen tun? Fest entschlossen, mir den Urlaub durch nichts und niemanden (auch nicht durch Tsetses) verleiden zu lassen, hülle ich mich eben, die hiesigen Temperaturen völlig ausblendend, in dichte Fleecegewirke, bedecke meine nackten, in Sandalen steckenden Füße mit einer wärmenden Decke und sehne unsere Ankunft am Camp und die Dunkelheit herbei. Eine halbe Stunde und diverse Bisse später sind wir dann tatsächlich da. Doch zunächst ist keine Besserung in Sicht, denn auch das Camp wird von zahlreichen Tsetses bevölkert, die sich schon rüsselreibend auf mein Kommen gefreut haben. Fluchend werfe ich die Wolldecke von mir, klettere aus dem Auto und leiste, um mich schlagend, meinen Anteil am Camp- und Zeltaufbau – für die Schönheit der Lage dieser Site habe ich dabei erst mal keinen Blick…

Rasch ist unser Equipment ausgepackt und betriebsbereit, bei den Zelten dauert es etwas länger, bis wir in dem hügeligen Gelände endlich geeignete Stellen gefunden haben, dann aber steht alles an seinem Platz – und mir, immer noch in meiner Fleecejacke steckend, läuft das Wasser in Strömen von Gesicht und Körper. Triefend lasse ich mich in einen unserer Stühle fallen, als sich justament in diesem Augenblick, einer kleinen Hügelkuppe sei Dank, die langen Schatten des beginnenden Abends über mich und unsere Sitzgruppe legen. Keine Minute später und das Camp ist tsetsefrei! Voller Wonne schäle ich mich aus meinem Sauna-Fleece und nehme erst jetzt die Umgebung so richtig wahr. Dieser Platz liegt wirklich traumhaft! Auf einer Anhöhe thronend, blickt man direkt auf die rauschenden Fluten des Viktoria-Nils (der zum Weißen Nil gehört), kurz bevor sich der Fluss eine 43 Meter hohe Stufe in Kaskaden nach unten stürzt – die Murchison Falls – und das Ganze ist gar malerisch in das warme Licht der untergehenden Sonne getaucht. Die Fälle selbst, nur etwa einen halben Kilometer westlich von uns, kann man von hier aus zwar nicht sehen, aber das tut der Sache keinen Abbruch – vor allen Dingen jetzt, da die Tsetses verschwunden sind.

Blick von der Campsite
Der Nil in voller Pracht
Stromschnellen

Bis zum letzten Sonnenstrahl genießen wir diese Aussicht und die einlullende Geräuschkulisse, bevor wir mit der Zubereitung unseres Abendessens beginnen. Und ich endlich in Ruhe meine von den Tsetses geschlagenen Wunden lecken kann. Uih, dafür, dass ich das blutgierige Kroppzeug hier noch nicht erwartet hätte, sehe ich echt übel aus! Auf Händen, Füßen, Oberarmen und meinem Rücken prangen Bissmale, auf die mein Körper die verschiedensten Reaktionen zeigt: von der juckenden Rötung über wassergefüllte Blasen bis hin zu massiven Schwellungen ist alles vertreten. Auch Gabi hat einiges abbekommen, doch ihr Immunsystem tut die Bisse mit streuseligen, mückenstichartigen Pusteln ab, alle anderen hingegen sind nicht ein einziges Mal gebissen worden und glauben, so argwöhne ich in meinem Glossina-Elend, immer noch an die Story mit den harmlosen Fliegen… Zumindest aber wird mir deren staunendes Mitgefühl zuteil, was ich als tröstliches Gefühl mit in den Schlafsack nehme, nachdem ich den Abend am rauschenden Fluss schließlich doch noch ausgiebig zu genießen in der Lage war – wenn auch heftig kratzend…

Weitere Impressionen des Tages:

Es gibt alles: Carwash Mini
Ziegelverkauf
Kleingärtnerei
Alles aus Metall
Gartendeko
Getränkehandel
Schönheitssalon
Boutique
Boutique
Möbel
Zweiradgeschäft
Landwirtschaftlicher Transport
Dekoartikel
Kreative Übertöpfe
Bremsen-Checkup
Dichter Verkehr
In Kampala City
Taxi von Gottes Gnaden 
Autopanne
Junge mit Kuhherde
Gate des MFNP
Geweihfarn
Campsite am Nil
Angekommen!
Der Farbenhändler
Ihres Vertrauens

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Ein Kommentar

  1. Anonym
    2. März 2017
    Antworten

    Ach wie schön, das ist ja fast wie noch mal in diesen schönen und intensiven Urlaub zu fahren. Das Drama bei der Visabeschaffung hatte ich fast schon verdrängt gehabt…. Und ach, und diese schöne asphaltierte Barbara msuri zu Beginn…. lässt auch noch nicht vermuten, was da dann noch alles kommt. Lieben Dank schon mal, die Gabi

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