Erste Schritte im Kirindy Forest bei Tageslicht – und dann DAS
Pünktlich um sechs Uhr steuern Heinz und ich auf den campeigenen Parkplatz zu, wo bald darauf auch Fitah, Mamy und Christian eintrudeln. Es kann losgehen! Diesmal jedoch bleibt das Auto stehen und wir machen uns zu Fuß auf. Kaum haben wir den Parkplatz verlassen und sind auf die kleine Hauptschneise abgebogen, von der alle Wege in den Wald abzweigen, trauen wir unseren Augen nicht: da, eine Fossa! Das skurrile Tier, das aussieht wie ein schlecht gelaunter Puma auf kurzen Beinen, das bis zu 10 Kilogramm schwer und 1,50 Meter lang werden kann – hier gehen die Meinungen etwas auseinander –, zählt zu den Katzenartigen. Seine systematische Stellung war lange umstritten, da Fossas Ähnlichkeiten mit Katzen, aber auch mit Mangusten aufweisen. Neueste genetische Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die Tiere, weder Katze noch Manguste, den Madagassischen Raubtieren, den Eupleridae, zuzuordnen sind, wozu praktisch alles zählt, was mungoartig ist, unabhängig von der Größe. Fossas sind die mit Abstand größten Angehörigen dieser Gruppe und jeder Tourist, der den Kirindy besucht, hofft, eine von ihnen zu sehen. Ha, wir sehen eine! Locker-flockig trabt das katzenartige Vieh auf dem Weg dahin, schnüffelt hier, schnuppert da und hält direkt auf uns zu. Thorsten, unser Reiseveranstalter, hatte gemeint, die Chancen, im Oktober eine Fossa zu sehen, wären verschwindend gering, da sie erst im November, zur Paarungs-Saison, in Erscheinung träten. Aber wir sehen trotzdem eine! Sie ist nur noch wenige Meter entfernt, reibt sich an einem Baum, streckt sich genüsslich und dreht dann ins Gebüsch ab. Christian schnappt sich ein dürres Stöckchen und zieht es durchs Geäst. Die Fossa wird aufmerksam, biegt ihre Schnurrhaare nach vorne, macht ein katzentypisches, eckiges Spielschnäuzchen und tapst auf die sich bewegenden Zweige. Bald aber erkennt sie die Täuschung, dreht uns hochmütig den Rücken zu und schnürt auf federnden Pfoten ins dichte Gebüsch, wo wir sie rasch aus den Augen verlieren.
Wahnsinn, eine Fossa und noch dazu so nahe! Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet. Der Morning Walk hat sich so doch bereits auf den ersten Metern voll und ganz gelohnt! Fassungslos und glücklich folgen wir Christian, der sich bereits wieder in Bewegung gesetzt hat, und sehen diese Sichtung als gutes Omen für unseren Kirindy-Aufenthalt, nicht ahnend, was uns die nächsten Tage in puncto Fossa noch alles bescheren werden…
Christian checkt uns ab
Christian biegt nun nach rechts ab, auf einen schmalen Pfad, bleibt aber bald stehen und fragt, was wir denn noch gerne sehen würden, was unsere Erwartungen wären. „Wir freuen uns über alles, wir erwarten nichts, wir haben ein spezielles Interesse an Pflanzen und Vögeln, aber auch an Reptilien, Insekten, Amphibien, Säugetieren. Also an allem, was es hier gibt. Erzähl uns einfach alles, was du weißt, zeig uns Kirindy Forest. Das sind unsere Erwartungen.“ Christian nickt, wenn auch etwas ungläubig – wahrscheinlich macht unsere Begeisterung über die Fossa diese Aussage ein wenig unglaubwürdig – doch er verspricht, sich nach uns zu richten. Dennoch schränkt er ein. „Wir sind hier in der Wildnis, nicht im Zoo. Ich kann euch also nichts versprechen. Aber ihr seid lange hier und wir werden deshalb viel sehen. Und weil ihr so lange hier seid, werden wir uns auf jedem unserer vier täglichen Walks ein Thema stellen, was wir abhaken wollen. Heute Morgen schauen wir nach Vögeln.“ Sprichts und setzt seinen Weg fort. Diese Information müssen Heinz und ich erst mal verdauen. Erstens: wir sind lange hier, nämlich genau vier Tage. Wenn das lange ist, wie lange sind denn dann andere Touristen üblicherweise im Park? Zweitens: Thema Abhaken. Hier wird gar nichts abgehakt. Jeder Besuch, jeder Walk ist anders, bietet was Neues. Und wenn wir etwas schon mal gesehen haben, so ist es noch lange nicht abgehakt. Wir freuen uns wieder und wieder! Drittens: vier tägliche Walks! Das ergibt summa summarum ungefähr sechs Stunden Fußexkursion durch den Wald. Jeden Tag! Geil! Damit hatten wir ebenso wenig gerechnet wie mit einer Fossa. Kirindy, Christian, lasst uns loslegen!
Mamy lächelt väterlich über unsere Freude, Fitah hingegen scheint ob der zu Fuß zu absolvierenden Stundenanzahl etwas bange zu werden. Christian bekommt von alledem nichts mit, denn er schreitet wacker voran. Und sein Ziel für heute Morgen sind ja, wie erwähnt, Vögel. Bald präsentiert er uns den ersten. „Madagascar magpie“, sagt er. Ein kleiner, rundlicher Vogel mit schwarz-weißem Gefieder sitzt vor uns auf einem niedrigen Ast. Seine Färbung erinnert tatsächlich an eine Elster, gattungstechnisch aber ist er weit davon entfernt. „Ein Schnäpper, Flycatcher, Muscicapidae“, murmelt Heinz. Christian horcht auf, marschiert aber dennoch unbeirrt weiter. Ein paar Meter. Dann bleibt er stehen, denn er hat bemerkt, dass wir den kleinen Vogel tatsächlich eines weiteren Blickes würdigen, ja, ihn sogar fotografieren. „Sehr verbreitet hier!“, kommentiert er, gerade so, als wäre das ein Grund, sofort weiterzugehen. Wir ignorieren diese Bemerkung und folgen dem Federball, der vorsichtig, aber trotzdem recht unscheu vor uns herhüpft. Christian wartet geduldig. Dennoch merkt man ihm an, dass er gerne weitergehen würde. Wir lassen uns allerdings nicht davon stören, zumindest nicht von Christian. Plötzlich aber deutet Heinz nach oben. „Ein Rotvanga, da, kuck!“. Mein Blick folgt Heinz’ Finger, Christians ebenfalls. „Du kennst die Namen der Vögel?“, fragt er erstaunt. Heinz nickt und berichtet ihm, dass er seit 35 Jahren selbst Vögel hält und früher auch gezüchtet hat. Vögel und Pflanzen seien seine große Passion. „Dann habt ihr auch Pflanzen zuhause?“ „Ja, mehrere hundert. Unter anderem auch madagassische wie Didieras, Alluadias, Euphorbien und Pachypodien.“
Die Stimmung wandelt sich
Christian staunt Bauklötze. „Aber bei euch ist das Klima doch ganz anders, wie macht ihr das?“ „Zweimal im Jahr trage ich mehrere hundert Töpfe von drinnen nach draußen und umgekehrt. Im Winter wird es in der Wohnung dann eng, da wohnen alle Pflanzen drinnen. Im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, in der Küche, im Bad, im Keller.“ Christian, Mamy und Fitah starren uns ungläubig an und man merkt, dass sich in diesem Moment etwas verändert: wir mutieren von normalen Touristen zu ernsthaft interessierten Hobby-Spezialisten und Christians professionell-distanzierter Gesichtsausdruck wandelt sich in respektvolles Strahlen. „Das werden gute vier Tage, ich freue mich!“, sagt er. Und wir freuen uns ebenfalls, denn die Exkursion bekommt plötzlich einen ganz anderen Charakter – sie wird zu einem Waldspaziergang unter Gleichgesinnten, einem Waldspaziergang, auf dem nichts muss, aber alles kann.
Und das macht einen großen Unterschied, denn leider, so muss man sagen, stehen Nationalpark-Guides auf der ganzen Welt unter großem Druck. Ihre Touristen, die oft nur kurze Zeit im jeweiligen Schutzgebiet verweilen, haben oftmals eine extrem hohe Erwartungshaltung bezüglich der Sightings. Sie wollen möglichst alles sehen, gerne auch mit der Action einer Jagd, eines Kills, einer Paarung garniert, kleinere, angeblich unspektakuläre Tiere, Mehrfachsichtungen oder ergebnislose Pirschen langweilen sie schnell. Die Guides sind also permanent auf der Suche nach den gewünschten Highlights, um ihre Kunden zufriedenzustellen. Gelangweilte Gäste sind schwierig und unangenehm, zufriedene hingegen gut gelaunt und, auch nicht ganz unwichtig, in der Regel großzügig mit Trinkgeld.
Diesen unsinnigen Druck haben wir aber Christian nun hoffentlich genommen. Zumindest scheint er sich aufrichtig zu freuen, dass er uns seinen Kirindy Forest so zeigen kann, wie er eben ist – in allen Belangen spannend und interessant. Energiegeladen und motiviert schreitet er vor uns her und macht uns auf alles aufmerksam, was ihm erwähnenswert erscheint. Hier ein besonderer Baum, da ein Pilz, dort eine Spinne. Wir erhalten eine Einführung in die Bäume Kirindys, in die Welt der Säugetiere, der Vögel und Reptilien, und ganz nebenbei sehen wir auch noch Vasapapageien, Weißkopfvangas und eine große Gruppe von Larvensifakas. „Christian, unser Thema sind Vögel. Keine Lemuren auf diesem Walk, bitte!“ Christian grinst, führt uns weiter durch den Wald und ignoriert sogar das Piepsen seiner Uhr, sodass wir schließlich erst nach zwei Stunden statt der vorgesehenen anderthalb ins Camp zurückkehren. „Did you enjoy it? I did!“, zwinkert er uns zu. „See you again at half past ten.“
Neeeh, nicht wahr, oder? Noch eine Fossa!
Glücklich und zufrieden steuern Heinz und ich nun das kleine Restaurant an, um unser wohlverdientes Frühstück zu uns zu nehmen. Bedauerlicherweise jedoch wird es nur halb so lecker wie erhofft, denn die Kellnerin hat unsere vorbestellten Eier, auf die wir uns besonders gefreut hatten, vergessen. Und nun sind Eier aus. Okay, dann halt geschmacklosen, gummiartigen Streichkäse und seltsam hellen, kristallinen Honig auf das trockene Baguette geschmiert und runter damit. Nach diesem wenig befriedigenden, aber immerhin sättigenden Frühstück marschieren wir zu unserem Bungalow, wo wir uns aus den Trekkingschuhen schälen und uns strumpfsockig auf der Terrasse niederlassen. „Toll, oder?! Und ich meine nicht das Frühstück.“ „Ja, so hatte ich mir das vorgestellt.“ „Ich auch!“ Entspannt genießen wir die freie Zeit vor unserem Holzhäuschen, beobachten einige sich sonnende Eidechsen, die offenbar ebenfalls hier wohnen, lassen unsere Blicke schweifen und freuen uns auf die kommenden Tage. Doch nicht lange, und der relaxte Müßiggang wird plötzlich unterbrochen. Ich fläze gerade auf dem Bett und erfreue mich an einer riesigen Schabe, die an der Wand sitzt und ihren Kopf unter ein Metallscharnier steckt, um sich vor dem grellen Tageslicht zu schützen, das durch die geöffneten Fensterluken hereinströmt, als Heinz von der Terrasse aus nach mir ruft. „Schneck, komm schnell! Eine Fossa!“, flüsterschreit er. Was? Schon wieder eine Fossa? Oder habe ich mich verhört? Rasch tappere ich nach draußen, wo Heinz aufgeregt am Terrassengeländer steht. „Da drüben. Sie ist direkt vor mir vorbeigeschlendert, hat mich keines Blickes gewürdigt und sitzt jetzt neben dem Nachbarbungalow. Ist aber eine andere als heute Morgen.“
Tatsächlich! Da sitzt eine Fossa, nur wenige Meter von uns entfernt. Sie ist um einiges größer als das verspielte Tier vom Morning Walk, das Fell spielt ins Braun-Gräuliche und ihre beachtliche Ramsnase wird von einigen rosa Sprenkeln geziert. Dann steht sie auf und wir sehen – es ist ein Er. Ein paar strammer, behaarter Hoden schaukelt aufreizend hin und her, als sich die Fossa auf einen Schattenfleck zubewegt, sich genüsslich reckt und streckt und anschließend mit einem wohligen Seufzer niederplumpsen lässt. Ein paar Mal zurechtgerückt, ein bisschen gedreht, ordentlich eingerollt – und schon schläft das Raubtier ein – vor unseren Augen, keine fünf Meter von uns entfernt. Ne, oder? Doch! Wir können es kaum fassen. „Wollen wir da mal näher hingehen? Ganz vorsichtig?“ „Mhm, die Chance ist einmalig!“ Rasch ziehen wir Schuhe an und pirschen uns näher. Na ja, nicht pirschen, wir wollen das Tier ja nicht erschrecken. Deshalb reden wir beim Näherkommen beruhigend auf den Kurzbein-Puma ein und achten auch darauf, ihm genügend Fluchtwege offen zu lassen. Wir werden zur Kenntnis genommen, doch mehr als ein kurz mal geöffnetes Auge sind wir nicht wert. Schließlich ist der Fossenbock, so nennen wir ihn, kaum mehr als eineinhalb Meter von uns entfernt. Unendlich müde schnauft er schwer in den sandigen Boden, schenkt uns noch einen taxierenden Ein-Augen-Blick und versinkt dann endgültig in Morpheus’ Armen. Fasziniert stehen wir daneben und halten fast den Atem an. Das allerdings aus zweierlei Gründen: natürlich, weil es tierisch spannend und aufregend ist, ein derart seltenes Tier, mit dem wir zumal nicht im mindesten gerechnet hatten, aus dieser Nähe zu sehen, aber auch, weil der Fossenbock unglaublich müffelt. Raubtiergeruch hoch drei!
Trotzdem stehen wir lange neben dem schlafenden Kater, bewundern seine mächtigen Muskeln, studieren seine Anatomie und gruseln uns vor seinen wirklich beeindruckenden Krallen, als das Tier plötzlich mit einem Ruck seinen Kopf hebt. Hui, diese Augen! Gelbbraun mit einer sehr schmalen, senkrechten Pupille – Mangustenaugen. Und die sehen bei einem Wesen dieser Größe und Wehrhaftigkeit tatsächlich ein bisschen fies aus. Doch die Augen blicken nicht auf uns, sondern auf irgendeinen Punkt hinter dem Bungalow. Ein leises Maunzen ertönt – und es erscheint die junge Fossa von heute Morgen! Der Senior erhebt sich, maunzt kurz zurück, die beiden umrunden sich. Man sieht, dass sie sich vertraut sind, doch das Jungtier, ebenfalls ein Männchen, ist bereits zu erwachsen, um eine Schmusebeziehung zum Älteren zu pflegen. Also reicht es lediglich zu einem schnellen, gegenseitigen Kopfreiben, dann trennen sich die Wege der beiden wieder. Der Fossenbock legt sich erneut schlafen, der junge trabt locker-flockig an uns vorbei, stattet dem Hühnerstall hinter dem Restaurant einen sehnsüchtigen Besuch ab und verschwindet anschließend im Gestrüpp hinter unserer Hütte.
„Schneck, das glaubt uns keiner!“ Strahlend kauern wir neben dem Fossenbock und sehen ihm beim Schlafen zu. Das ist fantastisch! Das Beste aber ist, dass wir das ganz allein genießen dürfen. Kein Tourist weit und breit, der erregt andere herbeiholt und damit die schlafende Fossa kirre macht. Wir sind so fasziniert und versunken in unserer Fossa-Blase, dass wir beinahe unsere Verabredung zum nächsten Walk versäumen. Gerade schlüpfen wir eilig aus den Sandalen, rein in die Wanderschuhe, als Mamy und Fitah uns einsammeln wollen. Wir winken, bedeuten den beiden aber, möglichst geräuschlos näherzukommen. Fragend sehen sie uns an, nähern sich vorsichtig. Begeistert zeigen wir auf die schlafende Fossa, müssen jedoch rasch feststellen, dass die Jungs weit weniger von dem schlafenden Raubtier angetan sind, als wir. Mamy bleibt starr stehen, Fitah weicht gar ein paar Schritte zurück. „Ihr müsst vorsichtig sein! Das sind sehr bösartige Tiere. Sie gehen ohne Grund auf Menschen los und sind völlig unberechenbar!“, warnt Mamy. Klar, wir haben auch Respekt vor diesem Riesenkater, doch Mamys Reaktion scheint uns doch etwas übertrieben. „Nein, nein, wirklich. Fossas sind bösartig. Und sie riechen Blut. Sie haben schon Frauen attackiert, die, na, ihr wisst schon… Haltet euch also besser fern!“
Oje! Das Märchen vom Raubier, das menstruierende Frauen verschleppt und frisst, gibt es also auch hier. Diese Mär, dieses Vorurteil kennen wir bereits aus Afrika, wo man Löwen, Leoparden, Hyänen und auch Wildhunden ein solches Verhalten nachsagt. Alles Quatsch, es gibt keinerlei Beweise, keinerlei belegte Vorkommnisse dieser Art, doch viele Menschen glauben daran. Und das ist leider nicht gerade förderlich für ein unbehelligtes Dasein der verdächtigten Tiere. Dass Mamy und Fitah nun ebenfalls an einen derartigen Käse glauben, enttäuscht uns etwas, doch ändern werden wir es wohl nicht können. Trotz dieser neuen Erkenntnisse über die Vorstellungen und Ängste unserer beiden Begleiter müssen wir ein wenig grinsen, mit welcher Erleichterung sie, zusammen mit uns, diesen Ort des personifizierten Grauens verlassen und sich in einen neuen Walk stürzen.
Peinliche Bäume, schaufelnde Schlangen und durstige Lemuren
Christian wartet bereits und auch ihm müssen wir natürlich sofort von unserem neuen Freund erzählen. Der Guide sieht das Ganze viel gelassener und freut sich mit uns, geht aber gleich scherzhaft zur Tagesordnung über. „Das Thema dieses Walks ist…“ Er denkt kurz nach. „… alles. Lasst uns gehen!“ Bald darauf entern wir den Wald an der selben Stelle wie heute Morgen, halten uns dann aber mehr rechts. „Jetzt werde ich euer Pflanzenwissen testen. Sagt mir, ob dieser Baobab ein männlicher oder ein weiblicher ist.“ Wir nähern uns einem Exemplar der Spezies Rubrostipa, das direkt neben dem Weg steht. Hä, weiß Christian denn nicht, dass Baobabs einhäusig sind, also beide Geschlechter in einer Pflanze vereinen? Doch warum grinst er so schelmisch? Da steckt doch was anderes hinter seiner Frage. Neugierig beäugen wir den Baum, können jedoch nichts entdecken. Erst als wir ihn umrunden, sehen wir, was er meint. In Oberkörperhöhe hat der Baobab einen Auswuchs, der frappierende Ähnlichkeit mit einem erigierten Penis nebst der dazugehörigen Hoden aufweist. Das gute Stück wurde schon von so vielen Touristen befummelt, dass es zudem noch in rötlichem Schimmer erglänzt – fast wie im richtigen Leben. Und die Redewendung „sich einen polieren“ erhält neue Sinnhaftigkeit… Christian und Mamy lachen sich scheckig, Fitah hingegen scheint etwas peinlich berührt und ist froh, als wir uns endlich von dem frivolen Gewächs trennen und tiefer in den Wald vordringen und dabei weitere, weniger verfänglich gewachsene Bäume kennenlernen.
Den Taschentuchbaum, erkennbar an seinen übergroßen Blättern, die im Verrottungsprozess weiß werden und wie weggeworfene Tempos auf den Waldboden liegen, den Military Tree mit seiner Rinde in Camouflage-Optik, den Zigarettenpapier-Baum, dessen Rinde sich in großen, pergamentenen Stücken vom Stamm ablöst. Christian kennt sich hervorragend aus, doch, das stellen wir bald fest, seine Kenntnisse sind wenig wissenschaftlich. „Ist der Zigarettenpapier-Baum eine Commiphora?“ „Commiphora, ja, ja..“ „Welche Spezies?“ „Nein, nicht Commiphora, Adansonoid Tree.“ Das Glück dieser Welt hängt nun beileibe nicht von wissenschaftlichen Speziesbezeichnungen ab, aber sie erleichtern eine eindeutige Zuordnung ungemein. Doch Christian, der wirklich ein Kenner seines Fachgebietes ist, hat das selbe Problem wie so viele andere seiner Zunft. Literatur über derartige Spezialthemen ist rar gesät und schwer erhältlich, erst recht, wenn man weder die Möglichkeit hat, alle Angebote des Internets auszuschöpfen, noch die finanziellen Mittel dazu zur Verfügung stehen. Aber man merkt ganz deutlich, dass Christian gerne ein wissenschaftlicheres Know How erwerben möchte, zumal er eine große Verantwortung auf sich genommen hat: er ist Chefausbilder im Kirindy Forest. Zuständig für die Schulung aller neuen Guides, ist es seine Aufgabe, ein komplexes Wissen über Flora und Fauna weiterzugeben, das Verständnis für die Zusammenhänge in der Natur zu fördern und Freude an diesem Beruf zu vermitteln. Dazu ist er sicher in der Lage und für den durchschnittlichen Touristen mag das Ergebnis auch genügen, doch es kommen zunehmend spezialisierte Reisende, die sich in ihrem Fachgebiet besser auskennen als der Guide. Und hier beginnt das Problem. Der Guide, der Flora und Fauna des entsprechenden Gebiets aus dem Effeff kennt, jedoch nicht wissenschaftlich benennen kann, wird dann gerne mal zum „Einheimischen mit traditionellem Wissen“ degradiert, obwohl er viel mehr zu sagen hätte – halt nur nicht auf lateinisch oder griechisch.
Heinz und ich ertappen uns übrigens auch dabei, dass uns Christians Informationen zu unpräzise sind, doch wir haben ja alle Möglichkeiten, um eine Präzisierung weiter zu verfolgen, wenn es uns denn wirklich so wichtig ist. Vorerst ist es also egal, ob der Zigarettenpapier-Baum nun eine Commiphora ist oder nicht. Er ist schön und mit so einzigartigen Merkmalen ausgestattet, dass sich nach dem Urlaub sicher Näheres herausfinden lässt. Außerdem gibt es so viel anderes zu sehen, dass die Theorie jetzt erst mal Pause hat.
Hah, da liegt zum Beispiel plötzlich eine hübsche Schlange vor uns auf dem Weg. Nein, sie liegt nicht nur da, sondern schaufelt mit ihrem Kopf in einer flachen Erdkuhle herum. Es ist eine Madagaskar-Hakennasennatter – Madagaskars häufigste Schlange. Sie ist wunderschön gemustert und ein eher kleineres Exemplar, das da auf dem Boden nach Beute sucht. Vorsichtig gehe ich auf die Knie, um sie besser fotografieren zu können. Christian sieht mir völlig entspannt dabei zu, Fitah jedoch zieht vor Schreck scharf die Luft ein. Und wieder erleben wir unseren jungen Guide, wie er Angst vor einem Lebewesen zeigt, die einfach nicht berechtigt ist. Die Natter kann zwar beißen, was sicher nicht angenehm, aber auch nicht gefährlich ist. Dennoch wird sie von vielen Einheimischen als Giftschlange eingestuft, entsprechend verabscheut und häufig auch getötet. Dass die Durchschnittsbevölkerung so denkt, ist bitter, noch bitterer aber ist, dass selbst ein Guide, auch wenn er noch jung und unerfahren ist, ins selbe Horn stößt und nicht nur Respekt, sondern Angst empfindet. Ach Fitah, du musst echt noch viel lernen!
Wir verlassen die Schlange und hoffen, dass das, was Christian Fitah in den nächsten Minuten erzählt – und offenbar die Natter betrifft – etwas zur positiven Naturbildung unseres Youngsters beiträgt. Doch plötzlich verstummt Christian. Da vorne! Eine ganze Horde von Schmalstreifenmungos, Verwandte der Fossa, wuseln vor uns durchs Gebüsch. Eifrig wird gegraben, mit Schnauze und Pfoten, leise Fiepgeräusche dienen der Kommunikation oder werden schlichtweg vor Erregung während der Jagd ausgestoßen. Ein Tier ist erfolgreich und verzehrt laut knuspernd und schmatzend einen besonders dicken, leckeren Käfer. Fitah reagiert auf diese Sichtung übrigens sichtbar entspannter und erfreut sich, wie auch wir, an dem possierlichen Verhalten der Mungos, die wir eine ganze Weile beobachten können, bevor sie geschäftig fiepend im Gestrüpp verschwinden.
Piep, piep, piep. Ach ne, das ist Christians Uhr, die da Laut gibt. Schon wieder sind wir also eine Stunde unterwegs gewesen und sollten wohl allmählich umkehren. Die Zeit verfliegt hier draußen im Nu, viel zu schnell, erst recht, da wir heute die einzigen Touristen im Wald zu sein scheinen. Langsam wenden wir uns also wieder Richtung Camp – eine Tatsache, die ich allerdings nur aufgrund des Sonnenstands erahnen kann. Und der Planet brennt mittlerweile mit aller Macht vom Himmel. Wir schwitzen heftig, doch es gibt auch Lebewesen, die die Hitze genießen. Zum Beispiel die zahlreichen Leguane, die auf der sonnenzugewandten Seite vieler Bäume ein Wärmebad nehmen. Leguane in Madagaskar? Schon wieder so ein Wunder dieser Insel! Leguane sind Bewohner des amerikanischen Kontinents, der Neuen Welt, nur Madagaskar und die Komoren, Inseln der sogenannten Alten Welt, weisen ebenfalls Leguanbestände auf. Wie sind die da hingekommen? Relikte einer Population, die nach dem Auseinanderbrechen des Urkontinents überlebt haben? Aber eben nur hier und nicht auf dem afrikanischen Festland. Faszinierend! Und nicht mal die Wissenschaft hat eine verbindliche Antwort auf diese Frage, was deutlich zeigt, dass vieles noch immer rätselhaft und unergründlich ist, was die Erdgeschichte betrifft – und vielleicht auch nie eine Antwort erfahren wird.
Wir sind noch ganz in den Anblick eines heftig nickenden Leguans versunken, als sich Christian zu Wort meldet. „Habt ihr Wasser dabei?“ „Klar! Hast du Durst?“ „Nein, aber die da vielleicht.“ Er zeigt auf einen Trupp Brauner Makis, die ein paar Meter entfernt unter den Bäumen sitzen und auf den harten Kernen fleischarmer Camelienfrüchte herumkauen. „Wir sind am Ende der Trockenzeit angelangt. Da finden auch Lemuren nur schwer genügend Flüssigkeit und sind deshalb manchmal recht zutraulich, wenn man ihnen Wasser anbietet.“ Er drückt mir das leere Gehäuse einer Achatschnecke in die Hand. „Füll Wasser rein, halte es ihnen hin und warte ab. Traust du dich das?“ Klar!
Rasch fülle ich Wasser in das Schneckenhaus, knie nieder und biete es den Makis an. Fitah zieht mal wieder scharf die Luft ein, als ein paar der Lemuren auf mein Angebot aufmerksam werden und näherkommen. Ein besonders mutiges Tier wagt es schließlich. Es schnuppert kurz an der Schale, nimmt dann beherzt meine Finger in die Hände und führt die Wasserquelle zum Maul. Nachdem der Maki ausgiebig getrunken hat, kommen weitere herbei und bedienen sich ebenfalls. Ich bin hingerissen! Diese Fingerchen, die sich wie aus Gummi gegossen anfühlen, die sich fest um die meinigen geschlossen haben, das Vertrauen der Tiere, sich mir auf diese kurze Distanz zu nähern und mich dabei auch noch zu berühren! Egal, ob sie an Leute gewöhnt sind – was sicher eine Rolle spielt – egal! Sie haben mich berührt, physisch und damit auch mental und ich bin zutiefst entzückt. „Das hätte ich mich nicht getraut. Braune Makis sind aggressiv!“, sagt Fitah. Christian verdreht die Augen. „Braune Makis sind tatsächlich weniger friedfertig als andere Lemuren, aber sie sind nicht aggressiv. Ich hätte dich das nie machen lassen, wenn es gefährlich wäre.“ „Fitah, magst du nicht auch mal?“, frage ich und drücke ihm das Schneckenhaus in die Hand. Entsetzt weist er das Gehäuse zurück. „Nein, die beißen!“
Ach, Fitah, du musst wirklich noch viel lernen. Du lebst auf einer Insel mit einzigartiger Tierwelt, du willst ein guter Naturguide werden, aber du bist nicht eins mit der Natur, du fühlst dich nicht wohl mit ihr, in ihr, du hast viel zu viele Ängste. Es ist nicht nötig, einen Lemuren mit Körperkontakt zu tränken, das ist eher unprofessionell (ich geb’s ja zu), aber du musst dich mal mit deinen tradierten Ängsten beschäftigen und versuchen, sie abzulegen. Nicht alles ist fies, gefährlich, aggressiv, giftig, angriffslustig oder was auch sonst. Gut, Natur hat „Nachteile“, das ist nicht zu leugnen: sie bietet kein Handynetz, es kommt kein Strom aus dem Astloch im Baum, man kann nicht immer und überall schlafen und man muss sich etwas damit beschäftigen, um die kleineren und größeren Zusammenhänge zu erkennen, zu begreifen, um sie anderen näherbringen zu können.
Davon jedoch scheint Fitah meilenweit entfernt zu sein. Mamy hingegen, der auch nicht der eingefleischte Naturbursche vor dem Herrn ist, genießt unsere Walks mit einer Aufmerksamkeit, die uns deutlich zeigt, dass er gerne dazulernt. Und sei es nur, um künftigen Gästen mehr erzählen zu können. Bravo, Mamy, das ist toll! Und wir haben ja noch zahlreiche Walks vor uns…
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