Pünktlich um acht Uhr sind wir startbereit, Heinz schleppt seine Tasche selbst zum Auto, die meine nimmt mir Mamy ab. „Guten Morgen. Gut geschlafen? Und konntet ihr das Unterkunftsproblem im Kirindy klären?“ „Nein, noch nicht, aber das kriegen wir schon. Jetzt bringe ich euch erst mal zum Frühstücken.“ „Du kommst nicht mit?“ „Nein, ich muss noch das Auto waschen lassen und tanken.“ Das Auto waschen lassen, oho! Wir staunen. Schließlich waren wir gestern nur auf Teer unterwegs und der Wagen blitzt wie neu – bis auf ein paar kleine Schlammspritzerchen im unteren Türbereich. Aber gut, das wird wohl Anordnung des Veranstalters sein. Kichernd erzählen wir Mamy und Fitah von unseren sonstigen Touren und davon, wie die Autos dort in der Regel aussehen. Mamy schnalzt ungläubig mit der Zunge und setzt uns kopfschüttelnd vor einem Bäckereicafé, ein paar Seitenstraßen von unserem Hotel entfernt, ab, bevor er mit unserer glänzenden Blechkiste Richtung Tankstelle entschwindet. Wir drei gehen in den Laden, ordern etwas aus der reichhaltig bestückten Gebäcktheke nebst einem Heißgetränk, bezahlen an einer Kasse im hinteren Ladenbereich und klettern dann über eine steile Treppe auf eine Terrasse im ersten Stock, wo uns wenig später das Bestellte serviert wird.
Schweigsam lutscht Fitah an seinem Croissant und spült mit warmer Milch nach. Auch wir knabbern, trinken Tee und bemühen uns erst gar nicht um ein Gespräch, denn man muss ja nicht schon am frühen Morgen dauernd quasseln. In aller Ruhe das Frühstück genießen, das tut gut! Den Rest des Frühstücks verbringen wir also wohlig schweigend und klettern die Treppe erst runter, als Mamy wieder auftaucht. Das Auto glänzt, Mamy wienert an den Scheiben herum und versichert uns glaubhaft, dass auch er zwischendrin was gefrühstückt hätte. Super, dann können wir ja los!
Wir starten Richtung Morondava
Mit vollen Bäuchen klettern wir in unsere diamantblitzende Karosse und verlassen die Stadt Richtung Morondava, das fast 300 Kilometer südwestlich von uns liegt. Die Strecke ist mehr doppelt so weit wie die gestrige, hat jedoch optisch eher weniger zu bieten. Gut, das Licht ist erneut relativ diesig, und es geht ziemlich lange über relativ flaches Land, das wenig Kontraste offeriert. Was allerdings gerade dadurch überdeutlich wird, ist ein Problem, das in Madagaskar allgegenwärtig ist, über das wir natürlich im Vorfeld auch schon Bescheid wussten, das wir aber nun mit eigenen Augen sehen können: das Land ist abgeholzt. Wohin das Auge auch blickt, man sieht nur kahle Flächen. Ganze Landstriche, die wie Mondlandschaften wirken, nackt und aufs Heftigste erodiert, Erde, die vom Wind verblasen und vom Wasser fortgeschwemmt wurde; Kräfte, die tiefe Wunden in jeden auch noch so kleinen Hügel geschlagen haben. Ein Trauerspiel! Und je weiter wir nach Westen kommen, desto offensichtlicher wird das Problem, denn wir überqueren einen Höhenzug. Hier sind die Hügelflanken steiler, die kleinen Gipfel fangen Niederschlagswolken ab und alles, was von den einst grünen, bewaldeten Erhebungen übrig geblieben ist, sind nackte, zerfurchte Hänge, in deren untersten Bereichen sich noch vereinzelt unzugängliche Mini-Schluchten zeigen, in denen der Urbestand des einstigen Bewuchses noch erkennbar ist. Was für ein deprimierender Anblick!
Dabolava – ein Goldwäscher-Örtchen
Was allerdings auch immer deutlicher wird, ist die Tatsache, dass wir in klimatisch heißere Regionen vorstoßen. Als wir in Antsirabe losgefahren sind, hatten wir noch leicht fröstelnd unsere Fleecejacken übergeworfen, jetzt jedoch, da wir rund ein Viertel unserer heutigen Tagesstrecke hinter uns haben, wird es zunehmend wärmer. Ach, was sag ich; es ist, als hätte jemand den Backofen angeschaltet. Rund 40 Kilometer vor Miandrivazo – hier werden wir Lunch haben, so wurde uns angekündigt – überqueren wir eine kleine Brücke und halten dort an. Der noch kühlende Fahrtwind versiegt, uns bricht der Schweiß aus. Doch kein Vergleich zu den Leuten, die Mamy und Fitah uns hier zeigen wollen. Wir befinden uns in Dabolava, einem kleinen Kaff am gleichnamigen Fluss, wo Gold gewaschen wird. Und zwar direkt unter uns, unter der Brücke, im Fluss. Unzählige Leute sind dort zugange. Einige schleppen Schotter aus dem Bett des Flusses herbei, schütten es den anderen vor die Füße. Das Gestein wird dann mit metallummantelten Holzstößeln in über Generationen hinweg geschaffenen Löchern im Ufergestein des Flusses kleingemörsert, die Felsbröcklein von weiteren Menschen in wokähnlichen Pfannen nach Gold durchwaschen. Schwitzende Körper mühen sich mit dem edelmetallhaltigen Gestein ab, schweißglänzende Gesichter blicken kurz zu uns empor, um sich gleich darauf wieder ihrer Arbeit zuzuwenden.
Auf der Brücke, neben uns, um uns herum, sammeln sich größere und kleinere Kinder, die daran gewöhnt sind, ebenso wie ihre schuftenden Eltern und Geschwister unten am Fluss, dass hier alle durchkommenden Touristen anhalten. Heinz und ich sind schnell umringt von einer Menge neugieriger Kinder. Doch kein einziges bettelt, kein einziges will Geld oder Bonbons von uns haben. Sie wollen Kontakt, sie wollen fotografiert werden, sie sind schüchtern, aber dennoch bestimmt in dem, was sie sich von unserem Besuch erhoffen. Nein, wir sollen nichts kaufen, wir sollen nichts geben, wir sollen nur, wenn wir schon da sind, Notiz von ihnen nehmen, sie an den Fotos, die wir machen, teilhaben lassen und uns mit ihnen unterhalten. Nun sprechen wir kein Wort Malagasy, die Kinder kein Wort Französisch oder Englisch, weswegen wir unsere Hände, Füße und Mimik bemühen, genau wie unsere Gesprächspartner. Ein junges, sehr hübsches Mädchen steht vor mir, einen kleinen Jungen auf dem Arm, der mich verunsichert-gebannt anstarrt. Rotz läuft ihm aus der Nase, doch vor lauter Spannung vergisst er, ihn aufzuziehen. Ich blödle ihn an, kneife ihn in seine Pausbäckchen, ein Lächeln entlocke ich ihm aber erst, als er seine Schwester und sich selbst auf dem Display meiner Kamera erblickt. Erfreut quietschend tappt er mit seinen verschmierten Fingerchen auf dem Bildschirm umher und strahlt mich an. Seine Schwester strahlt mit ihm um die Wette, es spricht sich herum und die Kinder drängen sich immer dichter um uns.
Heinz greift zu einem pädagogischen Ausweichprogramm: er lotst die Kleinen zu unserem Auto, wo auf der Heckscheibe ein Aufkleber prangt, der allerlei Sehenswürdigkeiten Madagaskars zeigt. Im Nu hat Heinz eine kleine Schule geschaffen. „Was ist das?“ „Tanala, tanala!“ Mamy fungiert als Übersetzer und nickt. Die Kinder sind begeistert und wir können erst weiter, als wir die Bilder des Autoaufklebers mehrfach durchexerziert haben – und Mamy die Kleinen scherzhaft getadelt hat, weil sie Fingerabdrücke auf unseren Autofenstern hinterlassen haben. Entzückt beobachten sie ihn, wie er die Schmierflecken mit einem Tuch wegpoliert, ihnen mit selbigem zum Abschied winkt und uns weiterchauffiert.
Eine etwas seltsame Mittagspause in Miandrivazo
Bald darauf erreichen wir das nahegelegene Miandrivazo, das Örtchen, in dem wir Lunch haben werden. Mamy rangiert das Auto vor dem Restaurant ein und wir entern den Fresstempel. Wir alle, bis auf Mamy. Bevor wir uns versehen, ist er verschwunden. Verwirrt klettern wir mal wieder unbotmäßig steile Stufen nach oben, platzieren uns an einem freien Tisch, durchforsten die Karte, ordern und löchern dann Fitah. „Warum isst Mamy nicht mit uns?“ Fitah hebt zu einer längeren Erklärung an, deren Quintessenz ungefähr so lautet: Er, Fitah, sei der Guide und somit ranghöher als Mamy, der als Fahrer tätig sei. Und da wir stets in hochpreisigen Touristenrestaurants speisen würden, stünde das kostentechnisch nur dem Guide zu. Der Fahrer hingegen müsse sich mit preisgünstigeren Einheimischenlokalen begnügen. Wir sind, gelinde gesagt, irritiert und uns nicht ganz sicher, ob wir das in allen Teilen richtig verstanden haben. Außerdem tut es uns wirklich leid, denn Mamy ist ein so angenehmer Mensch, dass wir gerne mit ihm zusammen geluncht hätten. Aber vielleicht kann man da ja Abhilfe schaffen, zumindest ab und zu.
Während wir nun unser Essen verzehren – es schmeckt, ist aber eher unterer Durchschnitt, verglichen mit den bisher kredenzten Speisen – fällt mir etwas ein – eine Frage, deren Antwort mich vom ersten Tag an interessiert hat. „Sag mal, Fitah, wir sind jetzt seit zweieinhalb Tagen in Madagaskar unterwegs und dabei schon auf diverse Treppen gestoßen. Nun sind ja die Madagassen im Durchschnitt nicht sooo groß gewachsen, aber eure Treppen sind fast alle tierisch steil und wie für Riesen gebaut. Da muss man manchmal echt klettern. Weißt du, warum das so ist?“ Fitah sieht mich nachdenklich an, grübelt eine Weile, weiß aber keine Antwort. Wahrscheinlich, weil es keine gibt. Schade, ich hätte es nämlich wirklich gerne gewusst.
Nachdem meine Neugierde leider nicht befriedigt wurde, plaudern wir über weniger Philosophisches weiter, beenden schließlich unser Mahl und bezahlen. Doch bevor wir das Restaurant verlassen, würde ich gerne noch die Toilette besuchen. Fitah erklärt mir den Weg und ich klettere anschließend erneut steile Stufen empor, verschwinde in einem engen Open-Air-Gang zwischen zwei Häusern, an dessen Ende eine windschiefe Tür offensteht und den Blick auf einen ebenfalls windschiefen Lokus freigibt. Hoho, das sieht ja abenteuerlich aus – und riecht auch so… Vorsichtig nähere ich mich dem Porzellan-Thron und sehe wenig Appetitliches. Offenbar funktioniert die Spülung nicht und, wie sich gleich darauf herausstellt, fließt auch das Wasser am Waschbecken nicht. Die Reisegruppen, die zeitgleich mit uns im Restaurant waren, hatten augenscheinlich eine rege Verdauungstätigkeit zu verzeichnen; Unmengen von Klopapier und diverse andere Hinterlassenschaften stapeln sich in der Schüssel. Ach neeee, wäh! Aber es hilft nichts, ich muss dringend. Kurzerhand entere ich die uneinladende Örtlichkeit, denke an was Schönes und lasse meinen nackten Hintern verächtlich über dem Klopapierhaufen schweben, während ich die Tür mit der Hand zuhalte, denn leider funktioniert auch das Schloss nicht. Mhm, so kommen wir dem in diversen Reiseführern und auch von Thorsten erwähnten „Gewöhnungsbedürftigkeiten“, im doppelten Sinne des Wortes, schon näher… Doch Gott sei Dank bin ich ja hartgesotten, was solche Dinge anbelangt. Wie hartgesotten ich allerdings wirklich zu sein scheine, bekomme ich vor Augen geführt, als auch Fitah gerne noch zur Toilette möchte, ich ihm vorsorglich von der Bescherung berichte, und er mich nach seiner Rückkehr – unverrichteter Dinge – völlig fassungslos fragt, ob ich da wirklich drin war. Der arme Kerl ist tatsächlich etwas blass um die Nase.
Flugs verlassen wir nun diesen wenig gastlichen Ort und klettern zu Mamy ins Auto, der schon auf uns wartet. Kaum haben wir uns akkomodiert und sind wieder auf der Straße, berichtet Fitah ihm in epischer Breite vom Zustand des Klos und meiner Todesverachtung vor derlei Zuständen. Ich verstehe zwar kein Wort, doch Fitahs Händegefuchtel ist eindeutig. Und auch Mamys Reaktion. Er lacht sich tot über Fitahs „Miezihaftigkeit“, schilt ihn aber gleichzeitig, dass er mir das zugemutet hat, ohne den Zustand der Toilette vorab gecheckt zu haben. „Na, so schlimm war’s auch nicht. Und Fitah konnte das ja nicht wissen.“ Zwei Köpfe schnellen nach hinten. „Du verstehst Malagasy?!“ „Nein, kein Wort, aber Gestik und Mimik sagen alles…“ Mit übertriebenen Gesten macht Mamy Fitah daraufhin klar: „Wir müssen in Zukunft vorsichtiger sein, was wir reden!“ „So ist es!“, entgegne ich augenzwinkernd und male mit beiden Händen ein großes Herz in die Luft. Fast sieht es so aus, als würde Mamy erröten. Ach, der olle Griesgram, der er nicht ist, er ist echt zum Knutschen!
In trauter Einigkeit tuckern wir so dahin, weiter Richtung Morondava. Wir überqueren den Tsiribihina, einen breiten, ruhig dahinfließenden Fluss, in dessen unzähligen flachen Rinnen Menschen fischen, sich baden oder Wäsche waschen und dringen weiter nach Westen vor. Es ist heiß, so heiß, dass wir ordentlich zu schwitzen beginnen – trotz des lauen Fahrtwinds. Nicht aber heiß genug, als dass Fitah nicht mal wieder schlafen könnte und Mamy uns über das, was wir sehen, an Fitahs statt aufklärt. Wir kommen nun in das Kernland der Sakalava, einer der 18 Ethnien Madagaskars. Dem geneigten Touristen sind die Sakalava durch ihre Grabstättenbekannt, die man überall entlang der Straße entdecken kann. Kleine Parzellen, umfriedet von teilweise bemalten Mauern, verziert von oft frivol anmutenden Schnitzereien, die bei Ausländern souvenirtechnisch hoch im Kurs stehen und deshalb in der Vergangenheit oft geraubt wurden. Und wohl leider immer noch werden, obwohl deren Ausfuhr strengstens verboten ist. Die Frauen der Sakalava tragen zudem ziemlich auffällige Frisuren. Sie flechten ihren Haarschopf in zwei seitliche Zöpfe und stecken diese in je einer Schnecke oberhalb ihrer Ohren hoch. Eine Frisur, die wirklich augenfällig ist und aussieht, als hätten die Damen Kopfhörer oder Ohrwärmer auf, die es nach oben verschoben hat. Und noch etwas fällt auf: wir befinden uns offenbar in einer Region der Entenzüchter. Enten, die nicht zur Erzeugung von Fettlebern gehalten werden, sondern Enten, die tagsüber auf einer Wiese zugange sein dürfen und erst abends in den Stall zurückkehren. In jedem Dorf sehen wir mindestens eine dieser Entenscharen, die von einer Frau oder einem Mädchen, stilvoll frisiert mit Schneckenzöpfchen, gen Dorf getrieben wird. Ein ungewohnter und sehr putziger Anblick, wie da zwanzig oder dreißig Enten eilig am Straßenrand entlangwatscheln, gehütet und gelenkt von einer Entenliesl mit Gretelfrisur. Heinz und ich genießen diese unerwartet märchenhaften Ausblicke, doch was uns schließlich so richtig in Begeisterung versetzt, ist die Tatsache, dass wir allmählich in die Wuchszone der Baobabs vordringen.
Willkommen im Land der Baobabs
Baobabs, diese markanten Gewächse, deren Silhouette so unverkennbar ist, die so alt werden, so dick, so hoch, dass man vor ihnen steht und unwillkürlich ins Nachdenken kommt, was sie wohl schon alles erlebt haben mögen. Ihre Stämme sind runzelig, gnubbelig, man sieht jede Verletzung, die ihnen jemals zugefügt wurde, sie sind unglaublich robust und widerstandsfähig, trotzdem aber auch so spezialisiert, dass gerade dem Nachwuchs jede Veränderung der Umgebungsbedingungen immens zusetzt. Gespannt halten wir Ausschau nach den Baumriesen, die im biologischen Sinne gar keine Bäume sind, und freuen uns riesig, als wir die ersten Exemplare erspähen. Hier, im Westen Madagaskars, wachsen übrigens drei verschiedene Spezies – Adansonia za, rubrostipa und grandidieri – die sich durch unterschiedliche Wuchsformen auszeichnen. Doch was in Pflanzenführern so einfach aussieht, stellt sich in der Praxis etwas komplizierter dar, und die einzelnen Spezies sind so einfach und eindeutig dann doch nicht zu unterscheiden. Zumal im Vorbeifahren und aus relativer Ferne. Doch das ist uns im Moment ziemlich egal – Hauptsache, wir können Baobabs sehen. Und wir sehen viele! Je näher wir Morondava kommen, desto mehr werden es. Jeder einzelne von ihnen hat einen ganz eigenen Charakter, jeder einzelne von ihnen ist wunderschön und Heinz und ich sind ganz im Glück.
Nach einer kurzweiligen Fahrt, vorbei an Reisfeldern und Baobabs, erreichen wir schließlich Morondava, eine quirlige Stadt direkt an der Küste. Hui, hier ist echt was los! Eine ganze Weile quälen wir uns durch ein Marktviertel, in dem ein Ladengeschäft am anderen klebt, davor haben mobile Händler ihre Waren aufgebaut und die Bevölkerung der halben Stadt scheint hier unterwegs zu sein. Fasziniert beobachten wir das muntere Treiben und bedauern sehr, dass wir kaum eine Chance haben, die farbenfrohen, malerischen Motive, die sich hier präsentieren, mit der Kamera festzuhalten – wir sind einfach zu nahe dran und trotz unseres zeitlupenartigen Fortkommens immer noch zu schnell. Das ist wirklich schade, doch vielleicht haben wir ja wann anders Gelegenheit, das bunte Lokal-Colorit einzufangen.
Als wir nun so durch das Gewimmel steuern, fällt mir ein, was mir stets in den ersten Tagen eines Urlaubs einfällt: ich brauche wieder einen Karton, um das im Auto umherrutschende Zeug wie Jacken, Landkarten, Sonnenbrillen und diverses Naschwerk zu sammeln und dingfest zu machen. Einen Karton, der unter dem Namen „Das Büro“ schon fast in die Annalen eingegangen ist. Hilfesuchend wende ich mich an Mamy und bitte ihn, für morgen im Hinterkopf zu behalten, einen Laden anzusteuern, in dem es Kartons geben könnte. Mamy nickt verständnisvoll und verspricht, es nicht zu vergessen.
Dann, das Gewimmel lichtet sich allmählich, stehen wir plötzlich vor unserem Hotel. Es ist ein recht großes Haus, sieht modern und gepflegt aus und heißt Maeva. Wir steigen aus, Mamy und Fitah checken uns ein und schon eilt ein muskelbepackter Mann herbei, der sich Heinz’ und meine Tasche greift und, ohne mit der Wimper zu zucken, in den ersten Stock eines Nebengebäudes hochträgt. Sappralott! Wir folgen ihm in ein riesiges, schummeriges Zimmer, das ein noch riesigeres Bett beherbergt und dessen Fenster direkt aufs Meer hinauszeigen. Nochmal sappralott! So eine noble, gemütliche Herberge hatten wir hier nicht erwartet. Vor lauter Begeisterung bekommen wir gar nicht mit, dass sich unser Gepäck-Herkules schon wieder aus dem Staub gemacht hat, ohne ein Trinkgeld erhalten zu haben. Na ja, das holen wir später nach, jetzt ist erst mal relaxen angesagt. Mamy und Fitah testen mal wieder unsere Sanitäranlagen nebst der Stromversorgung und lassen uns dann allein in unserem Luxus-Kabinett. Natürlich nicht, ohne unseren Wunschtermin fürs Abendessen erfragt zu haben. In zwei Stunden? Okay!Heinz und ich verabschieden uns von den beiden und werfen uns erst mal aufs Bett. Ach, ist das nett hier!
Langsam erholen wir uns von der langen Fahrt, beginnen, unser Gepäck nach den klimatischen Erfordernissen umzusortieren, machen uns anschließend frisch, schlumpern noch ein wenig herum und genießen den Sonnenuntergang vom Fenster aus. Mhm, und jetzt? Wir haben noch eine gute halbe Stunde zu unserer Verabredung zum Abendessen, beschließen aber, trotzdem schon mal in Restaurant runterzugehen und was zu trinken.
Eine unerwartete Begegnung und Fitah taut auf
Wir suchen uns ein Plätzchen auf der Terrasse, wo wir völlig alleine sind. Nein, halt, sind wir nicht. Auf dem schmalen Sandstreifen zwischen Terrasse und Zaun zum Strand steht eine Art Voliere und darin bewegt sich etwas. Vorsichtig gehen wir näher. Oh shit, was ist das denn?! In dem Freiluftgefängnis klettert gerade ein Brauner Lemur von einer Schlaf-Plattform unter dem Dach hervor und sieht uns mit großen Augen an. Ja, wer bist du denn? Eine Tafel, die neben der Voliere steht, gibt Auskunft: der Lemur heißt Fonzy, man hat ihn angeblich vor dem Schicksal, von Menschen verzehrt zu werden, verzehrt wie seine Eltern, gerettet und nun fristet er seit vier Jahren sein Dasein in diesem viel zu kleinen Käfig, angestarrt von Hotelgästen. Das Tier ist mangels Bewegung viel zu dick, um seine Brust und Taille ist eine eng anliegende Schnur geknüpft, um den Hals trägt es ein Flohhalsband. Als wir vor dem Käfig stehen, drückt sich die arme Kreatur gegen das Gitter und fiepst auffordernd. Hast du Hunger oder willst du gekrault werden? Zögernd steckt Heinz seine Finger durch das Gitter und versenkt sie im dichten Pelz des Lemuren. Das Äffchen windet sich vor Wonne und presst sich wohlig gegen Heinz’ grabbelnde Fingerkuppen. Ich stehe fassungslos daneben und könnte heulen, so sehr rühren mich die Lebensumstände und das Zuwendungsbedürfnis dieses liebenswerten Wesens. Wie kann man einem derart sozialen Tier nur so etwas antun – Rettung hin oder her. Selbst, wenn die Geschichte stimmt, so bin ich der Meinung, hätte Fonzy das bessere Los gezogen, wenn er das nicht hätte erleben müssen. Hoffnungslos verfettet, gegängelt, angebunden, eingesperrt und nach Zuwendung gierend. Zuwendung von Menschen, die, wie wir, ihre Finger durch das kleinmaschige Gitter stecken und ein bisschen Körperkontakt erzeugen. Es ist wirklich traurig!
Heinz und ich kraulen gerade noch an Fonzy rum, als unser Bier serviert wird und kurz darauf auch Fitah auftaucht. „Fitah? Wo ist Mamy?“ „Mamy isst irgendwo in der Stadt.“ „Ach, wieder das Ding mit dem Guide und dem Fahrer und den Kosten?“ „Ja.“ Nun gut, dann werden wir eben den Abend mit Fitah allein verbringen, wenngleich wir diesmal ganz fest mit Mamys Anwesenheit gerechnet hatten – unsere Verabredung zum Dinner hatte zumindest so geklungen. Schade!
Die Kellnerin bringt die Speisekarten – natürlich auch wieder eine Einheimischen-Version für Fitah – und wir versuchen, während wir auf die Speisen warten, ein Gespräch in Gang zu bringen. Familie – immer ein gutes Thema! Also fragen wir Fitah nach der seinigen und erhalten mehr oder weniger wortreiche Antworten. Der Bub wohnt noch zuhause, hat aber eine Freundin (das Mädl, das das Geld in Empfang genommen hatte), die er heiraten möchte und er hat einige Geschwister, unter anderem eine Schwester, die in Deutschland studiert. Was sie genau studiert und in welcher Stadt, weiß er allerdings nicht, nur, dass er ebenfalls nach Deutschland und dort eine Ausbildung zum Tourguide absolvieren möchte. Soso, aha?! Nun ja, die Pläne unseres jungen Guides sind offenbar noch etwas unausgegoren, denn wenn man eines in Deutschland sicher nicht machen kann, dann ist es eine Guideausbildung mit Schwerpunkt Madagaskar. Darüber jedoch scheint er sich noch keine Gedanken gemacht zu haben, was man ihm mit seinen 19 Lenzen auch nicht verdenken kann.
Über eines jedoch hat er umso gründlicher nachgedacht – er will unbedingt und auf jeden Fall nach Deutschland. Allerdings, so räumt er ein, sei das ja nicht ganz einfach. Wie wahr! Wir fragen Fitah, ob er denn von den aktuellen Flüchtlingsbewegungen gehört hätte und, wenn ja, was er darüber denkt. Nein, das hätte er noch nie vernommen. Wir erzählen ihm ein wenig von der Geschichte der vergangenen Jahre, von den vielen Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, von den Einheimischen, die die Geflohenen freundlich empfangen und nach Kräften unterstützen, aber auch von den Problemen, die dadurch entstehen und von den rechtsgerichteten, rassistischen Strömungen, die sich allerorten verstärken. Fitah blickt uns ein wenig ratlos an, beginnt aber zu begreifen, was wir da erzählen, als wir ihn fragen, ob es in Madagaskar vergleichbare Tendenzen gäbe, was die Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Ethnien beträfe. Ja, bestätigt er, die gibt es, und wie! 18 Ethnien sind in Madagaskar offiziell anerkannt, davon fünf größere Gruppen und dreizehn kleinere. Er, Fitah, gehöre zu den Merina, einer großen Volksgruppe, die im Hochland ansässig ist. Und die, das gibt er zu, hält sich für die fortschrittlichste, die gebildetste, die beste aller. Die Merina, so versichert er uns, würden die anderen Ethnien zwar akzeptieren, gleichzeitig aber auch auf sie herabblicken, denn die anderen seien ja, je nach Zugehörigkeit, nur einfache Fischer oder Reisbauern. Sie glaubten an alle möglichen Geister, die es bei den Merina gar nicht gibt und sie wären in der Regel nicht gebildet. Ganz ehrlich: uns ist durchaus bekannt, dass bei anderen Völkern das negative Denken und Sprechen über „Andersartige“ weit verbreitet und erstaunlich ausgeprägt ist, eine derartige Offenheit gegenüber uns Touristen jedoch haben wir selten erlebt.
Deshalb haken wir nochmal nach. „Fitah, in Deutschland gibt es 16 Bundesländer und wir kennen das: der Süden macht sich über den Norden lustig, der Westen über den Osten, der Norddeutsche hält die Bayern für ungebildete Seppls, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, der Ostfriese ist seit jeher Gegenstand zahlreicher Witze, der Sachse wird von der ganzen Nation wegen seines Dialekts veräppelt und der Hannoveraner hält sich für die Krone der deutschen Sprachelite, obwohl er häufig nicht mal den Genitiv beherrscht. Frotzeleien mit mehr oder weniger ernstem Hintergrund, aber in der Regel eher harmlos Ist das hier zwischen den Ethnien auch so, oder gestaltet sich das Ganze feindseliger?“. Mhm, solche Frozzeleien seien das in Madagaskar auch, bestätigt Fitah, betont aber gleichzeitig, dass er niemals eine Nicht-Merina heiraten würde, denn das wäre unter seinem Stand.
Hui, das sind deutliche Worte! Gerne würden Heinz und ich noch weiterbohren, verlassen aber, nachdem wir uns mit einem kurzen Blick verständigt haben, dieses heiße Pflaster, denn wir wollen Fitah nicht in Bedrängnis bringen. Seine bisherigen Aussagen waren auf jeden Fall schon aufschlussreich genug und wir können uns nun ein deutlicheres Bild machen. Ein Bild, das dem entspricht, was wir, wie gesagt, aus anderen Regionen dieser Welt bereits kennen. Also lavieren wir uns lieber smalltalkend weiter durch diesen Abend, indem wir andere, weit weniger brisante Themen anschneiden, auf die uns Fitah willig antwortet, sich aber niemals mit Fragen an uns wendet, obwohl wir ihm das mehrfach anbieten. Tja, auch da tun sich offenbar Kluften auf, die auf die Schnelle, wenn überhaupt, nicht zu überwinden sind. Wir Deutsche sind sehr direkt, neigen dazu, alles anzusprechen, mit Türen in Häuser zu fallen und in so manches Fettnäpfchen zu treten. Selbst wenn wir uns in unserer Mentalität einigermaßen einbremsen, kommen wir für andere Völker oft unfassbar dreist rüber. Wir sind uns sicher, dass Fitahs fragenloses Verhalten uns gegenüber kein Desinteresse ist, sondern einfach seiner Erziehung entspricht – Fremde löchert man nicht. Nun ja, ein wenig schüchtern scheint er überdies zu sein… Doch immerhin, so versichert er uns glaubhaft, hält er uns nicht für dreist oder unverschämt neugierig. In diesem Punkt waren wir uns nämlich nicht ganz sicher. Aber nein, Fitah freut sich über unsere Fragen und beantwortet sie bereitwillig. Und so schaffen wir es tatsächlich, diesen Abend locker plaudernd, ohne größere Schweigepausen, unterhaltsam zu gestalten und verabschieden uns zu vorgerückter Stunde von unserem jungen Guide, der offenbar alles andere als ein Partyhengst ist. Mit müden Augen – und das, obwohl er im Auto die meiste Zeit schlafend verbracht hatte – verlässt er uns schließlich gegen 22 Uhr. Heinz und ich genießen noch bei einer Runde wohligen Schweigens das Rauschen der Meeres und machen uns dann ebenfalls auf den Weg in unser luxuriöses Himmelbett.
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