Die Sonne geht auf und ein vorsichtiger Blick aus der Zelteingangs-Gaze bestätigt, dass der Insektenspuk wie erwartet vorüber ist. Heinz und ich klettern aus unserem Zelt und lassen die Blicke über die weite Chobe-Ebene schweifen, die zu anderen Jahreszeiten komplett von Wasser bedeckt ist. „Du, schau mal da hinten“, meint Heinz, in Richtung Osten deutend, „das sieht fast aus, als wären es Wildhunde!“ Angestrengt starre ich auf die sich bewegenden Punkte in weiter Ferne, richtig erkennen kann ich es nicht, aber die Größe, Farbe und das Bewegungsmuster könnten passen. Jochen hat die Tiere auch schon erspäht und nimmt ein Fernglas zu Hilfe. Jawoll, es sind Wildhunde! Er spurtet zum Auto, sammelt diejenigen unserer Gruppe ein, die mitkommen wollen und düst los. Sven baut schnell sein Spektiv auf und so kommen wir Hiergebliebenen in den Genuß einer fast hautnahen Show. Die Hunde haben in der Nacht fette Beute gemacht, von der allerdings jetzt nicht mehr viel übrig ist. An den schlacksigen Resten zerren sie nun spielerisch herum, balgen und jagen sich in kurzen, übermütigen Sprints über die Ebene. Doch bald sind sie des Morgenspiels überdrüssig und verdünnisieren sich zum Verdauungsnickerchen Richtung Namibia. Während Sven das Spektiv wieder einpackt, kommt der Ranger von gestern Abend des Weges gefahren und erkundigt sich nach unserem Befinden. Er stellt ganz normale, höfliche Fragen; ob wir denn gut geschlafen hätten, ob alles in Ordnung sei und ob es irgendwelche Vorkommnisse gegeben hätte. Ich kann mich trotz der Normalität seiner Fragen nicht des Eindrucks erwehren, dass sich eine gewisse lauernde Besorgnis, eine geheuchelte Unschuld hinter seinen Erkundigungen verbirgt; das Schlitzohr weiß sehr genau, wo er uns da einquartiert hat. Alles sei in bester Ordnung, wir hätten gerade Wildhunde gesehen und gestern Abend ganz viele interessante Insekten, berichte ich ihm. Wir müssten allerdings beim Frühstück noch besprechen, ob wir auch die zweite Nacht hierblieben oder doch umziehen wollten; wir kämen dann später zum Office und würden Bescheid geben. Ich weiß nicht, ob er befürchtet hatte, hysterische Touristen am Rande ihrer nervlichen Belastungsgrenze anzutreffen, aber er scheint ein bisschen überrascht ob meiner positiven Schilderung und setzt sichtlich beruhigt seine Fahrt fort.
Wir gehen den Weg zum Kochplatz der Site 1 nach oben und fangen schon mal an, den Tisch für’s Frühstück zu herzurichten. Ach ja, da ist ja noch unsere Zikade! Vorsichtig lupfe ich das Weinglas und betrachte das bewegungslose, ziemlich benommene Insekt. Es ist wirklich eine Schönheit mit seinen großen Facettenaugen, den drei rötlichen Punktaugen auf der Stirn, den transparenten Flügeln, schwarz geädert, die weit über den properen Körper hinausragen. Ganz aber traue ich dem Paralyse-Frieden nicht und beeile mich mit meiner Fotosession. Auch die anderen machen rasch noch Fotos, dann packt Heinz die Zikade vorsichtig am Brustpanzer, um sie in einen nahen Busch zu setzen. Doch kaum hat er sie berührt, fängt sie lebhaft zu schnarren an; Heinz gibt ihr Starthilfe mit einem leichten Schwung der Hand und schon knattert das hübsche Monster von dannen. Von wegen reglos, denke ich mir und bin heilfroh, dass das Rieseninsekt nicht früher zum Leben erwacht ist!
Wir nehmen allesamt, auch unsere Hundejäger sind mittlerweile wieder zurück, am insektenfreien Tisch Platz und widmen uns einem ausgiebigem Frühstück. Mit frischem Toast und Rührei zwischen den Zähnen erörtern wir die Umzugsfrage, doch die Sache ist schnell geklärt: keiner hat Lust auf eine Lagerverlegung und das damit verbundene Gepacke, so also beschließen wir, uns erneut der abendlichen Invasion zu stellen. Ohne weiteres Herumgeräume können wir nach dem Abwasch auf Gamedrive gehen, immer am Chobeufer entlang, Richtung Osten. Die Lichtsituation an der Riverfront ist, wie immer, schwierig, was einfach daran liegt, dass die Sonne ihren täglichen Bogen parallel zum Ufer schlägt. War man über Nacht im Park, führt der Weg hinaus meist nach Osten, Richtung Kasane oder Kazungula, kommt man des Nachmittags im Park an, dann meist aus Kasane und man fährt westwärts, gegen die Sonne.
Wir fahren jetzt ostwärts, Richtung Serondela, immer dem strahlenden Planeten entgegen. Aber auch, wenn das eine oder andere Foto aufgrund dessen nicht so gut gelingt, finde ich das persönlich nicht so schlimm, schließlich habe ich Augen zum Sehen und ein Gehirn zum Speichern der Bilder. Und zu sehen gibt es hier verdammt viel! Nilwarane, Krokodile, Kudus, Impalas, Seeadler, Scharlachspinte, Elefanten, Büffel. Die meisten Tiere sind zum Greifen nahe, so wie das grasende Warzenschwein, der wiederkäuende Büffel mit den Grasresten im Mundwinkel, der Elefant, der mir sein Auge direkt in die Linse hält. Herrlich! Mehr noch begeistert mich aber, dass wir heuer aufgrund des extrem niedrigen Chobestandes Seitenwege befahren können, die in den vergangenen Jahren schlicht und einfach von Wasser bedeckt waren. So umkurven wir zum Beispiel eine in sandige Hügel gebettete Lagune, die von Kudus und Impalas umzingelt ist – die Umgebung hier erinnert an eine Mischung aus Golfplatz und Nordseedünen, wenn man sich die Antilopen wegdenkt. Das kabbelige Wasser der Lagune enthüllt für Sekunden etwas Dunkles, Nassglänzendes. Hoppla, was war das? Ein Otter vielleicht? Wir halten an und legen uns auf die Lauer. Immer wieder zeigt sich das glänzende Objekt, das sich aber nicht von der Stelle bewegt. Als wir näher heran schleichen und erkennen, dass unser vermeintlicher Otter ein flappendes Seerosenblatt ist, müssen wir herzlich lachen.
Auf der Weiterfahrt sichten wir einen toten Jungbüffel, der seinem Odem vor noch nicht allzu langer Zeit ausgehaucht hat. Gut abgenagt liegt der Kadaver in der glühenden Sonne und starrt uns aus leeren Augenhöhlen an. Zu gut abgenagt, als dass sich noch Raubtiere in der Nähe befänden… Bei der Gelegenheit stellen wir fest, dass wir noch keinen einzigen Löwen zu Gesicht bekommen haben, dafür aber an Wildhund-Überschuss leiden. Das ist mir auch noch nie passiert! Äußerst abwechslungsreich geht es so dahin, bis wir schließlich gegen Mittag die Picknicksite in Serondela erreichen. Wir packen ein wenig Lunch-Zubehör aus, doch der Mittagssnack wird schnell zur Nebensache. Erstens weht ein derart heftiger Wind, dass sogar volle Thermoskannen umzufallen drohen und zweitens marschiert gerade eine riesige Elefantenherde auf den zu Füßen des Picknickplatzes vorbeigluckernden Restchobe zu. Sechzig, siebzig, neunzig Tiere oder gar mehr? Wie eine graue Flut wogen sie auf’s Wasser zu, stürzen sich trinkend, badend und prustend ins kühle Nass. Ohren flappen, Rüssel tasten, saugen, spritzen, man sieht runzelige Haut in verschiedenen Grautönen, wohliges Augenrollen, peitschende Quastenschwänze. Fast möchte ich mich dazugesellen, besonders zu den Kälbern, die unter den wachsamen Augen ihrer Mütter und Tanten so ausgelassen toben. Das ganze ist ein gewaltiges, beeindruckendes, extrem fesselndes Schauspiel, das sich aber sehr plötzlich auflöst. Vor irgendetwas, einer Bewegung, einem Geräusch, einer Bedrohung, die wir nicht wahrnehmen, erschrecken die Elefanten und in einer unbeschreiblichen Stampede flüchten sie panisch aus dem Wasser. In gebührlicher Entfernung des Flusslaufs halten sie ebenso plötzlich wieder an. Ach, jetzt sehen wir es auch: aus dem Ufergebüsch nähert sich eine weitere Herde, wesentlich kleiner zwar, aber wohl mit den größeren Rechten. Es sind vielleicht vierzig Tiere, die nun ihren Platz im Wasser einnehmen und voller Wonne in die Fluten eintauchen. Nach ausgiebigen Planschereien und üppigen Trinkgelagen steigen sie zum Staubbad wieder an Land. Rote Fontänen trockener Erde wirbeln auf nasse Haut, unzählige Elefanten stehen, gehen, tun vor unseren Augen, dazwischen, wie neugierige Zuschauer, dekorieren Impalas, Kudus und Warzenschweine die Ebene. „Weißt Schneck“, sagt Heinz und legt seinen Kopf auf meine Schulter, „so hab’ ich mir das immer vorgestellt. Wie man’s halt im Film sieht.“ Ich bin glücklich über das Erlebte, noch mehr aber darüber, dass die Natur, Afrika, meinem Süßen einen Teil seiner Erwartungen dergestalt erfüllt hat.
Wir verabschieden uns von der schon fast überbevölkerten Ebene; Annette, Jochen und Tommi fahren mit dem grünen Landy weiter nach Kazungula, um noch ein wenig Bürokratiekram zu regeln. Wir, die restlichen Fünf der Gruppe, quetschen uns in das andere Auto und treten den Rückweg ins Camp an. Doch wir kommen nur sehr langsam voran – überall stehen Elefanten auf dem Weg und lassen sich von unserem tuckernden Motor in keinster Weise beschleunigen. Es ist schon ein tolles Gefühl, hier mitten unter den Dickhäutern zu stehen und es zudem nicht eilig zu haben!
Nach drei kurzweiligen Stunden kommen wir in Ihaha an und eine böse Überraschung erwartet uns dort. Alle Zelte, bis auf Heinz’ und meines, liegen flach am Boden, die Planen bauschen sich im heftigen Wind. Aha, diesmal waren also nicht Paviane die Übeltäter, sondern die starken, von der Nachmittagsthermik verursachten Böen! Bei der steifen Brise macht ein Wiederaufbau keinen Sinn, also beschweren wir die traurigen Haufen lediglich mit Steinen, um weiteren Schaden zu verhindern und widmen uns angenehmeren Dingen. Etwas Kühles trinken, zum Beispiel, Wäsche waschen, in Ruhe duschen, Tagebuch nachtragen, Daten sichten, Gepräche führen oder einfach nur mal abhängen. So ein gemächlicher Nachmittag ohne dauernden Wildlife-Input tut auch mal ganz gut, vergeht aber viel zu schnell. Gegen 17 Uhr kommen die anderen aus Kazungula zurück, wo sie endlich die fällige Roadtax bezahlen konnten, die man gestern an der Grenze nicht entgegennehmen wollte. Ein lästiger Umweg für alle, die über Ngoma Bridge einreisen – ob es sich bei dieser Regelung um eine dauerhafte oder nur vorübergehende handelt, konnte man uns übrigens nicht sagen.
Über unseren gegenseitigen Erlebnisberichten ist mittlerweile die Sonne tiefer gesunken, die Thermikwinde lassen nach und wir können an den Wiederaufbau unserer Zelte gehen. Alle haben es schadlos überstanden, nur an Tommis Zelt ist ein Gestänge gebrochen, aber auch das läßt sich mit simplen Mitteln ziemlich zufriedenstellend reparieren. Und dann wird es Zeit für den Evening Drive, der uns, wie sollte es anders sein, Richtung Westen, der untergehenden Sonne entgegen führt. Wir fahren an der Uferkante entlang, wo wir bald auf eine Büffelherde stoßen, die in malerischem, aber natürlich schwierigem Licht den rinnsaligen Chobe durchquert, hinüber nach Namibia. Eines der Tiere liegt ein wenig abseits der Herde im Schlamm und zunächst wundern wir uns etwas über dieses Verhalten. Alle ziehen, nur einer suhlt sich noch gemütlich? Das wäre in der Tat ungewöhnlich, aber schnell erkennen wir, dass der einzelne Büffel seiner Herde gar nicht folgen kann, selbst wenn er wollte – er steckt im Schlamm fest. Seine Lage ist ziemlich hoffnungslos und er scheint zudem recht entkräftet. Ab und zu hebt er mühevoll den schlammverkrusteten Kopf und versucht ihn Richtung Herde zu wenden, was ihm aber nicht mehr gelingt. Seine Kumpels nehmen nicht die geringste Notiz von der Misere ihres Artgenossen, lassen sich auch von seinem leisen Schnauben und Muhen nicht beeindrucken, sondern durchqueren einer hinter dem anderen den schmalen Flussarm. Der Büffel dauert uns unendlich, aber es ist, wie es ist – der Gang der Natur. Mit ein wenig schlechtem Gewissen hoffen wir sogar, morgen Früh hier vielleicht Geier, Hyänen oder Löwen vorzufinden – pfui!
Mit derartigen Hoffnungen im Hinterkopf beobachten wir noch einen ungewöhnlich flauen Sonnenuntergang, bevor wir in der beginnenden Dunkelheit in unser Insektenparadies zurückkehren. Ja, sie sind alle wieder da, unsere Chitin-Freunde, aber diesmal sind wir schlauer und vermeiden es tunlichst, Licht anzumachen. So läßt es sich einigermaßen aushalten, die Schnibbelarbeiten funktionieren auch im Dunklen, aber als es an das Stecken unserer Grillspießchen geht, lassen wir doch unsere Stirnlampen leuchten – abwechselnd, im Minutentakt. Denn derjenige mit der angeschalteten Lampe auf dem Kopf hat nicht nur Erhellungsfunktion, sondern leider auch die Arschlochkarte: wie vom Magneten gezogen landen unsägliche Mengen von Insekten in des jeweiligen Lichtträgers Gesicht. Tapfer vollenden wir unser Werk und schließlich brutzeln die Spießchen appetitlich duftend auf dem Grillrost – bereichert durch allerlei zusätzliches Protein – und bescheren uns bald ein genussvolles Abendessen. Auf ein anschließendes Betthupferl-Bier verzichten wir heute allerdings und ziehen uns allesamt recht früh in unsere Zelte zurück, denn das ist der einzige Ort, an dem das Dauergekrabbel zuverlässig ein Ende hat. Sofern man sich vorher sorgfältig ausschüttelt…
Heinz hat heute Abend nicht ein einziges Mal „Ah, leck!“ gesagt und ich hoffe, dass er das in diesem Urlaub auch nie mehr sagen muss. Eine vage Hoffnung, denn bevor wir in die eher trockene Zentralkalahari kommen, haben wir noch ein paar deutlich feuchtere Gebiete hinter uns zu bringen, in denen der an die einsetzende Regenzeit gebundene Insektenreichtum durchaus eine Rolle spielen könnte. Wir werden sehen.
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